Erneutes Stöhnen quälte sich durch das einsame Haus. Dieses Mal nur viel lauter, als die Male zuvor.
Eine unsichtbare Hand strich über eine der Buchseiten. Mit dem Finger fuhr sie liebevoll den Namen nach, der in schwarzer Tinte, dort geschrieben stand. „Mary“, raunte es sehnsuchtsvoll, und der Name färbte sich um, in Blutrot. Die wenigen Buchstaben leuchteten auf, als pulsierte ein schlagendes Herz in ihnen.
„Mary … Bald …“, hallte es durch das Zimmer. Gequält hörte es sich an, als verzehrte sich die Stimme, nach dem Namen der Frau, der in dem Buche geschrieben stand.
Die Gardine wehte, wie aufgeregt hin und her, und verfing sich am Fensterhaken. Unsichtbare Finger machten sie frei, und erneut wehte sie im klirrendkalten Dezemberwind hin und her.
„Mary, Christmas Eve …, so nahe ist es … Oh, Mary …“
Das Raunen ging über in Wehklagen, die Stimme verlor sich in schmerzlicher Sehnsucht. „Mary …, Christmas Eve …“
Dieses Mal erzitterte die Decke; und auf dem Dachboden rumorte es plötzlich. Der Unsichtbare hob den Kopf und lauschte. „Hörst du es, Mary? Sie fühlen es auch. Der Dachboden, er beginnt zu leben. Sie alle warten auf deine Rückkehr. Endlich, nach so vielen Jahren, wird es bald soweit sein.“
Das Polster des Sessels, nahe dem Fenster, drückte sich herunter. Jemand hatte sich in diesen hineingesetzt. Doch es war niemand zu sehen; nur leises Atmen kam aus der Richtung des Sessels.
Das Tischchen neben dem Sessel bewegte sich. Die Falten der Spitzendecke wurden glatt gestrichen. Erneut gab das Polster des Sessels nach. Sein unsichtbarer Gast hatte sie wieder daraus erhoben.
Kurz darauf wurde die kleine Tür, die unter dem Fenster in einem Schrankvorbau eingelassen war, beiseitegeschoben. Ein Aschenbecher schwebte durch die Luft, das Schranktürchen schloss sich wieder. Gleich danach entzündete sich ein Streichholz, das herrenlos in der Luft herumhing. Es entzündete den Tabak einer unsichtbaren Pfeife. Herber Pfeifenrauch durchflutete das Zimmer.
Das Buch lag, eingenebelt vom Rauch der Pfeife, da. Die Seiten zitterten, als wollten sie dem Rauch antworten. Als fieberten sie dem Pfeifengeruch entgegen, oder aber, als wollten auch sie, zu leben beginnen.
Auf dem Dachboden erklangen leis’ klingende Glöckchen. Weihnachtsglöckchen, die vor so vielen Jahren an Heiligabend, einen wunderschön großen, nach Tannennadel duftenden Weihnachtsbaum, geschmückt hatten.
Die winzige Dachluke schwang auf, und auch an diesem Ort, wehte die kalte Winterluft herein. Sie durchflutete den Raum und verdrängte somit den staubigen Geruch einer langen, einsamen Zeit, während die Glöckchen immer aufgeregter hin- und herschwangen. Ihr zaghaftes Läuten, derart leise war es, dass Laura es sicherlich nicht gehört hätte, wäre sie zuhause gewesen. Traurig ließen sie ihr Geläut‘ erklingen. Herzzerreißend und melancholisch hörte es sich an. Dennoch lag Hoffnung in diesem leisen Klang.
Doch nicht nur auf dem Dachboden und in Lauras Zimmer machte sich unsichtbares Leben zu schaffen.
Auch der Keller war davon nicht ausgespart.
Die dunklen Schatten der Nacht krochen am Kellerboden entlang. Leise vor sich hin jammernd.
Dennoch, hätte Laura es hören können, sie hätte es für vom Heizkessel kommende Geräusche, gehalten.
Die Schatten hoben sich mehr und mehr vom rußgeschwärzten Kellerboden ab. Erhoben und sammelten sich. Viele Schatten, die sich derart schnell bewegten, dass sie nicht zu zählen gewesen wären. Für einen stillen Beobachter wäre nicht auszumachen gewesen, wer oder was die Schatten waren noch, in welcher Anzahl sie sich im Keller aufhielten.
Sie sammelten sich, zogen gemeinsam zur Treppe, und schlichen sie hoch. Vor der Kellertür machten sie Halt. Veränderten ihre Form. Wurden zu surrenden Fliegen. Fliegen; ein klein wenig größer, als es die herkömmliche Stubenfliege war. Langsam krochen sie unter der Türritze hervor, hinein ins Flurinnere, während ihr Surren lauter und lauter wurde. Gemeinsam durchschwebten sie die Räume des Erdgeschosses.
Gleichzeitig stoben im gesamten Haus die Fenster nach oben. In wenigen Minuten war das Haus von Eiseskälte durchzogen.
Von irgendwoher im Haus, rief eine aufgeregte Stimme laut „Nein! Nicht, das darf nicht sein!“
Mit Verklingen des Neins, zogen sich die Fliegen laut surrend wieder in den Keller zurück, verflossen erneut schattenartig mit dem Kellerboden, während sich im Haus wieder alle Fenster schlossen, und die Stimme schwieg.
Selbst der Klang der Weihnachtsglöckchen verstummte, und der Pfeifenrauch verschwand auf die gleiche geheimnisvolle Weise, wie er noch kurz zuvor Lauras Zimmer urplötzlich durchflutet hatte.
Einige Stunden später, als Laura wieder zurückkam, bemerkte sie nichts von dem Spuk, dem Treiben, das sich während ihrer Abwesenheit zugetragen hatte.
Auch Vivaldi spürte nichts von den Geistern und Schatten, die das Haus bewohnten. Langsam trottete er zu dem Napf, den Laura ihm hingestellt und mit Futter befüllt hatte, und begann zu fressen, während Laura sich Wasser für Kaffee aufsetzte und eine Pfanne holte, um sich ein Omelett zu backen. Die tiefgekühlten Spargelstangen, die sie dazu eingekauft hatte, legte sie auf die Anrichte beim Herd. Anschließend machte sie sich auf die Suche nach einem Topf, in welchem sie die Spargel, zusammen mit einer fertig zubereiteten Soße, warm machen konnte.
10 Christmas Eve
„Es muss Mitte der Vierziger Jahre gewesen sein. Zu Weihnachten. Christmas Eve.“ Sam sah zu Emma, und auf seine leere Kaffeetasse.
Emma verstand, nickte, stand auf und schenkte Sam nochmals Kaffee nach.
„Das Haus, es war im, wenn die Erzählungen stimmen, im gleichen Jahr erbaut worden. Es sollte ein Haus der Liebe und des Glücks werden. So war es geplant, damals …“ Sam goss sich Milch in den Kaffee, Zucker dazu und rührte nachdenklich um. „Ja, ein Haus der Liebe sollte es sein. Und dann …“ Er schüttelte den Kopf, „dann ist alles ganz anders gekommen.“ Er betrachtete Laura sorgenvoll. Sah, dass sie fröstelte und ihre Schultern zusammenzog. „Kevin Stephens, er hatte das Haus erbaut. Sogar mit seinen eigenen Händen, wie sich erzählt wird.“ Sam blickte zu Emma, die ebenfalls mit zusammengezogenen Schultern dasaß. „Kevin, er war von zuhause her sehr betucht, um es einmal so auszudrücken. Er zählte zum Geldadel. Seinen Eltern gehörte ein Großteil des Landes, und dennoch war er sich nie zu schade, Hand anzulegen, wenn es darum ging, dass tatkräftige Hilfe gebraucht wurde. Nun ja, wie dem auch sei. Es wurde erzählt, dass er auch in die Schule eines Zimmermanns gegangen sein soll, so dass er, zusammen mit einem Architekten, der ein Freund von ihm war, und ein paar Männern aus dem Dorf, das Haus erbaut hatte.“ Wieder sah er zu Laura. „Gebaut für sich und seine Liebe. Viele Kinder wollten sie haben. Zu Silvester planten die beiden, zu heiraten. Der damalige Pfarrer, er soll ihnen sogar schon sein Okay dazugegeben haben. Wie gesagt, alles Gerüchte. Es sind alles nur Gerüchte, Laura, die ich Ihnen erzählen kann.“
„Das macht nichts, Sam. Erzählen Sie bitte weiter.“ Laura nahm einen Schluck aus ihrer Tasse.
„Mary, sie war Kevins große Liebe. Die Leute erzählten, dass er ihr die Sterne vom Himmel geholt hätte, wäre es in seinen Möglichkeiten gestanden. Aber ich schweife ab. Wie gesagt, zu Silvester wollten Kevin und Mary heiraten. Doch daraus sollte nichts werden.“ Er schüttelte gedankenversunken den Kopf. „Tot. Sie waren an dem Silvester, das ihr schönstes in ihrem Leben werden sollte, bereits tot. Beide.“
„Oh mein Gott“, flüsterte Laura ergriffen.
„Sie soll Schauspielerin gewesen sein. So wird sich erzählt“, erklärte Emma und stand auf, um ein paar belegte Brote herzurichten.
Sam nickte. „Ja, Schauspielerin. Wäre sie es nicht gewesen, wer weiß, dann wäre die Geschichte vielleicht ganz anders ausgegangen.“
„Aber, warum?“ Laura traute sich fast nicht, diese Frage