Sandra Grauer

Schattenspiel - Der zweite Teil der Schattenwächter-Saga


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beiden die Sprache der Schatten nicht verstehen konnten. Und ich selbst hatte wahrscheinlich zu leise gesprochen oder zu weit weg gestanden. Vorerst antwortete ich jedoch nicht, denn es gab Wichtigeres.

      »Kommt schnell. Und haltet das Feuer nach unten.«

      Vorsichtig lief ich weiter, gefolgt von den beiden Jungs. Die Schatten rückten wie schon zuvor zur Seite, sodass sich ein Durchgang bildete. Eng aneinandergerückt nahmen Gabriel, Joshua und ich die wenigen Stufen, die vom Platz hinunterführten, und gingen langsam und angespannt durch die Schattenmenge. Wir erwarteten jeden Moment einen erneuten Angriff. Jeder von uns war bereit, sofort zuzuschlagen. Aber es geschah nichts. Regungslos standen die Schattensoldaten links und rechts von uns. Schließlich hatten wir die letzten Schatten hinter uns gelassen.

      »Lauft«, rief ich, und wir rannten so schnell wir konnten in den dunklen Wald hinein.

      »Du hast was?«, schrie Gabriel. »Das darf doch nicht wahr sein. Ich glaub das einfach nicht.« Wütend stapfte er im Schnee auf und ab und hinterließ dabei eine Spur wie ein wild gewordenes Tier.

      »Was hätte ich denn machen sollen?«

      Joshua seufzte. »Es waren einfach zu viele Schatten. Wir wären nicht lebend da raus gekommen.« Nun sah er mich an. »Trotzdem, das war echt leichtsinnig von dir. Du kannst doch nicht einfach dein Leben aufs Spiel setzen, nur weil du glaubst, dass die anderen bluffen. Das hätte auch ganz anders ausgehen können.«

      Ich verdrehte die Augen. Die beiden brauchten nicht zu wissen, dass ich selbst große Angst gehabt hatte. »Aber ich wusste doch, dass die nicht bluffen. Aus irgendeinem Grund will der Schatten mich lebend.«

      Gabriel blieb vor mir stehen und griff nach meiner Hand, während er mich ansah. In seinem Blick lagen Angst, Wut und Erleichterung. »Hast du eigentlich eine Ahnung, wie kritisch die Situation war? Mein Gott, das war ein Alpha-Schatten. Die diskutieren in der Regel nicht, die machen kurzen Prozess. Nur wenige Schattenwächter haben eine Begegnung mit einem Alpha-Schatten überlebt, geschweige denn ihn getötet. Bis heute hatte ich noch nie einen gesehen, und ich kann nicht sagen, dass ich darüber unglücklich war.«

      »Es ist doch alles gut gegangen«, sagte ich und bemühte mich, ruhig zu sprechen, obwohl ich vor Angst immer noch zitterte.

      Gabriel seufzte leise. »Trotzdem, tu so was nie wieder, hörst du? Es ist keine Alternative, dass du dich in Gefahr bringst.«

      »Es geht mir gut, Gabriel«, erwiderte ich sanft.

      »Ja, ich weiß.« Ohne Rücksicht auf seinen Bruder zog er mich in seine Arme.

      Ich schloss für einen kurzen Moment die Augen und hörte ihn erleichtert ausatmen. Wie sehr hatte ich mich nach seiner Nähe gesehnt. Außerdem spürte ich die Kälte nun doch. Die Sonne war immer noch nicht aufgegangen, und ich hatte keine Jacke dabei. Ich fror, aber Gabriels Körper war warm. Ob vor Wut, Anstrengung oder Aufregung wusste ich nicht.

      »Wir müssen herausfinden, was die Schatten von Emmalyn wollen«, sagte Joshua mit kühler Stimme.

      Gabriel ließ mich wieder los. Bevor er sich jedoch von mir abwandte, warf er mir noch einen kurzen Blick zu, in dem so viel Sehnsucht lag, dass ich für einen Moment die Kälte vergaß. Ich seufzte unwillkürlich. Nur zu gerne hätte ich ihm endlich gesagt, dass ich mit ihm zusammen sein wollte, und nach diesen Erlebnissen wollte ich es umso mehr. Aber irgendwie schien nie der richtige Zeitpunkt zu sein.

      »Es ist offensichtlich, dass sie einen Plan verfolgen, aber wir müssen vorher Vater finden«, fuhr Joshua unbeirrt fort.

      Vielleicht ignorierte er uns aber auch nur, um den Schmerz nicht spüren zu müssen. Er liebte mich, das wusste ich. Ich hatte ihn auch sehr gern, aber meine Gefühle für Gabriel waren nun mal stärker. Das wusste Joshua noch nicht. Trotzdem war ich sicher, dass es schmerzhaft für ihn war, mich in Gabriels Armen zu sehen. Wie sollte es nur für ihn werden, wenn ich wirklich mit Gabriel zusammen sein würde? Daran wollte ich lieber nicht denken.

      Gabriel zog sein Handy aus der Hosentasche. »Lass uns erst mal zu Hause anrufen. Vielleicht kann Mutter uns ja weiterhelfen.«

      Joshua sah auf seine Uhr. »Es ist noch nicht mal halb acht. Wenn wir sie jetzt wecken und nach Vater fragen, macht sie sich bloß einen Haufen Sorgen.«

      »Ich mach das schon. Außerdem ist Freitag, Lilly hat heut noch mal Schule, bevor's in die Weihnachtsferien geht.« Gabriel drückte ein paar Tasten und hielt sich das Handy ans Ohr. »Hey Lilly, wie geht's dir?«, sagte er schließlich. »Uns geht's auch gut. Ja, es ist toll hier. Ach weißt du, um diese Uhrzeit ist es in Mexiko auch nicht viel wärmer als in Deutschland.«

      Das sah ich aber anders. In Mexiko war es selbst nachts deutlich wärmer gewesen als es hier in Heidelberg war. Ich schlang meine Arme um mich und spürte, wie Joshua mich mit einem Mal in die seinen zog.

      »Ich würd dir ja meinen Pulli geben, aber ich trag leider nichts drunter«, sagte er leise.

      Ich sah an ihm hinunter. Er hatte ein langärmeliges Oberteil an, das eine Mischung aus T-Shirt und Pullover war. »Ist schon gut«, erwiderte ich und fing einen genervten Blick von Gabriel auf.

      Früher hatte es mich nicht gestört, wenn Joshua meine Nähe gesucht hatte, aber das war jetzt anders. Ihn wegzuschubsen war allerdings auch keine Alternative, dann wäre ich mir schäbig vorgekommen. Ich wollte ihm behutsam beibringen, dass ich mich in seinen Bruder verliebt hatte.

      »Kann ich dir das später erzählen, Lilly?«, fragte Gabriel nun. »Ich müsste mal dringend mit Vater sprechen. Okay, dann gib mir Mutter. Ja, danke.« Es entstand eine kurze Pause, schließlich schien seine Mutter endlich am Apparat zu sein. »Hallo. Ja, es geht uns gut. Sag mal, wo ist Vater denn? Echt? Du weißt nicht zufällig, wer das war? Und dann? Ach was, du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Ich bin sicher, es geht ihm gut. Ja, mach ich. Bis später dann.« Er legte auf und steckte das Handy zurück in seine Tasche. Dann zog er seinen Pullover über den Kopf, kam auf mich zu und reichte ihn mir.

      »Das geht nicht, du holst dir bloß 'ne Erkältung.« Ich war froh, endlich einen Grund zu haben, mich aus Joshuas Armen lösen zu können und sah Gabriel an. Jetzt trug er nur noch ein enges, schwarzes T-Shirt und dunkelblaue Jeans. Selten hatte er besser ausgesehen als in diesem Moment. Immer noch hielt er mir seinen Pullover entgegen.

      »Nun zieh ihn schon an, ich frier nicht so schnell«, sagte er und drückte mir den Pullover in die Hand.

      Ich war sicher, dass Gabriel nur vermeiden wollte, mich noch einmal in Joshuas Armen zu sehen, und er würde nicht locker lassen. Also gab ich mich geschlagen und zog den Pullover über, ohne auf Joshuas Blick zu achten. Sofort umfing mich Gabriels charakteristischer Geruch, eine Mischung aus Zitrone, schwarzem Pfeffer und seinem unwiderstehlichem Eigenduft.

      »Also, Vater hat heut Morgen ganz früh einen Anruf bekommen«, berichtete Gabriel nun. »Von der Heidelberger Polizei, aber Mutter wusste leider nicht, wer genau angerufen hat. In der Gaststätte hier oben nahe der Thingstätte kam's wohl zu Ausschreitungen, und Vater sollte nach dem Rechten sehen. Mehr wusste sie auch nicht.«

      »Dann sollten wir dort mit unserer Suche beginnen«, meinte Joshua und ging voran.

      »Hier gibt's 'ne Gaststätte? Wo soll die denn sein?«, fragte ich.

      »Nicht weit von hier«, antwortete Gabriel und schenkte mir ein kleines Lächeln, bevor wir Joshua folgten.

      Es dauerte nicht lange, bis wir das große weiße Gebäude erreichten. Ich war erleichtert. Der viele Schnee machte uns den Weg nicht leichter, und mir war immer noch kalt. Hoffentlich würde die Sonne bald aufgehen.

      Etwas abseits blieben wir stehen. Gabriel wollte nicht, dass wir auffielen, also schlich er sich alleine an eines der Fenster, während Joshua und ich in sicherer Entfernung auf ihn warteten.

      »Geht's dir gut?«, fragte Joshua mich, nachdem er mich einen Moment gemustert hatte. »Du hast ganz blaue Lippen.«

      »Es geht schon«, log ich. In meinem ganzen Leben hatte ich noch nie so gefroren, aber das wollte ich nicht zugeben. Dann hätte mich