Ute Janas

Jakobs kleiner Koffer


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er vielleicht ein Hotelgast gewesen, in den sie sich spontan verliebt hatte? Wieso hatte sie den Mut zu einem solchen Schritt gefunden?

      Johanna fiel plötzlich auf, dass sie gar nichts über Christina wusste. Sie hatte nicht einmal eine Ahnung, woher sie gekommen war, als sie ihren Opa geheiratet hatte. Vielleicht war sie Zimmermädchen im Hotel gewesen oder selber zu Gast, mit ihren Eltern vielleicht - ihre Mutter hätte ihr sicherlich mehr erzählen können, wenn nicht eine seltsame Scheu Johanna davon abgehalten hätte, sie nach Christina zu fragen. Sie hatte das Gefühl, ihrer Großmutter vorbehaltlos begegnen zu müssen, frei von den emotionalen Zwängen ihrer Mutter.

      Das Flugzeug ging in den Landeanflug über und Johanna schnallte sich an. Sie landeten bei strahlendem Sonnenschein auf dem International Airport von Plymouth, und Johanna betrachtete das gute Wetter als positives Omen. Sie verließ mit den anderen Passagieren das Flugzeug und ging die wenigen Schritte bis zur Ankunftshalle zu Fuß.

      Nachdem sie ihr Gepäck in Empfang genommen hatte, schaute sie sich suchend um. Es waren nur wenige Menschen dort zur Begrüßung der Ankommenden versammelt, und so fiel es ihr nicht schwer, den grauhaarigen Mann in einer Livree zu entdecken, der ein großes Schild mit ihrem Namen hochhielt. Sie holte tief Luft und ging auf ihn zu. Doch bevor sie sich vorstellen konnte, sagte er mit einem Lächeln:

      „Sie sind Christinas Enkelin, herzlich willkommen in England Miss Oldenburg. Ich bin Peter Milhoney, der Chauffeur, bitte nennen Sie mich Peter.“

      „Guten Tag Peter“, erwiderte Johanna herzlich. „Ich bin - ja, ich denke, ich bin Joan“, ganz sicher war sie sich nicht, ob Joan die richtige Übersetzung ihres Vornamens war, aber Peter war es offensichtlich zufrieden. Er nahm ihren Koffer und ging ihr voraus zum Parkplatz. Dort steuerte er auf einen großen, silber­grauen Wagen zu.

      „Das ist ja ein Bentley“, rief Johanna überrascht. Den Platz auf dem Rücksitz, den Peter ihr anbot, lehnte sie ab und setzte sich neben ihn. Peter nahm das lächelnd zur Kenntnis, sagte aber nichts.

      Er steuerte den Wagen geschickt durch den dichten Verkehr und bald verließen sie die Innenstadt und wandten sich nach Westen. Peter bog von der Bundesstraße 38 in eine kleine Nebenstraße ein. Die Landschaft veränderte sich. Weitgezogene Hügel mit satten Wiesen wechselten ab mit Baumgruppen, durch die sich ein kleiner Fluss schlängelte. Rechts und links säumten dichte Hecken voller Blumen und Ranken die Straße. Johanna sah Mohnblumen, Heckenrosen und andere Wildblumen und als sie die Seitenscheibe öffnete, bemerkte sie den würzigen Duft, der über dem Land lag. Die Landschaft war so lieblich, heiter und beschwingt, dass Johanna ganz fröhlich wurde. Sie hatte das Gefühl, durch einen wunderschönen Park zu fahren und konnte sich nicht satt sehen. Hin und wieder passierten sie gepflegte kleine Ortschaften mit verwinkelten Straßen und Fachwerkhäusern, die unter der Last ihres Blumenschmucks fast zusammenzubrechen schienen, und Johanna hatte das Gefühl, sie wäre in der Landschaftskulisse zu einem Heimatfilm gelandet. Wie hingewürfelt lagen immer wieder vereinzelte Häuser mitten in den grünen Wiesen, oder es führten breite Kieswege rechts oder links zu verschlossenen Toren und ließen erahnen, dass sich hinter ihnen ein etwas größeres Anwesen verbergen musste.

      „Hier ist es so friedlich und so wunderbar ruhig“, sagte sie zu Peter

      „Ja, Miss Joan, hier erholt sich die Seele, hat Ihre Großmutter immer gesagt, wenn sie mit mir durch Cornwall gefahren ist. Ich bin oft mit ihr diese Straße entlang gefahren, es war ihr Lieblingsweg nach Plymouth, auch wenn sie nicht so gerne dahin gefahren ist.”

      „Wieso, ist die Stadt nicht schön”, fragte Johanna.

      „Na ja, es ist eben eine Großstadt, eine Hafenstadt, nicht wahr”, antwortete Peter, als wäre damit alles gesagt.

      „Wie weit sind wir denn von der Küste weg?“, fragte Johanna neugierig.

      „Nur ein paar Meilen und jetzt sind wir gleich am River Fowey, der direkt in den Kanal führt. Wir müssen ihn mit einer Fähre über­queren.“ Schon nach wenigen Minuten stoppten sie, um auf die Fähre zu warten. Der Fluss wand sich wie ein Fjord in das Land hinein, nach links gab die Landschaft den Blick auf einen grünen Hügel voller Häuser und ganz am Ende auf den Ärmelkanal frei, auf der anderen Seite konnte man dichte Wälder sehen, die auf beiden Seiten das Flußufer säumten. Im oberen Teil des Flusses, der dort ein weites Becken bildete, lagen zwei alte Tanker, die offensichtlich auf ihre Verschrottung warteten.

      „Was sind das denn für Schiffe, die sind ja riesengroß und sehen aus, wie Kriegsschiffe?”, wunderte sich Johanna, Peter antwortete allerdings nur mit einem undeutlichen „Hm.”

      Die kleine Fähre brachte sie auf die andere Seite. Dort warteten auf die Ankömmlinge ein paar uralte Häuschen, die aussahen, als hätten sie viel von der Vergangenheit zu berichten, wenn man sie nur ließe. Sie passierten den winzigen Ort und fuhren vorbei an einer großen Bucht wieder in grünes, weites Land hinein, das jetzt ab und zu durch ein leuchtend gelbes Rapsfeld aufgelockert wurde. Johanna ließ sich tief in ihren Sitz sinken und hatte nur noch den einen Wunsch, nie mehr etwas anderes schauen zu wollen.

      Verse von Wordsworth und Shelley kamen ihr in den Sinn: „Mir war’s, als ob ich einen Strauß gewunden, aus dieses Traumes Blüten“, wie gut diese Worte hierhin passten, dachte Johanna, hier musste man ja zum Romantiker werden.

      Eine halbe Stunde später tauchte plötzlich ein Hinweisschild mit dem Namen „Brandwell Manor“ auf und Peter bog nach links in einen Kiesweg von der Straße ab. Er hupte einmal kurz und aus einem kleinen Haus, das etwas abseits von der Straße lag, kam ein junger Mann, tippte an seine Mütze und öffnete das schmiedeeiserne zweiflügelige Tor. Dieses Tor zierte ein goldenes Wappen, das auf der einen Seite einen großen Vogel zeigte und auf der anderen Seite so etwas wie einen Degen oder einen Säbel. Hinter dem Tor schlängelte sich der Kiesweg den Hügel hinauf, gesäumt von riesigen Rhododendronbüschen, die in voller Blüte standen.

      „Wo sind wir hier?”, fragte Johanna ratlos, „Was ist das für ein Anwesen?“ Sie unterbrach ihren Satz, denn in ihr Blickfeld kam ein riesiges Haus im viktorianischen Stil. Der Kiesweg führte in einer großen Runde zu einem vorgebauten Portal, von dem aus sich rechts und links das Haus weitläufig ausbreitete. Es war ein Bau aus Ziegelsteinen, zweistöckig, gekrönt von vielen Giebeln und noch mehr Kaminen und über und über bewachsen mit Kletterpflanzen. Glyzinien und Weinreben rankten sich um Efeustämme, Clematis und Kletterrosen schlangen sich um Spaliere, und alle zusammen bildeten einen dichten, bunten Wandbehang.

      „Ist das etwa …?“, begann Johanna, und Peter setzte ihren zögernden Satz fort, „ja Miss Joan, das ist Brandwell Manor, das Heim von Major und Mrs. Brandwell, Ihrer Großmutter.“

      Johanna blieb regungslos auf dem Beifahrersitz sitzen.

      „Ich werde verrückt“, murmelte sie, „ich werde auf der Stelle verrückt.“ Sie rieb sich die Augen, schloss sie, machte sie wieder auf und noch immer stand dieses Traum­schloss vor ihr, dieses zauberhafte, alte, riesige Haus.

      Johanna wurde aus ihrer Verzückung gerissen, als Peter ihren Schlag öffnete und sie aus dem Wagen komplimentierte. Er führte sie zu dem Portal, vor dem sich eine kleine Gesellschaft aufgebaut hatte. Als erster in der Reihe stand ein soignierter älterer Herr in einem förmlichen dunklen Anzug. Neben ihm eine etwa ebenso alte Frau in einer weißen, gesteiften Küchenschürze, zwei Mädchen in einer Art Tracht, eine junge Frau mit Schürze neben einer grauhaarigen Frau in einem weißen Kittel und drei Männer in grünen Anzügen.

      „Herzlich willkommen auf Brandwell Manor Miss Oldenburg”, sagte der ältere Herr. „Ich bin George Mason, der Butler, darf ich Ihnen einen Teil des Personals dieses Hauses vorstellen?“

      Joan nickte und murmelte ein paar unverbindliche Worte. Dann folgte sie Mr. Mason, der mit ihr die Reihe abging, und ihr die anderen vorstellte. Mrs. Mason, offensichtlich also seine Frau, war die Köchin, die beiden Mädchen, Judy und Nelly die Zimmermädchen, Gladys die Küchenhilfe, Pauline die Wäschefrau und die drei grünen Herren, Jonathan, William und Bodur die Gärtner, natürlich nur für den Hausgarten und den Park, nicht für das Gut, wie George erklärte. Johanna gab allen die Hand und begrüßte jeden freundlich, spürte aber zu ihrem