Ute Janas

Jakobs kleiner Koffer


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Hanni, dass ich um acht zu Hause bin, dann soll sie mir alles er­zählen. Und grüß‘ alle schön.“

      Damit legte er auf, und Alfred kam wieder zu den anderen zurück.

      „Das war Martin“, sagte er.

      „Und, was hat er ge­sagt?” fragte Lotte ihn.

      „Ich soll euch alle grüßen“, erwiderte Alfred grinsend und fuhr, als ihm ein Sofakissen um die Ohren flog, fort: „Im übrigen ist er der Meinung, wir beide sollten uns auf unsere Zurechnungsfähigkeit untersuchen lassen.“

      „Unverschämtheit“, krähte Daisy. Dann fiel ihr offensichtlich noch etwas ein.

      „Wieso erbt denn eigentlich Johanna und nicht Philipp, er ist doch der älteste Sohn“, fragte sie.

      „In der Regel ob­liegt es den Erblassern, zu bestimmen, wem sie was hinterlassen wollen, liebe Martha“, erwiderte ihr Schwiegervater mit abweisender Miene. Daisy ging ihm hin und wieder ganz schön auf die Nerven, und er machte das damit deutlich, dass er sie dann bei ihrem richtigen, von ihr verabscheuten, Namen nannte. Daisy war jedoch so aufgeregt, dass sie dieses Warnzeichen überhörte und sagte eifrig:

      „Gegen ein solches Testament kann man bestimmt was machen, das kann man anfechten, oder nicht?”

      Ihr Mann legte beruhigend seine Hand auf die ihre.

      „Laß uns erst einmal abwarten, Baby, kommt Zeit, kommt Rat.“ Johanna schüttelte sich, sie fand es lächerlich, dass die beiden sich immer als „Baby“ bezeichneten, und machte sich gemeinsam mit Martin ständig über diese Marotte ihres ältesten Bruders lustig. „Mama“, fragte Johanna und setzt sich zu ihrer Mutter auf das Sofa.

      „Erinnerst du dich denn überhaupt nicht mehr an deine Mutter?”

      Lotte fuhr sich mit der Hand über die Augen. Dann sah sie Johanna an.

      „Doch, mein Kind, ich erinnere mich an Sommertage voller bunter Bilder und eine schöne, blonde, junge Frau, die mit mir im Heu herumtollt und lacht. Aber auch an die einsamen Nächte eines kleinen Mädchens, an Angst vor Bomben, an Verschüttung, Vertreibung und Flucht, an endlose Abende voller Einsamkeit und Sehnsucht und an das nie enden wollende Gefühl von Verlassenheit, nachdem meine Mutter weg war. Bis heute habe ich das nicht wirklich verloren, und deshalb konnte ich ihr nicht verzeihen, konnte mich nicht mit ihr treffen, als sie mir geschrieben hat. Ich habe sie zu sehr geliebt und zu tief gehasst, und dann wollte ich nur noch meine Ruhe, kannst du das verstehen?”

      Johanna nahm ihre Mutter in den Arm. Sie musste sich davor hüten, genauso unbarmherzig zu sein, wie sie es ihrer Mutter vorgeworfen hatte. Sie hatte kein Recht, ihr Vorwürfe zu machen, auch wenn sie im Augenblick traurig und verwirrt war.

      „Ich fahre dann mal wieder nach Hause, ich muss mich nach einem Flug erkundigen“, sagte Johanna und stand auf.

      „Du fährst da natürlich nicht hin“, sagte ihre Mutter scharf.

      „Natürlich fahre ich, wieso denn nicht“, fragte Johanna erstaunt zurück.

      „Dann nimmst du aber jemanden zur Begleitung mit“, forderte ihre Mutter. ”Ludwig oder Philipp .“

      Philipp machte ein ablehnendes Gesicht und Johanna erklärte sehr entschieden:

      „Diese Reise geht nur mich etwas an, mich hat Christina eingeladen und nicht dich, Ludwig oder Philipp, also fahre ich allein.“

      Lotte verlangte nach einem neuen Eisbeutel und Johanna verabschiedete sich von ihrer Familie. Sie ver­sprach, bald von sich hören zu lassen. Ihr Vater begleitete sie nach unten und legte den Arm um sie. Sie schmiegte sich aber nicht an ihn, wie sie es sonst immer tat. „Bei allem Verständnis für Mamas Lage“, sagte sie, „ich bin ziemlich enttäuscht von dir. Du hättest uns eine so wichtige Sache nicht verschweigen dürfen, das sieht dir auch gar nicht ähnlich.“ Alfred sah seine Tochter ernst an. Er strich ihr eine Locke aus der Stirn und sagte:

      „Das ist eine Frage der Loyalität, mein Kind. Meine Loyalität ist und war immer auf seiten deiner Mutter. Bei all deiner Enttäuschung, das musst du verstehen.“

      Er gab ihr einen Kuss und Johanna machte sich auf den Rückweg in die Stadt. Sie fühlte Vor­freude in sich, doch auch eine instinktive Besorgnis. Was mochte auf sie zukommen, was würde sie in England vorfinden? Wie würde ihre Reise in die Vergangenheit ausgehen? Durfte man eigentlich eintauchen in eine frühere Zeit, ohne Schaden zu nehmen? Würde sie sich verändern bei dem, was auf sie zukam?

      Sie schüttelte die düsteren Vorahnungen ab und konzentrierte sich auf die praktischen Probleme, die sie nun lösen musste. Erst musste sie sich um eine Vertretung bemühen, dann galt es, Ludwig anzurufen. Der Flug musste gebucht werden, sie musste packen, ihre Katze zur Nachbarin bringen ...

      In der Stadt fuhr sie zuerst zu dem Reisebüro, das regelmäßig für die Kanzlei tätig war. Sie erkundigte sich nach einem Flug nach Plymouth und erfuhr, dass es schon am nächsten Mittag eine Möglichkeit gab. Kurz entschlossen ließ sie sich einen Platz reservieren und fuhr nach Hause.

      Dann war die Firma St. Kendall zu informieren und so wählte sie die angegebene Nummer in Plymouth. Sie erklärte der freundlichen Dame am Empfang, dass sie am nächsten Tag um 14.30 Uhr Ortszeit in Plymouth landen würde, und ihr wurde versichert, dass man sie ab­holen werde.

      Anschließend musste sie ihre Vertretung regeln. Sie, Tom und Kerstin arbeiteten als Team zusammen, eine eingespielte Truppe, die sich gut verstand und bei allem Arbeitsdruck viel Spaß miteinander hatte.

      Kerstin war der „Kanzleivamp“, eine äußerst attraktive Frau mit roten Haaren und einem sprühenden Temperament. Sie verliebte sich in jeden zweiten Mandanten, und wenn private Kontakte zwischen Anwalt und Mandant auch streng verboten waren, so ging sie doch regelmäßig mit ihnen aus. Besonders angenehm waren ihr verheiratete Männer, da sie keinerlei Ambitionen auf eine längere und vor allem feste Bindung hatte. Sie hatte im Übrigen ein fan­tastisches Talent, ihre Beziehungen immer friedlich zu beenden, und da sie darüber hinaus eine exzellente Anwältin war, trudelten fast regelmäßig Dankschreiben in der Kanzlei ein, in denen Kerstins hervorragende Fähigkeiten bei der Abwicklung eines Prozesses gerühmt wurden und man schon jetzt darauf hinwies, im Wiederholungsfall ausschließlich die Dienste der Frau Dr. Kerstin Meienbrink in Anspruch nehmen zu wollen.

      Ludwig nahm diese Schreiben immer mit großer Freude zur Kenntnis, aber seine Mitinhaberin, Dr. Susanna Kant, durchschaute das Beziehungsgeflecht, das Kerstin aufbaute, etwas besser und wies sie regelmäßig darauf hin, dass sie immer mit einem Bein am Abgrund stünde. Kerstin nahm diese Mahnungen zur Kenntnis und ignorierte sie würdevoll.

      Tom hingegen war ein fürsorglicher Familienvater, verheiratet mit einer entzückenden Frau namens Molly, die nicht nur so hieß, sondern auch so aussah. Sie managte ihren Haushalt, dem neben Tom auch drei Kinder und zwei Katzen angehörten, mit traumhafter Gelassenheit und ohne sich jemals aus der Ruhe bringen zu lassen. Tom hing mit zärtlicher Zuneigung an ihr und den Kindern, auch wenn er immer den Eindruck zu erwecken versuchte, er sei durch seine Familie völlig gestresst, was ihm jedoch niemand abnahm.

      Sie wählte die Nummer von Tom, da die Aussicht, Kerstin zu erreichen, ohnehin gleich null war. Als Tom den Hörer abnahm, vernahm Johanna ohren­betäubenden Lärm auf der anderen Seite.

      „Was ist denn bei euch los?“, fragte sie belustigt.

      „Die unsäglichen Kinder dieser sogenannten Mutter haben einer der Katzen eine Glocke an den Schwanz gebunden, und jetzt tobt sie durch die Wohnung. „He, Molly, willst du dich nicht mal endlich um diese mißratenen Geschöpfe kümmern, die du deine Kinder nennst?“, sprach er neben den Telefonhörer, doch Johanna bekam es natürlich mit.

      „Wenn ich mich recht erinnere, sind das auch deine Kinder“, versetzte Molly gleichmütig. „Im Übrigen bin ich beschäftigt.“

      „Sie sitzt im Sessel und liest“, stöhnte Tom. „Man stelle sich vor, sie liest. Schluss jetzt, Mike, nimm sofort der Katze die Glocke ab, sonst setzt es was, das ist Tierquälerei, sofort, hörst du.“