Paul Barsch

Von Einem, der auszog.


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mir den einfältigen Gedanken aus dem Kopfe schlage. Sie könnte, sprach sie, die Sünde, einen so dummen Backpilz in die Fremde gehen zu lassen, vor Gott und den Menschen nicht verantworten. Ich sei noch ein Kind. Wenn ich gesund und kräftig wäre, würde sie vielleicht einwilligen. So aber müsse sie befürchten, dass ich unterwegs liegen bleibe, dass ich ins Spritzenhaus oder in einen leeren Schweinestall gesperrt werde und darin umkomme, wie ein Stromer. Sie sitze dann zu Hause, flenne sich die Augen blutig und könne mir nicht helfen. Solche Fälle seien schon oft vorgekommen… Ihre Augen wurden feucht. Sie weinte still vor sich hin. Da ward auch mir weich ums Herz. Ich umarmte die Mutter und streichelte ihr die Wangen.

      „Mutter, Ihr sollt Freude haben an mir! Ich will mich zusammennehmen – und passt auf, es wird mir ganz gut gehn!“

      Ihre Tränen flossen reichlicher, und auch ich weinte. Lange Zeit sprachen wir kein Wort. Die Mutter kämpfte, das empfand ich, einen schweren Kampf mit sich. Zuweilen blickte sie zum Bilde der schmerzhaften Mutter Gottes hin. Auch ich betete im Stillen zur Mutter Gottes und flehte sie inständig an, dass sie das Herz meiner Mutter geneigt machen möge meinem unabänderlichen Vorsatz. Ganz still war es im Stübel, und mir kam es vor, als bewege die Jungfrau mit dem dornenbekränzten blutigen Herzen ihre Hände und ihre Augen, um mir liebreich anzuzeigen, dass sie mein Gebet erhört habe. So fest auch und sicher mein aufgeklärter Geist behauptete, dass das Bild an der Wand nicht fähig sei, Hände und Augen zu bewegen, so fest und sicher war meine Überzeugung, dass die heilige Maria auf meiner Seite stehe und mir ihre Hilfe soeben durch ein Zeichen kundgetan habe. Die beiden Überzeugungen widersprachen zwar einander, vertrugen sich jedoch friedlich.

      Dem Gesicht der Mutter sah ich an, dass ich wandern durfte. Sie hatte sich mit der Jungfrau Maria verständigt. Meine Erwartung, dass sie mir ein Wort der Einwilligung sagen werde, erfüllte sich zwar nicht; doch ich entnahm ihre Zustimmung aus der Äußerung, dass sie bis zum zweinächsten Tage nicht alle diese Sachen ordnen könne, die zu einer großen Reise nötig seien. Meine Kleider müssten geflickt werden, die Stiefel zum Schuhmacher kommen; anstatt der Mütze müsse ich, wenn ich durchaus geselle sein wolle, einen Hut haben, und ohne einen guten Sonntagsanzug könne ich doch nicht unter fremde Leute gehen. Alle diese Bedenken waren leicht zu bekämpfen, da ja die Mutter gewillt war, mich ziehen zu lassen. Zum Wandern, sprach ich, sei mein Anzug gut genug; zum Ausbessern der Stiefel habe der Schuhmacher noch genügend Zeit; Hüte seien überall zu haben und Anzüge ebenfalls.

      So waren wir also einig. Die Mutter opferte mir noch einen ganzen Tag, obwohl sie von mehreren Bauern dringend begehrt wurde. Sie flickte meine Kleider und bereitete mir ein Bündel, wie es Handwerksburschen zu tragen pflegten. In eine blaue Arbeitsschürze wickelte sie drei oder vier Hemden und einen alten Arbeitsanzug. Die Bürste und ein paar Holzpantoffeln wurden außerhalb des Bündels festgeschnallt, gewissermaßen als Wahrzeichen. Die Bürste war, wie die Mutter sagte, ein Zeichen für die Sauberkeit und den Ordnungssinn ihres Trägers; die Pantoffeln sollten verhütten, dass das Bündel als ein Bettelsack angesehen werde. Zwei Leidgürtel meines verstorbenen Vaters leisteten bei der Herstellung des Bündels gute Dienste.

      Die Mutter bedauerte, dass sie nun nicht mehr Zeit fände, mir eine Unterhose zu nähen. Ich hatte bis dahin nie eine Unterhose getragen, auch im strengsten Winter nicht. Sie sagte, zum Schutz der Beine genüge zwar eine einzige Hose; ein Junge dürfte sich nicht verweichlichen, er müsse sich an Kälte gewöhnen. Aber als Gesell sei ich verpflichtet, ein wenig auf Figur zu halten, sonst würde ich von den Mädeln ausgelacht und bekäme keine Liebste. Die Oberhose dürfe nicht zu sehr an den Beinen herum schlottern; deshalb sei eine Unterhose nötig für mich. Sie schenkte mir mehrere große bunte Taschentücher und ermahnte mich dringend, sie fleißig und in gehöriger Weise zu benutzen. Als Lehrjunge hätte ich keine gebraucht; da hätten die Finger die Geschäfte des Taschentuches besorgt; als Gesell müsse ich mir gute Manieren angewöhnen.

      Der Vormund, dem ich einen Besuch abstattete, freute sich über das schöne Gesellenzeugnis. Er gab mir die Erlaubnis zum Wandern und stellte nur die Bedingung, dass ich kein Lump werde und nicht etwa auf dem Schub nach Hause komme. Wenn ich mich nicht ordentlich betrage und ihm Ärger zufüge, lasse er mich durch die Polizei nach Hause bringen, und ich bekäme dann ganz verdammte Hiebe von ihm. – Wie ein gedemütigter Sünder verließ ich sein Haus. Ich war Gesell und somit ein freier Mensch; er aber drohte mir mit Hieben. Er tat es, obgleich ich ihm während der ganzen Lehrzeit kein Ärgernis bereitet hatte. Statt mit einem Glückwunsch war ich mit einer rohen Drohung entlassen worden. Die Versicherung der Mutter, dass er im Grunde des Herzens ein guter Mann sei, vermochte nicht aufzukommen gegen die Bitterkeit und Beklommenheit, die seine Abschiedsworte in mich gelegt hatten…

      Der Aufbruch.

      Der Tag des Scheidens war gekommen. Gegen fünf Uhr morgens weckte mich die Mutter. Sie war trauriger als am Abend vorher. Vor sechs Uhr musste sie in die Arbeit gehen. Zwei Tage schon hatte sie versäumt; einen dritten durfte sie nicht versäumen. Mir zu Ehren hatte sie Kaffee gekocht. Sonst kochte sie des Morgens nur Wassersuppe. Nach dem Frühstück zählte sie mir zwei Mark und fünfzig Pfennige auf den Tisch. Das sei, sagte sie, ihr ganzes Besitztum. Sie habe noch viel Geld von den Bauersleuten zu bekommen; aber die Zeiten seien schlecht, und sie könne die Leute nicht mahnen. Wenn mir’s schlecht ergehen sollte, dürfte ich getrost schreiben; sie wird mir schon helfen. Ich sollt nie vergessen, dass ich eine liebe Mutter habe, die ihr Kind nicht im Stich lasse. Gute Lehren wolle sie mir nicht auf den Weg geben; ich müsse von jetzt ab selber wissen, was gut und was schlecht sei. Ich solle nur immer daran denken, dass mein Vater ein sehr geachtete Mann gewesen, und dass auch sie, die Mutter, von allen Menschen geehrt werde. Als Sohn sei ich verpflichtet, ebenfalls ehrenvoll zu leben. Auch den lieben Gott solle ich nicht vergessen, und wenn ich etwa jeden Sonntag einmal in die Kirche ginge, würde ich keinen Schaden davon haben. Sie küsste mich, trocknete die nassen Wangen, nahm mich bei der Hand und führte mich in den Garten. Dort legte sie ihre Rechte auf meinen Kopf und sprach mit fester Stimme:

      „Unter Gottes Himmel segne ich mein Kind im Namen des Vaters, das Sohnes und des Heiligen Geistes und empfehle es dem Schutze der heiligen Jungfrau Maria! Geh mit dem lieben Gott!“

      Noch eine rasche Umarmung, noch ein lange Kuss – und sie ging schnell fort und sah sich nicht mehr um. Jetzt erst ergriff mich das schneidende Weh des Abschieds, und die Tränen flossen mir über das Gesicht. Meine Natur sträubte sich kräftig gegen alles Rührfällige. Während die Mutter ihre Segensworte gesprochen hatte, war mir recht unheilig zumute gewesen; ich hatte nichts weiter empfunden, als das Verlangen, dass sie rasch fertig sein und mich loslassen möge; solches Getue – wie bei mir zu Hause die Leute sagen – war mir peinlich. Erst als ich allein war, beschlich mich eine Ahnung von der Süßigkeit und Heiligkeit eines solchen Muttersegens. Mein Herz begann zu glühen in reiner Kinderliebe, und jetzt verstand ich auf einmal wieder das ganze Wesen der Mutter. Mir wurde klar, dass sie sicher das Vertauschte Kind gelesen, verstanden und sich herzlich darüber gefreut hätte, wenn ich nicht aus beleidigter Eitelkeit und aus Starrsinn so unklug gewesen wäre, ihr den Schlüssel zum Verständnis vorzuenthalten. Sie wusste ja nichts von Schiller und seinen Räubern, von seinem Leben und Streben und seiner Weltberühmtheit, nichts vom Theater und von Theaterstücken! Ich hatte ja das meiste davon auch erst kurz vorher erfahren! Wenn ich ihr erzählt hätte, wie schwer es sei, ein großartiges Stück zu schreiben, welche Freude das Dichten bereite und wie man dabei berühmt werden könne – sie würde mich schon verstanden haben. Ich aber war dem Hasse gegen sie zugänglich gewesen, weil sie das Heft nicht sogleich gelesen hatte; ich hatte mir in meiner Unvernunft den Tod gewünscht.

      Das vertauschte Kind holte ich jetzt vom Boden herab, schnallte das Bündel auf und legte die zerrissenen Blätter sorgfältig zwischen die Hemden. Auf der Wanderschaft sollte das Stück vollendet werden. Gegen sieben Uhr machte ich mich auf den Weg. Ich stieg über den Gartenzaun, schlug mich ins Feld und lief auf einem Ackerraine weiter, weil ich keinem Menschen begegnen wollte. Des Bündels wegen schämte ich mich vor den Dorfleuten. Ein Stück hinter dem Orte ging ich auf den Fußweg.

      Die Morgensonne leuchtete so kräftig, als wollte der Frühling schon kommen, und der Schnee begann zu schmelzen. Um volle zwei Stunden kam ich zu zeitig in der Stadt an. Ich packte die Brotschnitten aus, die