Benno von Bormann

Das Hospital


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schlüpfte in den Vorbereitungsraum. Der Patient war auf dem OP-Tisch gelagert. Heike, die zuständige Anästhesieschwester, hatte bereits eine Infusion sowie EKG und Pulsoxymetrie zur Messung der arteriellen Sauerstoffsättigung angelegt.

      ‚Braves Mädel‘, dachte Zerres. Der Patient, ein athletischer Mann in den Dreißigern, blickte an die Decke und stöhnte leise.

      „Guten Tag“, ein Blick auf das Deckblatt der Karteikarte, „Herr Menzel. Mein Name ist Zerres. Ich bin Facharzt für Anästhesie und werde gleich mit der Narkose beginnen. Dr. Bekker, der Oberarzt kommt in wenigen Augenblicken nach und wird sie dann weiter betreuen. Sie wurden schon von einem Anästhesisten aufgeklärt, und haben eine Einwilligung unterschrieben, nehme ich an?“ Das war eine rhetorische Frage. Zerres hatte die Karteikarte durchgesehen und festgestellt, dass der Patient bereits seit mehreren Stunden im Haus war.

      „Nein, glaube nicht“, ächzte der Patient, „muss das denn sein? Sorry, aber ich habe verfluchte Schmerzen!“ Zerres war dicht vor einem Wutanfall, beherrschte sich aber.

      „Sag mal, Heike“, er wendete sich der Schwester zu, „wann ist der Patient eigentlich zur OP angemeldet worden?“

      „Gar nicht. Den haben sie ohne Anmeldung von der Station in den OP gekarrt. Die OP-Leute hatten auch keine Ahnung.“ In diesem Moment betrat ein weiterer grün gekittelter Mensch den Vorbereitungsraum. Es war Dr. Weiss, einer der jüngeren neurochirurgischen Oberärzte, der sofort Geschäftigkeit verbreitete.

      „Geht’s denn voran?“ fragte er ohne jede Begrüßung. Zerres kochte innerlich, blieb aber ruhig.

      „La rue, die Ruhe, l’avenue, die große Ruhe“, sagte er, „nachdem ihr Euch einen ganzen Tag Zeit für die Diagnose genommen habt, wird doch noch ein halbes Stündchen für die Aufklärung und die Vorbereitung des Patienten übrig sein, gell?“

      „Das wird der Chef aber gar nicht gerne hören.“ Weiss hatte einen falschen, süßlichen Tonfall. Er sagte ‚der Chef‘, als spräche er vom Herrn aller Reußen.

      „Welchen Chef meinen Sie?“ fragte Zerres mit gespielter Ahnungslosigkeit, „ich glaube, es gibt im Klinikum mindestens dreißig solcher Spezies.“ Er hatte begonnen, die nötigsten Befunde aus den Patientenunterlagen in das Narkoseprotokoll zu übertragen und es für den Patienten zur Unterschrift vorzubereiten.

      „Wir sind hier in der Neurochirurgie, Herr Zerres“, Weiss wurde förmlich, „und hier gibt es nur einen Chef. Können sie nun bitte meine Frage beantworten. Schließlich ist das hier eine dringliche Indikation“, er senkte die Stimme und trat näher, „Rupturgefahr. Was das heißt, wissen Sie doch – oder?“ Zerres war es leid. Er straffte sich und trat dicht an den anderen heran, wobei er darauf achtete, dem Patienten den Rücken zuzudrehen. Die Hände hatte er zu Fäusten geballt.

      „Hör zu, Du Arschkriecher, ich hab’ schon Patienten mit intrakraniellem Aneurysma betreut, als Du das erste Mal einen hochgekriegt und Dir bei den Nutten im Stadtwald von Mammi‘s Taschengeld regelmäßig einen Tripper geholt hast. Ihr habt einen halben verfluchten Tag mit den üblichen überflüssigen diagnostischen Spielchen vertan, damit für die nächsten Kongresse auch genug aktuelle Angios und CT-Bilder vorhanden sind. Der OP hatte bis vor zehn Minuten keine Ahnung von einem dringlichen Eingriff. Dein Chef, der es plötzlich so eilig hat, war über Mittag mehr als zwei Stunden bei seinen Rotariern. Ich hab’ ihn selbst vom Hof fahren sehen. Und jetzt bricht plötzlich die große Hektik aus.“ Lauter, förmlich, „Verlassen Sie“, offensichtlich hatte er sich wieder im Griff, „sofort den anästhesiologischen Vorbereitungsraum, oder...“, erneut in Rage, gepresst, leise, „es gibt was auf die Fresse!“

      Das meinte er wörtlich, das wusste jeder, denn Zerres war berüchtigt für seine Wutanfälle, die vor keinem Titel haltmachten, wenn er sich im Recht fühlte. Man hatte ihn deswegen bereits einmal abgemahnt, aber Professor Fritsche, der Leiter der anästhesiologischen Klinik, hielt seine schützende Hand über ihn. Er schätzte Zerres als hervorragenden Anästhesisten und tadellosen Arzt, und schließlich konnte es nach seiner persönlichen Einschätzung nie völlig falsch sein, einem Chirurgen gelegentlich Schläge anzubieten. Das würde er natürlich niemals laut sagen, er war Diplomat. Weiss verließ den Raum, nicht ohne etwas Unverständliches vor sich hin zu murmeln.

      „Ich gehe vor Zeugen davon aus, dass sie mit den notwendigen anästhesiologischen Maßnahmen einverstanden sind, dazu gehören auch das Legen von Kathetern in Venen und Arterien sowie gegebenenfalls die Transfusion von Fremdblut und seinen Bestandteilen. Sollten Sie eine detaillierte Risikoaufklärung wünschen, nicken sie bitte.“ Zerres hatte sich mit gedämpfter Lautstärke erneut dem Patienten zugewandt, der versuchte den Kopf zu schütteln. Auf Zerres Frage antwortete er nicht. Statt dessen fragte er mit gepresster Stimme,

      „Hatten Sie vorhin Bekker gesagte? Der Oberarzt Dr. Peter Bekker?“

      „Ja“, sagte Zerres, „kennen Sie ihn?" ,,Unser Schmuckstück“, fügte er launig hinzu. Der Patient versuchte zu nicken, stöhnte aber nur.

      ‚Dem Jungen geht’s wirklich schlecht‘, dachte Zerres, ‚wie kann man einen solchen Patienten nur so lange liegenlassen? Verdammt, was ist das für ein Scheißbetrieb hier.‘ Er entschloss sich ohne weitere Formalitäten anzufangen, nahm die Maske des Beatmungsgerätes in die Hand, hielt sie dicht über das Gesicht des Patienten und blickte zu der Schwester, die mehrere bis zum Anschlag aufgezogene und mit verschiedenfarbigen Etiketten beklebte Injektionsspritzen wie einen Blumenstrauß in der Hand hielt. Sie sah ihn an und wartete auf das Kommando zur Narkoseeinleitung. Er drehte den Sauerstoffregler auf. Die Maske war jetzt ganz dicht über Mund und Nase des Patienten, und am Gerät zeigten sich die typischen Kurven eines normalen Atemzyklus: Atemwegsdruck, Atemzugvolumen, Sauerstoff- und Kohlendioxydkonzentration in Ein- und Ausatemluft. Zerres beugte sich zum Ohr des Patienten und gab der Schwester ein Zeichen, mit der intravenösen Applikation zu beginnen. Seine Stimme hatte einen weichen Klang, als er flüsterte:

      „Wir helfen Ihnen jetzt. Die Schmerzen sind gleich vorbei. Haben Sie keine Angst, es wird alles gut. Bald sind sie wieder der Alte.“ Das war gelogen, was Zerres nicht ahnen konnte.

       6. Kapitel Städtisches Klinikum

      „Die Frau sitzt in Ihrem Zimmer, Herr Professor. Ich konnte sie schlecht ins Wartezimmer setzten zu all den anderen Leuten – ich hoffe, das ist okay?“

      Bekker nahm seine Sekretärin im Vorübergehen kurz in den Arm als Zeichen, dass er ihre Frage als rhetorisch betrachtete. Vor Betreten seines Zimmers drehte er sich für einen Moment um.

      „Sie sind halt ein lieber Mensch, Gaby. Was würde ich nur ohne sie machen?“ Er lächelte breit, aber sie wussten beide, dass das mehr war als eine freundliche Floskel. Bekker war seit sieben Jahren Leiter der anästhesiologischen Klinik und Gabriele Marx von Anfang an die Chefin seines Sekretariats. Beide hielten sie große Stücke aufeinander und hatten dafür ihre Gründe.

      Bekker betrat sein Arbeitszimmer und schloss leise die Tür. Die alte Frau saß auf einem der beiden im rechten Winkel zueinander angeordneten kurzen Sofas. Sie hatte sich in die äußerste Ecke zurückgezogen, als suche sie Schutz vor etwas Unbekanntem. Als Bekker eintrat, erhob sie sich halb, wurde von ihm jedoch an der Schulter gefasst und mit sanftem Druck niedergesetzt.

      „Bitte Frau Steinmeier, behalten sie Platz.“ Bekker war froh über diese erste Möglichkeit der Berührung. Körperlicher Kontakt bei Gesprächen dieser Art verringerte die Distanz und machte die Sache leichter für beide Seiten. Wem er etwas Wichtiges zu sagen hatte, wen er tadelte, lobte oder tröstete, den musste er anfassen.

      Bekker nahm auf der Innenseite des anderen Sofas Platz, um so seiner Gesprächspartnerin zwar nah zu sein, aber dennoch genügend Distanz für den Blickkontakt zu haben. Für einen kurzen Moment sagte keiner etwas. Die alte Frau hob das Gesicht und sah ihn an. Sie hatte wenig geschlafen und viel geweint, und es schnürte Bekker das Herz zusammen, als er ihren Blick erwiderte.

      Das persönliche Schicksal der Patienten selbst trat im Alltag neben den diagnostischen und therapeutischen Notwendigkeiten zurück. Sie waren komplexe, erkrankte