Ute Janas

Jakobs kleiner Koffer


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Kinder mit marrmelade-verschmierten Mäulern, Tom am Rande des Nervenzusammenbruchs hinter der Katze her hechelnd, und Molly ungerührt in eine Biographie vertieft. Sie liebte dieses Familienidyll und war gerne bei ihnen zu Gast, man konnte unangemeldet jederzeit dort auftauchen und wurde völlig unkompliziert integriert. Nicht selten hatte sie sich kurz nach ihrer Ankunft in der Küche wiedergefunden, Kartoffeln schälend oder mit anderen Arbeiten betraut, das alles war bei der Familie Mühlberg völlig selbstverständlich.

      „Hör zu Tom, ich muss morgen überraschend nach England fliegen, es sieht so aus, als ob dort eine Großmutter von mir gestorben ist.“

      „Eine Großmutter, aha“, versetzte Tom lakonisch. „Schätzchen, Deine Ausreden waren aber auch schon besser.“

      Johanna erklärte ihm in Kurzform die Lage und spürte eine verhaltene Spannung in seiner Stimme, als er sie eindringlich fragte: „Und du bist sicher, dass du dahin fahren solltest?“

      „Ich muss, Tom, ich habe keine Wahl.“

      „Natürlich hast du keine Wahl, du musst ja allem auf den Grund gehen. Sei vorsichtig”, fügte er beinahe zärtlich hinzu. „Pass auf dich auf und ruf mich an, wenn du mich brauchst.“

      „Keine Sorge Tom, wenn ihr meine Fälle übernehmt, dann bin ich schon beruhigt. Es sind ja nicht mehr viele, am übernächsten Wochenende wollten Ludwig und ich ja sowieso in Urlaub fahren.“

      „Ach ja, was sagt denn Dr. Steifleinen zu deinem Abenteuer?“, fragte Tom neugierig. Er nannte Ludwig in Abwandlung seines Namens immer Steifleinen, kein unzutreffender Spitzname, fanden alle.

      „Er weiß noch nichts davon, das steht mir noch bevor”, versetzte Johanna und verabschiedete sich liebevoll von Tom.

      Der nächste Anruf war der Schwierigste. Ludwig wurde auf Dienstreisen nicht gerne durch Privates gestört, und außerdem musste sie ihm eine Enttäuschung bereiten, und das tat sie nicht gerne.

      Als sie ihn endlich in seinem Zimmer im Parkhotel erreicht hatte, reagierte er erstaunlicherweise geradezu erfreut.

      „Ach, Johanna, schön, dich zu hören, ich wollte dich auch eben anrufen, bevor ich zu dem Bankett gehe. Ich komme schon einen Tag eher zurück, dann können wir bereits am Donnerstag nach Holland fahren, ich hoffe, das passt in deine Pläne.“

      Johanna fiel es schwer, seine freudige Stimmung so zu zerstören, aber sie hatte keine andere Wahl.

      „Ludwig, ich fürchte, ich kann nicht mit dir nach Holland fahren, ich habe ein Problem.”

      „Was ist passiert?“, fragte er kurz und ohne Umschweife und sie liebte ihn dafür. Er war kein Mann überflüssiger Worte, zuverlässig und punktgenau kam er auf den Kern einer Sache, analysierte sie, zog seine Schlüsse und akzeptierte sie - oder auch nicht, jedenfalls wusste man bei ihm immer genau, woran man war.

      „Du wirst es kaum glauben, aber ich muss morgen nach England fliegen, weil meine Großmutter gestorben ist und ich im Testament bedacht bin.”

      Am anderen Ende herrschte Schweigen. Nach einigen Sekunden sagte Ludwig, unverändert im Tonfall:

      „Das solltest du mir erklären.“

      Er lauschte Johannas Geschichte bis zum Schluss und schwieg dann einen Augenblick. Schließlich sagte er leicht belustigt: „Sehr ungewöhnlich, Johanna, was dir da passiert ist. Ich wusste gar nicht, dass du eine so exzentrische Familie hast.“

      „Ich auch nicht”, erwiderte sie leicht kläglich. Dann merkte sie ein leichtes Zögern in seiner Stimme, als er sagte:

      “Ich werde dich natürlich begleiten, Liebes, ich sage den Urlaub gleich ab.“

      „Das ist nicht nötig”, widersprach sie sehr entschieden. „Ehrlich gesagt, wäre es mir auch gar nicht recht. Ich hätte überhaupt kein gutes Gefühl, wenn du deinen bitter benötigten Urlaub absagst, nur weil du denkst, ich brauchte Hilfe beim Antritt einer Erbschaft.”

      „Johanna“, sagte er mahnend. „Bitte keine Empfindlichkeiten. Mit meinem Angebot war keinerlei Abqualifizierung deiner Person oder deiner Fähigkeiten als Anwältin verbunden, ich war einfach nur nett zu dir.”

      „Entschuldige Schatz, ich bin vermutlich ein bisschen überreizt“, antwortete sie, und fügte – nicht ganz aufrichtig – hinzu: „Es tut mir wahnsinnig leid um unseren Urlaub, wir waren schon so lange nicht mehr in Ruhe zusammen. Ich habe mir schon überlegt, ob ich vielleicht in Guernsey zusteigen könnte, bis dahin habe ich sicher alles erledigt.“

      „Ja das wäre vielleicht eine Möglichkeit, Johanna ich kann mal vorsichtshalber deine Segelsachen mitnehmen. Am besten bringst du alles in die Kanzlei, dann brauche ich nicht bei dir zu Hause vorbei zu fahren, und du sparst dir den Weg zu Vater. Ja, das wäre wirklich eine gute Idee. Du solltest mich aber auf dem Laufenden halten - wenn es dir nichts ausmacht”, schloss er mit einem - wie sie bemerkte - ironischen Unterton.

      „Machmal bist du wirklich scheußlich”, schimpfte Johanna, als Ludwig sich leise lachend verabschiedete und ihr viel Glück wünschte.

      Als letztes stand das Gespräch mit Martin an. Sie traf ihn zu Hause und klärte ihn über alle Einzelheiten auf. Ihren kleinen Bruder hätte sie gerne bei sich gehabt auf ihrer Reise in die Familienvergangenheit. Martin fand die ganze Sache genauso spannend wie sie und im Gegensatz zu Philip neidete er ihr auch nicht ein eventuelles Erbe. Er hatte allerdings diffuse Befürchtungen, das Gefühl einer unbekannten und möglicherweise bedrohlichen Entwicklung, die sich noch nicht in Worte kleiden ließ.

      „Mir wäre wohler, wenn ich dich begleiten könnte, aber ich kann im Moment nicht weg. In ein paar Tagen könnte ich vielleicht nachkommen, wenn du mich brauchst. Ruf mich einfach jeden Tag an und dann sehen wir ja, was da abgeht. Wenn du schon hinfährst, dann lass dich auch richtig auf die Geschichte ein”, setzte er nachdenklich hinzu, „aber sei vorsichtig. Es ist merkwürdig, dass Christina einem von uns etwas vererbt hat. Ob es wohl ihr schlechtes Gewissen war?”

      „Ich habe keine Ahnung, aber ein wenig unheimlich ist mir die ganze Sache auch. Ach, mir wird schon nichts passieren, wir leben ja hier in zivilisierten Breitengraden, nicht wahr?“

      Kapitel 4

      Aufatmend ließ sich Johanna in ihren Sitz sinken und nahm dankend das Glas Orangensaft, das ein freundlicher Steward ihr reichte. Als das Flugzeug abhob, lehnte sie sich in ihrem Sitz zurück und schloss die Augen. Wie ein Traum kamen ihr die letzten 24 Stunden vor, seit sie jenen schicksalhaften Brief geöffnet hatte. Alles war aus den Fugen, die Rahmenbedingungen ihres Lebens hatten sich geändert, und sie wusste noch nicht, ob sie darüber froh oder traurig sein sollte. Deutlich spürte sie das Unbehagen, das der plötzliche Verlust ihrer Sicherheit mit sich brachte, gepaart mit einer verhaltenen Vorfreude und Spannung. Dies war eine Situation, wie sie noch keine erlebt hatte und sie fühlte sich wie auf einem Hochseil.

      Martin hatte sie zum Flughafen gebracht und die ganze Situation noch einmal mit ihr durchgesprochen. Er war emotional ebenso berührt wie Johanna, und das tat ihr gut.

      Johanna hatte sich - so gut das in der Kürze der Zeit überhaupt möglich war - vorbereitet. Sie hatte sich über die Anwälte erkundigt und erfahren, dass die Firma St. Kendall eine der renommiertesten Anwaltskanzleien in Südengland war. Sie hatte sich Unterlagen über das englische und das internationale Erbrecht herausgesucht, war über die Verkehrsmittel in Cornwall und Devon informiert und mit Kreditkarten ausgestattet - eigentlich konnte nichts schiefgehen. Auch ein Handy hatte sie dabei - ein Abschiedsgeschenk ihres kleinen Bruders, der sie jederzeit erreichen wollte.

      Johanna schaute aus dem Fenster und sah durch einen zerrissenen Wolkenvorhang unter sich die englische Küste. Ihre Gedanken wanderten unwillkürlich zu jener geheimnisvollen Großmutter, die vor 55 Jahren ihren Mann und ihre kleine Tochter verlassen hatte, um über den Kanal zu ihrem Geliebten zu gehen. Sie versuchte sich vorzustellen, wie verzweifelt oder wie wagemutig eine Frau im Jahr 1935 gewesen sein musste, um einen solchen Schritt zu tun. Bei den damaligen Moralvorstellungen musste