Benno von Bormann

Das Hospital


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ist mit dem Rückenmark? Kann das durch eine abdominelle Abklemmung geschädigt werden?“ Die Studentin schwieg. Melanie Müller blickte gelangweilt geradeaus, als mokiere sie sich über die Banalität der Frage. Tatsächlich grübelte sie fieberhaft und hoffte, dass ihr Chef die Diskussion nicht an sie weitergeben würde. Bekker las ihre Gedanken und tat nichts dergleichen. Auch darin unterschied er sich deutlich von vielen Chefarztkollegen.

      „Es gibt eine Arterie, die ganz oben aus der Aorta kommt und wesentliche Anteile des Rückenmarks versorgt. Das ist die Arteria radicularis magna, genannt nach ihrem Entdecker ‘Adamkiewiczsche Arterie‘; komplizierter Name.“ Bekker legte großen Wert auf eine Ausbildung ‘über den Tellerrand‘, wie er das nannte.

      „So gesehen besteht keine Gefahr fürs Rückenmark. Es gibt jedoch eine Variabilität der Arterie, sehr selten zwar aber extrem relevant. In weniger als 1% der Fälle entspringt sie unterhalb der Nierenarterien, so dass durch ein abdominelles Clamping ihre Blutzufuhr unterbrochen wird. Was hat das für Konsequenzen, Mädels – na?“ Die Frage war rhetorisch.

      „Querschnitt“, sagten die beiden jungen Frauen beinahe gleichzeitig und Bekker nickte.

      ‚Danke, Chef‘, dachte die Assistentin, ‚bist doch kein übler Kerl.‘ Bekker hatte einmal eine Zeitlang ein Auge auf sie geworfen, aber es war nichts passiert, was nicht an ihr gelegen hatte.

      „Ich glaube, wir müssen ein wenig zulegen. Bitte Frau Kollegin“, er schaute Melanie Müller freundlich an. Sie beschrieb knapp und so einfach wie möglich den nächtlichen Verlauf und dass die Beatmung vor etwa zwei Stunden beendet werden konnte.

      „Patient ist neurologisch o.B.; er ist müde, aber geordnet, zeitlich und örtlich orientiert. Schmerztherapie über thorakalen Periduralkatheter.“ ‚Mein Gott, nicht schon wieder‘, dachte sie im gleichen Moment, ‚hätte ich doch den dämlichen Katheter nicht erwähnt‘, aber Bekker war heute nicht zu bremsen. "Periduralkatheter?"

      „Katheter, der in die Nähe des Rückenmarks gelegt wird, um so Schmerzen zu bekämpfen“, kam die Antwort von der Studentin.

      Die Assistentin verdrehte die Augen. Der Chef würde jetzt doch wohl nicht noch erklären, wie man diesen verdammten Katheter legte. Das konnte das Mausi sich nun wirklich im OP ansehen, wo es alle naslang stattfand. Bekker las erneut ihre Gedanken und wandte sich der Studentin zu.

      „Ich habe gleich einen Patienten mit einem ausgedehnten abdominellen Eingriff, Krebs der Bauchspeicheldrüse. Dem lege ich vor der Narkoseeinleitung einen Periduralkatheter. Kommen Sie nachher mit hinein, dann zeige ich’s Ihnen. Vorher lesen Sie im Pschyrembel nach, was eine Whipplesche Operation ist, darum geht’s nämlich – okay?“

      ‚Die neue Favoritin‘, dachte die Assistentin mit einem Anflug von Häme, aber auch ein wenig Eifersucht. Doch das war ungerecht, und sie wusste es. Natürlich hatte Bekker eine Schwäche für attraktive junge Frauen, aber weder bevorzugte noch bedrängte er sie. Intelligenz und die Fähigkeit, Zusammenhänge logisch zu entwickeln, waren für ihn ebenso wichtig wie ein angenehmes Äußeres. Die Studentin hatte genickt und schien erfreut. Jedenfalls tat sie so. Melanie Müller schickte sich an, mit weiteren Details fortzufahren, aber Bekker war zufrieden.

      Das konnten Laien nicht annähernd ermessen. Da war dieser Patient mit einer Fülle von Risikofaktoren und seinem großen Aortenaneurysma, das unbehandelt über kurz oder lang gerissen wäre mit sekundenschnellem Verbluten. Der operative Eingriff umfasste die Eröffnung des gesamten Bauchraumes mit Durchtrennung des vorderen und hinteren Blatts des Bauchfells und einem mehr als einstündigen Abklemmen der Hauptschlagader, der ‘Nord-Süd-Achse der Blutversorgung‘, wie Bekker das gegenüber seinen Studenten nannte. Und nun lag der Frischoperierte kaum fünfzehn Stunden später in seinem Bett und blinzelte ihn müde, zufrieden und vollkommen schmerzfrei an. Im Lauf des Vormittags würde man ihn bereits auf die Normalstation verlegen, und in zehn Tagen war er zu Hause.

      Bekker erinnerte sich noch gut an die Zeit, als Patienten für einen derartigen Eingriff erst gar nicht akzeptiert wurden. Heute waren das Routineeingriffe. Aufwändig zwar, aber dennoch Routine, und die moderne Anästhesie mit ihren ausgefeilten Möglichkeiten der Überwachung und Kreislauftherapie, der Schmerzbekämpfung und der Intensivmedizin, hatte ganz maßgeblichen Anteil an dieser Entwicklung.

      Auch wenn Bekker die moderne Medizin in vielen Bereichen äußerst kritisch sah, erkannte er auch ihren Segen. Ein solcher Verlauf erfüllte ihn stets aufs Neue mit Freude und Dankbarkeit. Hier waren sie, die wirklich wichtigen Fortschritte der klinischen Medizin – leider wurde viel zu wenig darüber geredet, sodass es nicht ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gelangte. Wurden Organe - möglichst viele gleichzeitig - transplantiert, waren die Medien außer Rand und Band. Ob langfristig auch nur ein Patient solche Prozeduren überlebte und wenn ja, wie es mit ihm weiterging interessierte niemanden. Von einer vernünftigen Analyse der Kosten-Nutzen-Relation ganz zu schweigen. Wenn aber Überlebenschance und Lebensqualität einer ganzen Bevölkerungsgruppe nachhaltig gebessert wurde, krähte kein Hahn danach.

      Bekker benetzte seine Hände mit Alkohol aus einem der zahlreichen Wandspender, trat ans Bett und schlug die Decke zurück. Vorsichtig tastete er auf den Bauch neben dem Verband. „Bin ganz vorsichtig“, murmelte er. Alles war weich, keinerlei Abwehrspannung – einwandfrei. Der Patient öffnete die Augen und lächelte schief.

      „Guten Morgen, Herr Professor, Sie schlafen wohl nie?“ Bekker errötete ein wenig, ging aber nicht darauf ein. Er hielt nichts von der Heroisierung des Arztberufes, der ewigen Mär vom nimmermüden Doktor. Er wusste es besser und hatte überdies von manchen seiner Kollegen und sich selbst eine viel zu schlechte Meinung.

      Er deckte den Patienten ordentlich zu, fasste unter der Decke an die beiden Knöchel und nickte zufrieden, „beide warm und schlank.“ Martina Müller erwartete seine übliche Floskel über die Fesseln von Frauen und Pferden, aber diesmal kam nichts.

      „Darmgeräusche?“ fragte Bekker. Die Assistentin schüttelte den Kopf.

      „Na ja, noch ein bisschen früh“, meinte er.

      *

      Bekker war ein Spätentwickler. Auf dem Gymnasium hatte er zwei Klassen wiederholt. Mit Zwanzig machte er Abitur. Da die Durchschnittsnote für das Medizinstudium bei weitem nicht ausreichte, schrieb er sich in der Tiermedizin ein, die damals ohne Numerus clausus auskam. Mit dem ernsthaften Studieren hatte er es ohnehin nicht eilig. Bekker war Außenstürmer eines Eishockeyteams in der ersten Liga und Mitglied der Nationalmannschaft und fürs Studieren viel zu beschäftigt. Er war ein schneller und rücksichtsloser Spieler. Seine Reaktion und seine Spielübersicht waren phänomenal. Sein großer Traum, die Teilnahme am olympischen Turnier, erfüllte sich nicht, da er sich während der Vorbereitung verletzte und zu Hause bleiben musste. Mitten im sportlichen Erfolg und immerhin bereits fünfundzwanzig Jahre alt, beendete er seine sportliche Karriere von einem Tag auf den anderen und begann wenig später mit dem Medizinstudium.

      Von nun an hatte er es eilig. Nach genau zehn Jahren war Bekker Facharzt für Anästhesie und bald darauf Oberarzt an einer Universitätsklinik. Er fand daran nichts Besonderes. Kaum war ein gestecktes Ziel erreicht, trieb ihn die Ungeduld zu weiteren Ufern. Permanent war er auf der Suche nach dem besonderen Kick, fand ihn aber nie. Hatte er früher das sorglose Leben eines verwöhnten Jungen wohlhabender Eltern geführt, so war er nun rastlos, schlaflos und für sein privates Umfeld anstrengend.

      Viele Jahre hatte er keine feste Freundin – er hielt sich selbst für bindungsunfähig und gefiel sich darin. Er liebte die Frauen, traute ihnen aber nicht, so wie sie ihm nicht trauen konnten. Die Kontakte zum weiblichen Geschlecht waren daher auf das Notwendige beschränkt, bei hoher Frequenz und einem latenten Gefühl des Verdrusses, das er nicht einzuordnen wusste. Nähe ließ er nicht zu; er hasste es, wenn Frauen bei ihm übernachten wollten oder ihn nicht aus ihrem Bett ließen.

      Bei Kollegen und Mitarbeitern indes war er überwiegend wohlgelitten. Als Kind aus gutem Hause hatte er tadellose Manieren und war ohne jeden Dünkel, weshalb ihn vor allem die einfachen Leute liebten. An der Uni galt er als Exot, denn er war ein nobler Charakter. Bei der Feier zu seinem fünfunddreißigsten Geburtstag war einer der Kollegen, Dr.