Ute Janas

Jakobs kleiner Koffer


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Brideshead war es doch so ähnlich”, dachte sie und trat erst einmal auf den Balkon. Vor ihren Augen breitete sich die Landschaft Cornwalls aus. Schwarzweiße Kühe weideten unter Gruppen von großen, weit ausladenden Bäumen. Sie erkannte Rotbuchen und Eichen, Kastanien, deren Blüte gerade abklang, Linden und Platanen. Breite, gepflegte Wege schlängelten sich durch die parkartige Landschaft, die immer wieder von Hecken durchzogen wurde und irgendwie hatte sie dauernd das Gefühl, dass gleich Jeremy Irons unten durch den Park laufen und zu ihr hochwinken müßte. Sie atmete tief durch und ihre Lungen sogen die würzige Luft ein, die schon ein bisschen nach Meer schmeckte.

      Johanna ging wieder hinein und schaute sich neugierig die Fotos auf dem Kaminaufsatz an. Da war zunächst eine ältere Aufnahme, die einen gutaussehenden Mann mittleren Alters mit markantem Gesicht in Militäruniform zeigte, wahrscheinlich Major Brandwell. Johanna erinnerte sich an Fotos von Opa Heimberg und musste anerkennen, dass Christina sich auch insoweit verbessert hatte. Es folgten eine jüngere Aufnahme von einem Paar, das Johanna nicht einzuordnen wusste. Er war ein attraktiver, dunkelhaariger Mann und sie eine wahre Schönheit mit langen blonden Haaren an seiner Seite. Das letzte Foto stand ganz hinten und neben dem Rahmen lag eine getrocknete rote Rose. Johanna nahm das Foto zögernd an sich und betrachtete es mit sehr gemischten Gefühlen. Es war ein Foto von ihr selbst, sie erinnerte sich, dass ihr Vater es vor vielen Jahren im Garten des Lerchenhofs gemacht hatte. Wie kam Christina an dieses Bild? Was passierte hier? Irgendwie war ihr plötzlich unbehaglich zumute und sie schaute sich weiter in dem Raum um. Ihr Auge blieb an einem lavendelfarbigen Brief hängen, der auf Christinas Schreibtisch lag. Der Umschlag trug mit schwungvoller Schrift eine Aufschrift, die nur aus einem Wort bestand: Johanna.

      Sie nahm den Brief in die Hand und bemerkte, dass er leicht nach Veilchen duftete. Sie wog ihn nachdenklich in ihrer Hand und zögerte ein wenig. Dieser Moment schien ihr auf wundersame Weise bedeutsam und sie hatte das Gefühl, an einem Scheideweg zu stehen. Wenn sie den Brief öffnete, gab es kein Zurück mehr, dann hatte sie sich endgültig auf Christina eingelassen. Wollte sie das wirklich?

      „Warum bist du eigentlich hier, wenn du jetzt zögerst?”, schalt sie sich selbst und griff zu dem bereitliegenden Brieföffner. Sie setzte sich auf Christinas Diwan und schlitzte den Brief auf.

      „Liebe Johanna, Weihnachten 1989

       jetzt ist mein Wunsch erfüllt: du bist da, sitzt an meinem Schreibtisch und liest meinen Brief. Für diesen Augenblick habe ich die letzten Jahre gelebt. Ich begrüße dich auf Brandwell Manor, meiner zweiten Heimat, nachdem ich meine erste verloren habe.

       Doch dazu später. Ich bin Christina, deine Großmutter, das weißt du inzwischen. Vieles weißt du aber noch nicht, und ich will dich nach und nach an meine Geschichte heranführen. Ich will dir diese Annäherung langsam ermöglichen, denn ich bin dir fremd, und vielleicht stehst du mir sogar feindlich gegenüber. Du weißt nur das, was deine Eltern dir über mich erzählt haben und das ist nicht positiv. Eine Frau, die Mann und Kind verlassen hat, um zu ihrem Geliebten nach England zu gehen, scheußlich, nicht wahr?

       Wenn du dich auf mich einläßt, wirst du die Wahrheit erfahren, eine Wahrheit, die ein wenig anders aussieht. Ich weiß vieles über dich und das, was ich erfahren habe, läßt mich glauben, in dir eine Schwester gefunden zu haben. Ich habe dich ausgewählt, weil ich glaube, dass du mir ähnlich bist, und weil ich dich liebe, wie die Tochter, die ich verloren habe. Vielleicht wirst du dich hier in Brandwell Manor verändern. Habe keine Angst davor, du kannst mir vertrauen, denn ich liebe dich. Christina

      Kapitel 5

      Johanna wurde durch ein leises Klopfen geweckt. Sie schreckte hoch und wusste sekundenlang nicht, wo sie sich befand. Dann sah sie den lavendelfarbenen Brief in ihrer Hand und stellte fest, dass sie auf dem Diwan eingeschlafen war. Sie erinnerte sich, dass sie nach der Lektüre des Briefes lange nachgedacht hatte. Über das, was Christina ihr geschrieben hatte und darüber, welche Gefühle die Worte in ihr ausgelösten. Dabei war sie offensichtlich eingenickt.

      Judy kam leise in ihr Zimmer, um ihr mitzuteilen, dass ein Bad bereitet sei. Johanna bedankte sich und verneinte sehr nachdrücklich die Frage, ob sie Hilfe brauche. Ein Hausmädchen, das ihr den Rücken schrubbte, kam ihr nun wirklich ein bisschen zu anachronistisch vor. Judy führte sie ins Bad und ließ sie dann allein. Johanna zögerte nun nicht mehr, zu einladend duftete das Bad nach Kräutern und Blumen. Sie zog sich aus und ließ sich wohlig in das wohltemperierte Wasser gleiten. Ihre Gedanken wanderten wieder zu Christinas Brief. Die Worte hatten sie gefangen und in ihr eine angenehme Vertrautheit erweckt. Was mochte sich hinter all dem verbergen, was bedeuteten die Worte “wenn du dich auf mich einläßt, wirst du die Wahrheit erfahren”. Welche Wahrheit, Christinas Rechtfertigungen oder ganz neue Dinge? Der Brief hatte vor allem ihre Neugier geweckt und es war keine Frage, dass sie bereit war, sich auf Christina einzulassen. Immer noch quälte sie allerdings die Frage, woher Christina so viel über sie wusste und woher sie das Foto hatte. Sie döste vor sich hin, und als die Wanduhr im Schlafzimmer acht Mal schlug, schreckte sie auf. Sie sprang aus der Wanne und hüllte sich in den Bademantel, den Judy schon für sie bereit gelegt hatte. Dann ging sie in das Ankleidezimmer und schlüpfte in ihren langen Rock und eine farblich passende Bluse. Sie schminkte sich ein wenig und sah dann in den Spiegel. Irgendwas fehlte, Schmuck vielleicht, in diesem feierlichen Rahmen wollte auch sie festlich aussehen. Johanna schaute sich suchend um, ihre Großmutter musste doch bestimmt irgendwo eine schöne Kette haben. Auf der Kommode im Schlafzimmer entdeckte sie eine große Schmuckkassette, öffnete sie und warf sie gleich wieder zu. Der Anblick der funkelnden Steine blendete und erschreckte sie zugleich. Vorsichtig öffnete sie die Kassette wieder und wühlte ein bisschen darin herum. Schließlich fand sie eine wunderschöne Rubinkette mit passenden Ohrclips dazu und legte sie an, begleitet von einem kurzen Moment schlechten Gewissens. Ein letzter Blick in den Spiegel überzeugte sie dann aber sehr schnell, sie fand sich selbst wunderschön.

      Pünktlich um halb neun klopfte es an der Tür und George bat zum Dinner. Johanna entging nicht, dass auch er sie mit einem sehr zufriedenen Blick musterte, offenbar hatte sie für das heutige Dinner das richtige Outfit gewählt. Er ging vor ihr die Treppe hinunter und bat sie, ihm zu folgen.

      Am Fuß der Treppe blieb Johanna stehen, weil sie am Kamin einen Mann im Smoking erblickt hatte. Er saß in dem Sessel, in dem sie vor Stunden ihren Tee eingenommen hatte und schaute in die lodernden Flammen, ein halb gefülltes Glas in der Hand. Johanna blieb einen kleinen Moment stehen und betrachtete die Szene, die auf eine rätselhafte Weise traurig - oder besser- melancholisch wirkte. George räusperte sich und sagte dann sehr förmlich:

      „Sir Norman, ich melde Ihnen Miss Joan Oldenburg. Miss Oldenburg, dies ist Sir Norman Brandwell, Viscount Sommershell.“ Der Angesprochene erhob sich höflich aus dem Sessel. Das also war der Erbe von Brandwell Manor, der Neffe des alten Majors. Johanna schaute ihn neugierig an und erkannte den Mann von dem Foto in Christinas Zimmer, der dort mit der blonden Frau abgelichtet war. In Wirklichkeit schien er noch attraktiver als auf dem Bild, groß, schlank und mit grauen Augen in einem markanten, gebräunten Gesicht. Er musterte sie nachdenklich und begrüßte sie dann mit - wie sie fand - sehr zurückhaltender Höflichkeit und, ohne ihr die Hand zu geben, in fast akzentfreiem Deutsch:

      „Herzlich willkommen auf Brandwell Manor, Miss Oldenburg, darf ich Ihnen ebenfalls einen trockenen Sherry reichen?“

      Johanna, die in der Lage war, ebenso kühl zu wirken, reagierte mit einem knappen Nicken und den Worten: „Danke, Sir Norman, ich weiß Ihre Höflichkeit und Ihre Herzlichkeit zu schätzen.”

      Normann schaute sie verblüfft an. Dann lächelte er.

      „Sie sind sehr offen, Miss Oldenburg, wie Ihre Großmutter, die nahm auch nie ein Blatt vor den Mund. Sie sehen ihr übrigens überaus ähnlich, ich nehme an, das hat man Ihnen schon öfter gesagt, oder?”

      Johanna schaute ihn skeptisch an.

      „Woher soll ich wissen, wie meine Großmutter ausgesehen hat, ich habe gestern zum ersten Mal von ihrer Existenz gehört. Bislang hat man mir Christina Brandwell verschwiegen.”

      „Tatsächlich?”,