wahre Wunder bewirkt. Allein der Gedanke daran half schon.
»Wir sollten trotzdem zusehen, dass wir schnell nach Hause kommen«, riss Joshua mich aus meinen Tagträumen.
»Das wird auch nicht viel bringen. Mein dicker Wintermantel liegt im Hotel in Palenque. Außerdem müssen wir Noah finden, das ist jetzt am wichtigsten.«
Joshua seufzte. »Ich weiß. Ich will nur nicht, dass du dir noch 'ne Lungenentzündung oder so was holst.« Er machte eine kurze Pause. »Wir bitten José, uns unsere Sachen zu schicken. Es wird zwar 'ne ganze Weile dauern, bis sie hier sind, aber wir werden so lang schon was für dich finden.«
Ich nickte und entdeckte Gabriel, der schnellen Schrittes auf uns zukam. »Und, was ist los?«, wollte ich wissen.
»Da ist alles ruhig. Um diese Uhrzeit haben die noch gar nicht auf.«
»Die ganze Sache ist ziemlich seltsam. Gibt's hier oben vielleicht noch was anderes, wo dein Vater sein könnte?«
»Nicht, dass ich wüsste. Mutter hat außerdem explizit von dieser Gaststätte gesprochen.«
»Ich ruf jetzt bei der Polizei an«, meinte Joshua und zog sein Handy aus der Tasche. Er lief im Schnee auf und ab, während er darauf wartete, dass jemand abnahm. »Guten Morgen, Joshua Lennert hier. Es geht um meinen Vater …«
»Gott, du hast ja ganz blaue Lippen«, flüsterte Gabriel. Er legte seine Arme um mich und zog mich ganz nah an sich. »Wir müssen nach Hause und dir eine Jacke besorgen.«
»Das hat Joshua auch schon gesagt, aber wir dürfen keine Zeit verlieren. Ich bin jetzt nicht wichtig.«
»Sag so was nicht, natürlich bist du wichtig.« Er sah mich einen Moment an. »Geht's dir wirklich gut? In der letzten Stunde ist ziemlich viel passiert.«
»Geht schon«, antwortete ich leise. Ich wollte jetzt nicht daran denken, was alles passiert war, denn nun brauchte ich meine ganze Kraft, um Noah zu finden. »Frierst du gar nicht?«, fragte ich Gabriel, um das Thema zu wechseln. Immerhin trug er nur noch das dünne T-Shirt.
»Ein bisschen, aber das macht nichts.«
Ich löste mich von ihm. »Du solltest deinen Pullover wieder anziehen, warte.«
Doch Gabriel zog mich zurück in seine Arme. »Kommt gar nicht in Frage, du behältst ihn an.«
Ich schmiegte meinen Kopf an seine Brust und schlang meine Arme um seine Taille. »Dann mach dir warme Gedanken. Stell dir zum Beispiel vor, wir würden am Strand liegen.«
»Glaub mir, das mach ich bereits. Aber an den Strand hatte ich da weniger gedacht«, hauchte er mir ins Ohr.
Ich bekam eine Gänsehaut am ganzen Körper, die nicht nur von der Kälte kam. Um ihn ansehen zu können, hob ich den Kopf ein wenig. Sein Gesicht war nur wenige Zentimeter von meinem entfernt. Ich spürte seinen warmen Atem, der kleine Wölkchen in der Luft bildete. Ein wohliger Schauer lief mir über den Rücken.
Wie leicht wäre es jetzt gewesen, Gabriel einfach zu küssen, und ich wollte es so sehr. Ich hätte mich nur ein wenig auf die Zehenspitzen stellen müssen, und schon hätten meine Lippen seine berührt …
Geständnisse
Gabriels Augen wanderten von meinen Augen zu meinem Mund. Ich verspürte ein solches Verlangen, ihn zu küssen, dass es fast wehtat. Aber es ging nicht. Nicht hier, nicht jetzt. Das konnte ich Joshua nicht antun.
Es kostete mich all meine Kraft, mich von ihm zu lösen. Keine Sekunde zu früh, denn in diesem Moment legte Joshua auf und drehte sich wieder zu uns um. Er betrachtete uns einen Moment skeptisch. Gabriel und ich standen jetzt ziemlich unverfänglich nebeneinander, aber ich war sicher, Joshua konnte unser beider Verlangen spüren. Das sah ich an seinem Blick. Ich fühlte mich schrecklich. Noah war verschwunden, wir hatten keine Ahnung, ob es ihm gut ging. Die Schatten fielen in unsere Welt ein, und ich dachte nur an mich. Tränen stiegen mir in die Augen, doch ich schluckte sie hinunter und ging auf Joshua zu. Vorsichtig legte ich ihm meine Hand auf den Arm.
»Was hat die Polizei gesagt? Können Sie uns helfen?«
Joshua wandte seinen Blick von Gabriel ab und sah nun mich an. »Sie haben das GPS von Vaters Handy geortet.«
»Warum sagst du das nicht gleich?«, meinte Gabriel und kam auf uns zu. »Wo ist es?«
Joshua drehte Gabriel sein Handy zu und zeigte ihm einen roten Punkt auf einer Karte. »Ganz in der Nähe der Thingstätte. Wir müssen vorsichtig sein. Wer weiß, ob die Schatten uns noch einmal gehen lassen.«
Bei dem Gedanken daran lief mir ein Schauer über den Rücken. Schnell folgte ich Gabriel und Joshua. »Was hat die Polizei denn noch gesagt?«
»Nicht viel. Sie wussten leider auch nicht, wer genau Vater angerufen hat, und von einem Vorfall in der Gaststätte ist ihnen auch nichts bekannt. Der Wachleiter wird der Sache aber nachgehen und sich dann wieder bei uns melden.«
»Na hoffentlich lässt er sich nicht zu viel Zeit«, murmelte Gabriel und blieb stehen. Nun sah er mich an. »Hörst du was?«
Ich blieb ebenfalls stehen, schloss die Augen und konzentrierte mich. Es war komisch, denn normalerweise musste ich mich konzentrieren, um die Geräusche auszublenden. »Nein, da ist nichts.«
Gabriel ging weiter. »Wenn wir Glück haben, sind die Schatten schon weg.«
»Ich würd das nicht als Glück bezeichnen, denn wenn sie nicht mehr hier oben sind, verteilen sie sich in der ganzen Stadt und beschatten Menschen«, meinte Joshua.
»Und was passiert dann?«, fragte ich, obwohl ich mir die Antwort schon denken konnte.
»Früher oder später wird sehr wahrscheinlich Chaos ausbrechen.«
»Wir müssen sie aufhalten«, sagte ich. Ich hatte heute erlebt, zu was die Schatten fähig waren. Sie durften nicht noch mehr unschuldige Menschen töten.
»Du hast die Schattenmengen gesehen«, erwiderte Gabriel. »Allein packen wir das nicht. Theoretisch bräuchten wir die Unterstützung von allen Schattenwächtern, die's gibt, und das ist unmöglich, denn die werden auch anderswo gebraucht.«
Ich dachte einen Moment darüber nach, was die Schatten alles anrichten konnten. Prügeleien, Raubüberfälle, Mord. Und wenn sie Politiker oder Staatschefs beschatteten, konnte es sogar zum Krieg kommen. Mir wurde mit einem Mal ganz schlecht. Würde uns etwa doch der Weltuntergang bevorstehen, wenn wir die Schatten nicht zurück in ihre eigene Welt schicken konnten?
»Ganz ruhig«, meinte Gabriel nun. Er musste meine Gedanken gelesen haben. »Ich weiß noch nicht wie, aber ich bin sicher, wir können die Schatten aufhalten.«
Wir näherten uns der Thingstätte und hatten nun die Mauer erreicht, die uns die Sicht auf die Freilichtanlage verbarg.
»Hier muss es irgendwo sein«, flüsterte Joshua mit einem Blick auf sein Handy.
Ich warf einen vorsichtigen Blick durch die Öffnungen in der Mauer, während Gabriel und Joshua nach Noahs Handy suchten. Noch immer waren einige Schatten auf dem Platz, doch es waren lange nicht mehr so viele wie noch kurz zuvor. Ob das Portal noch offen war?
»Ich hab's«, hörte ich Gabriels leise Stimme hinter mir.
Ich drehte mich zu ihm um. Triumphierend hielt er das Handy in der Hand. Wir entfernten uns wieder ein Stückchen von der Thingstätte, dann betrachtete er das Telefon etwas genauer.
»Laut Display telefoniert er immer noch mit mir.« Gabriel sah uns an, in seinem Blick lag Angst. »Wahrscheinlich wurde er überrascht und hatte keine Zeit mehr, zu reagieren. Aber was ist passiert?«
»Im Schnee waren nur Vaters Spuren, also müssen ihn definitiv Schatten angegriffen haben.«
Die Schatten hinterließen keine Spuren im Schnee? Ich sah mich kurz um und entdeckte tatsächlich nur unsere und noch eine weitere Spur, die sich an der Mauer zur