T. C. Garver

Im Schatten des Unwissens


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Letzte, was Kris hörte bevor sie ohnmächtig wurde, war das Geräusch einer Explosion. Als sie im Krankenhaus erwachte, standen zwei uniformierte Polizisten an ihrem Krankenhausbett. Der eine berichtete ihr, dass ihre Eltern den Unfall leider nicht überlebt hätten und schilderte ihr den Vorgang der Ereignisse. Sie konnte ihm nicht zuhören, denn sie wollte das Geschehene nicht noch einmal durchleben. Als der Polizist sie fragte, wie sie es geschafft hatte aus dem brennenden Auto zu gelangen, antwortete sie, dass ein Mann sie aus dem Wagen gezogen hätte. Der Polizist musterte sie skeptisch. „Es war niemand da, als unsere Leute eintrafen. Sie lagen allein und bewusstlos auf dem Asphalt.“

       Komisch, ansonsten standen die Retter immer Schlange um sich ein Lob einzufangen. Schade, sie hätte sich gern bei ihm bedankt. Sobald die Polizisten das Zimmer verlassen hatten, blieb Kris reglos im Bett liegen und verstand nicht wieso, sie trotz der schlimmen Ereignisse, keine Tränen vergießen konnte. Ein Klopfen ertönte. Mona und Lisa spähten hinein. Erst als Lisa und Mona sich zu ihr aufs Bett setzten und ihr die Hand drückten, verfiel sie in ein hysterisches Schluchzen.

       Ein Wunder, meinten die Ärzte, diesen Unfall überlebt zu haben - und das nur mit einigen Prellungen und blauen Flecken. Am folgenden Tag wurde sie bereits entlassen.

      Mit dem Ärmel wischte sie sich nun die Tränen aus dem Gesicht, öffnete die Augen und atmete tief ein und aus.

      Sie riss sich zusammen und blickte auf ihre Armbanduhr. Viertel vor Acht, zeigte der Zeiger. Sie würde sich wohl wieder einmal verspäten. Dennoch beeilte sie sich, um nicht allzu spät in der Bar einzutreffen in der sie sich mit Lisa und Mona verabredet hatte. Kris schnappte sich ihr brauner Mantel, schloss die Haustür ab und hastete in die U-Bahn. Sie war auf dem Weg ins Vertigo42. Diesen Ort hatte Lisa ausgesucht, da sie dort vor Jahren einen Kellner namens Tom kennengelernt und sich ihn in verliebt hatte. Aber das Schicksal hatte leider andere Pläne mit den beiden. Nach einigen Verabredungen und Lisas voreiliger Neugier, ob er sich eine Familie und Kinder wünschte, brach er kurz darauf den Kontakt zu Lisa ab. Womit er ihr das Herz brach und ihre rosarote Seifenblase zerplatzten liess. Nach einem weiteren Monat kündigte er seinen Job und fuhr in seine Heimat, Deutschland, zurück.

      Seitdem wollte sie dennoch immer wieder ins Vertigo42. Kris verstand nicht wieso, denn das Vertigo42 gefiel ihr nicht besonders, zu viel Schickeria für ihren Geschmack. Sehr wahrscheinlich lag es daran das Lisa ihr Leben im Moment leer und phantasielos fand, und da sie eine hoffnungslose Romantikerin war, erinnerte sie das Vertigo42 an all die schöne Momente, die sie mit Tom erlebt hatte und an denen sie immer noch krankhaft festhielt. Lisa behauptete zwar, sie würde diese Bar nur wegen dem Ausblick lieben, was wahrscheinlich nicht ganz gelogen war, doch Mona und Kris wussten es besser. Die Plätze zeigten fast alle zum Fenster hinaus, in dem ein großer Teil Londons sichtbar war und das egal wo man sich hinsetzte.

      Sie war froh heute Lisa und Mona zu sehen, die sie bereits seit dem Kindergarten kannte. Sie pflegten ihre Beziehung wie Schwestern, möglicherweise, weil sie alle drei Einzelkinder waren und deshalb auf Geschwister verzichten mussten. Möglicherweise auch deshalb, weil sie zusammen aufgewachsen waren, auch wenn sie alle aus verschiedenen Verhältnissen stammten. Kris Eltern waren vermögend. Dennoch war es ihnen wichtig, dass sie die staatliche Schule besuchte.

      Auf diesem Weg lernte sie auch Mona und Lisa kennen. Seit den ersten Tagen im Kindergarten, wusste Kris bereits, dass sie die besten Freunde werden würden. Kris erinnerte sich noch genau daran. Mona wurde täglich von drei anderen Mädchen gehänselt, sie nannten Mona das Alkoholiker-Kind. Lisa stand immer hinter ihr, dennoch fehlte ihr der Mut Mona zu verteidigen. Mona weinte nie, obwohl ihr die Tränen meistens schon in den Augen standen. Eines Morgens hatte sie die Schnauze voll. Sie ballte ihre Hände zu kleinen Fäusten und schlug eines der Mädchen ins Gesicht. Diese fing sofort an zu weinen. Die Kindergartenlehrerin eilte herbei und wollte wissen was vorgefallen sei. Die drei Mädchen zeigten mit dem Finger auf Mona und da Kris wusste, dass sie schon genug Probleme hatte, richtete sie sich vor Mona auf und schaute zur Lehrerin auf. „Ich war es. Ich habe ihr ins Gesicht geschlagen.“ Seit diesem Tag waren sie das unzertrennliche Trio. Sie lächelte schwach. Heute würden sie sich volllaufen lassen und den Rausch in ihrer Wohnung ausschlafen.

      Kein Auge hatte sie letzte Nacht geschlossen. Sie hatte geweint bis sie glaubte keine Tränen mehr zu haben und ihr Kopf war kurz vor einer Explosion. Der Schmerz saß noch tief und drohte die Oberhand zu gewinnen. Falls sie es nicht schaffte sich abzulenken, würde sie sich in ihr Zimmer verkriechen und unaufhörlich weiter weinen. Genau wie letztes Jahr, als sie drei Tage nicht mehr aus der Wohnung gekommen war, keinen Anruf entgegennahm und die Haustür auch nicht mehr öffnete. Mona und Lisa hatten nicht locker gelassen. Am dritten Tag klingelten sie so lange an Kris Haustür, dass diese sie öffnen musste. Woraufhin sie Kris nicht mehr aus den Augen gelassen hatten, bis sie einigermaßen wieder auf den Beinen war.

      Heute gab es noch einen zusätzlichen Grund für ihre kleine Feier. Mona hatte ihre Arbeitsstelle als Kosmetikerin gekündigt und wollte darauf anstossen. Kris erinnerte sich noch gut an das Telefonat von heute Morgen, als sie Mona nach dem Grund ihrer Kündigung fragte. Sachlich wie sie war gab sie Kris zur Antwort, ich weiß nicht wieso! Ich hatte einfach keine Lust mehr. Sehr wahrscheinlich brauche ich einfach eine Veränderung!

      Nachdem Kris fragte, wie sie ihre Wohnung nun finanzieren wollte, meinte Mona gleichgültig, dass sie noch ein wenig Geld auf ihrem Sparkonto hatte und wenn das aufgebraucht sei, ziehe sie zu Kris, die ja genug Platz mit den fünf Zimmern hatte. Kris hoffte schon lange, dass Mona und Lisa bei ihr einziehen würden. Ihr war die Wohnung zu gross und seit dem Tod ihrer Eltern, fühlte sie sich darin meistens verloren und einsam.

      Ihre Eltern hatten ihr genug Geld hinterlassen, sodass Kris ihr Leben, auch ohne Arbeiten zu gehen, finanzieren konnte, was sie auch tat. Nach dem Tod der Beiden, begann sie ein Medizinstudium aufzunehmen, was sie kurze Zeit später jedoch abbrach und sich zu Hause verkroch. Ein halbes Jahr lang vegetierte sie dahin. Lisa und Mona hatten alle Mühe damit, sie wieder auf den richtigen Weg zu bringen und ihr das triste Leben, dass sie nun besaß, ein wenig schmackhafter zu machen. Mit der Zeit ging es ihr besser. Doch die Trauer war nie richtig von ihr gewichen und würde auch nie ganz verschwinden, dass wusste sie.

      Sie stieg an der Liverpool Station aus und bog nun in die Old Broad Street.

      Ein eisiger Windstoss ließ ihr dunkelbraunes Haar nach hinten wehen. Sofort schlang sie ihren Mantel enger um sich und zog sich die Kapuze tief ins Gesicht. Es war Ende März, aber immer noch eisig kalt. Kris hasste den Winter genauso wie den Sommer. Ihre Lieblingsjahreszeit war der Frühling, schönes mildes Wetter - nicht zu kalt und nicht zu heiß. Viel konnte sie vom Wetter nicht erwarten, schließlich lebte sie London - und in dieser Stadt war es normal, dass es mehr Schlechtwetter- als schöne Tage gab. Nur noch die Straße entlang, dann nach rechts und du bist in der Wärme, versuchte sie sich aufzumuntern.

      Ein Hilferuf riss Kris aus ihren Gedanken. Sie blickte um sich und sah, dass auch die zwei Passanten vor ihr neugierig die Köpfe hoben. Die Straße hatte viele enge Gässchen und der Hilferuf kam aus einer dieser Gassen. Kris beschleunigte ihre Schritte und sah wie das Pärchen vor ihr stehen blieb, das Szenario beobachtete und sich dann schnell aus dem Staub machte. Wenige Sekunden später stand sie an der gleichen Stelle. Sie sah nun zwei kräftige Männer und beide trugen einen Strumpf über dem Kopf. Der Eine, wollte einer etwas älteren Dame die Tasche aus der Hand reißen. Sie fiel dabei zu Boden. Mit der einen Hand hielt sie nun die Tasche fest umklammert, mit der anderen schütze sie ihr Gesicht vor den Schlägen des Angreifers. Ohne Nachzudenken rannte Kris auf den Mann zu, der die Frau weiterhin mit seinen Fäusten belagerte und stieß ihn weg. Er verlor daraufhin das Gleichgewicht und fiel kopfüber auf den Asphalt. Vor Schmerzen heulte er auf, fasste sich mit den Händen an seine blutende Nase. „Du Schlampe hast mir die Nase gebrochen!“, schrie er Kris hasserfüllt an.

      Überrascht blickte sein Partner zu Kris. Seine Miene änderte sich, nun schaute er wütend, holte aus und schlug Kris seine Faust mitten ins Gesicht. Sie roch ihr eigenes Blut. Die Frau schaute erschrocken auf, rappelte sich hoch und rannte davon, sobald ihr bewusst wurde, dass die Angreifer sich nun auf Kris konzentrierten. Na toll, dachte Kris, soviel zur Dankbarkeit. Jetzt war es Kris, die ihre Arme schützend vor ihr Gesicht hielt, um die Schläge abzuwehren. Komischerweise