Benno von Bormann

Das Hospital


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      „Lieber Bekker, bilde Dir nicht ein, dass ich jetzt in die übliche Lobhudelei ausbreche, bloß weil Du auf dem Weg bist, ein alter Knacker zu werden.“ Er nahm einen tiefen Schluck. „Ich will Dir vielmehr endlich einmal sagen, warum Du hier fehl am Platze bist, völlig fehl.“ Er lallte bereits ein wenig, und einige der Gäste tauschten irritierte Blicke aus. „Du befindest Dich, mein lieber Bekker“, alle nannten ihn Bekker, manche kannten nicht einmal seinen Vornamen, obwohl sie ihn duzten, „falls Du es noch nicht bemerkt haben solltest, an einer deutschen Universitätsklinik. Ihr Deutschen seid ja so tüchtig und so gründlich – Prost.“ Wieder trank er. „Und ehrgeizig! Und an so einer Uni geht’s ab, oder? Da wird getrickst und geschoben, dass es nur so kracht. Anwesende sind ausdrücklich nicht gemeint.“ Er wippte auf den Zehenspitzen und ein wenig Rotwein schwappte auf den Teppich.

      „Huh, Sorry – ach egal. Also Bekker, was willst Du hier? Du hast an einer Deutschen Universitätsklinik weiß Gott nichts verloren. O ja, Du bist ein toller Hecht und schreibst eine nobelpreisverdächtige Arbeit nach der anderen. Ha, ha, kleiner Scherz. Spaß beiseite, Leute. Ich meine es ernst. All dies unbenommen, fehlen Dir die wirklich wichtigen Eigenschaften für eine deutsche Karriere. Nicht böse sein, liebe Leute. Bin ja nur ein betrunkener alter Indianer.“ Er lachte, und die anderen lachten mit. Das war ‘mal etwas anderes.

      „Du bist also an einer Deutschen Universität, um die höheren Weihen zu erfahren. So ist es doch? Aber wie soll das gehen? Du verleumdest keine Kollegen, kriechst dem Chef nicht von morgens bis abends in den Arsch, vögelst keine Schwesternschülerinnen, Hebammen und andere Abhängige, stiehlst und fälschst keine Daten, bescheißt die Verwaltung nicht mit getürkten Überstunden, arbeitest tatsächlich jeden Tag im OP und schreibst auch noch einen Haufen Paper nebenher. Was also, verflucht noch mal, willst Du eigentlich hier? Willst Du uns zeigen, was für Pflaumen wir sind? Oder was für Scheißkerle? Ich habe meine eigene Lösung zu dem Rätsel. Entweder bist Du ein verdammt anständiger Kerl oder ein besonders raffinierter Schuft. Jedenfalls bist Du mein Freund, komm her, laß Dich abknutschen – aber nur wenn ich ein Stück von Deinem Heiligenschein abbekomme.“

      Er umarmte den Verdutzten, und die Gäste johlten und trampelten. Bekker war der Auftritt im ersten Moment peinlich. Öffentliches Lob machte ihn verlegen. ‚Wenn Du wüsstest‘, dachte er nur.

      Seinen Werdegang trieb er konsequent voran. Er war unpolitisch, unbestechlich und schaffte es, sich aus den üblichen Eifersüchteleien und Ränkespielen des Universitätsbetriebes konsequent herauszuhalten. Er war hilfsbereit, freundlich zu jedem und verabscheute die opportunistischen Emporkömmlinge, die ihm auf Schritt und Tritt begegneten, zutiefst. Wegen seiner unbedingten Zielstrebigkeit galt er als Karrierist, was ihm schmeichelte und lieber war als das Image des sorglosen Müßiggängers aus früheren Tagen. Es passte zu ihm, dass er das Eishockeyspielen, vor nicht langer Zeit noch sein Lebensinhalt, vollkommen aufgegeben hatte. Er schaute sich die Spiele nicht einmal im Fernsehen an. Diese Zeit war vorbei. Basta!

      *

      Das zweite Boxenbett war mit einer älteren Patientin belegt. Beatmet, tracheotomiert, Bauchlage.

      „Frau Speth, zweiundsiebzig Jahre.“ Melanie Müller machte eine kurze Pause, um Bekker die Möglichkeit zu geben, die Vorstellung abzukürzen.

      „Ich kenne die Patientin“, sagte der. Die Leidensgeschichte der Frau sollte nicht zum wiederholten Mal in epischer Breite vorgetragen werden.

      „Zustand nach Perforation des Dickdarms in Höhe des Sigmas wegen eines bösartigen Tumors. Laparotomie, äh, Eröffnung des Abdomens mit OP nach Hartmann.“

      Bekker rümpfte in einer unbestimmten Geste der Missbilligung kaum merklich die Nase, was der Vortragenden verborgen blieb.

      „Nach Verlegung auf Normalstation Rückkehr auf Intensiv am siebten Tag mit akutem Bauch. Die Operation kam leider etwas spät – ist aber kein Vorwurf. Die Symptomatik hängt bei alten Menschen ja bekanntermaßen ziemlich nach.“ ‚Brav‘, dachte Bekker belustigt. „Massive kotige Peritonitis. Patientin ist zunehmend septisch und hoch katecholaminpflichtig.“

      Bekker war der Verlauf bestens bekannt, denn er war bei der zweiten Operation dabei gewesen und hatte die fünf Liter jauchige Brühe, die aus dem Bauch der Patientin in die Sauger gelaufen waren, noch in der Nase.

      „Die Leber tut’s auch nicht mehr lange, sämtliche Syntheseparameter sind pathologisch. Das sieht schlecht aus.“

      Was nach einer vorschnellen saloppen Prognose aussah, war nichts weiter als das Resultat logischen Denkens, weshalb Bekker nicht weiter kommentierte. Sie hatte völlig recht. Die Patientin war in seinen Augen bereits mausetot, auch wenn sie noch lebte. Sie lag dort mit ihren Schläuchen und Verbänden, ihrem aufgequollenen Gesicht und diesem unverwechselbaren Verwesungsgeruch als Ergebnis einer Medizin, die Bekker, der das alles schließlich anordnete, im tiefsten Inneren als pervers und unmenschlich empfand. Statt im Kreis von Menschen, die ihr nahestanden, in Würde zu sterben, lag sie hier als vermodertes Kunstprodukt therapeutischen Aberwitzes.

      „Aha“, sagte Bekker. Nichts sonst. Obwohl er gern und gut redete, bevorzugte er gelegentlich die schweigsame Variante.

      „Das größte Problem bei der Frau aber ist der Bauch, totenstill, maximal gebläht und hart wie Stein. Der ist nicht wirklich saniert. Was wir hier machen ist rein symptomatisch.“ Bekker war vollkommen ihrer Meinung, dennoch fragte er, „Was sagen die Chirurgen?“ Die Frage war rhetorisch.

      „Na ja“, die Assistentin neigte den Kopf zur Seite, „die sind natürlich auch nicht glücklich. Aber eine weitere Operation scheidet aus. Technisch unmöglich. Andererseits wollen sie natürlich, dass wir volle Pulle weitermachen. Wahrscheinlich hoffen sie, dass die Lunge endgültig einbricht und wir eine nichtchirurgische Todesursache haben.“

      Sie hatte Recht, und dennoch war ihr Urteil vorschnell. Operationen konnten schief gehen, gerade bei Tumorpatienten und gerade am Dickdarm. Andererseits, kein Operateur mit Blut in den Adern gibt gerne einen Patienten auf; mögen die Fakten noch so eindeutig sein.

      Sie setzten die Visite fort. Außer einem jungen Mann, der gegen ein Uhr nachts mit einer Messerstichverletzung eingeliefert und sofort operiert worden war, kannte Bekker die restlichen Patienten. Alle Betten waren belegt, und es galt auszuwählen, wer verlegt werden konnte, um Platz zu schaffen für den akuten Tagesbedarf des operativen Betriebes.

      4. Kapitel

      Universitätsklinik

      Jürgen Menzel hatte allein zu Abend gegessen. Er war wegen des Handballtrainings später nach Hause gekommen, aber seine Frau hatte ohnehin eine Verabredung mit ihren Freundinnen. An Weiberfastnacht zog sie wie immer mit den anderen ‚Möhnen’ um die Häuser. Früher als Single war das auch für ihn ein Festtag gewesen – nirgends gab es einen besseren Aufriss. Aber heute? Viel zu mühsam! Außerdem war er verheiratet und treu, auch wenn seine Kumpel, die sahen, wie ihn die Frauen anschmachteten, ihm nicht glaubten.

      Menzel war in der Tat ein Frauentyp, ein athletischer Mann von vierunddreißig Jahren, gelernter Schreiner, der sich mit seiner Frau und einem Freund zusammen eine kleine Firma als Zulieferer für die Hersteller von Fertighäusern aufgebaut hatte. Das Unternehmen war überaus erfolgreich, was vor allem mit Menzels besonderer Begabung zusammenhing, komplexe Probleme von Statik und Design zu erfassen und überraschende Lösungen zu finden.

      Sport hatte bei ihm immer eine besondere Rolle gespielt. Schon in der Schule gab es kaum eine Disziplin, in der er nicht der Beste war oder in der Spitzengruppe. Seine eigentliche Leidenschaft aber war die Leichtathletik, und hier der Zehnkampf. Inzwischen fehlte dafür längst die Zeit. Geblieben waren der Hallenhandball und das Laufen. Meistens lief er vor dem Frühstück und traf sich dazu sehr früh mit seinem Freund Peter Bekker, der ebenfalls Frühaufsteher war und ehemaliger Leistungssportler wie er. Das Handballspiel ließ sich mit der Beanspruchung des Alltags vereinbaren. Trainiert wurde abends; die Ligaspiele fanden ausschließlich Sonntags statt.

      In letzter Zeit litt er öfters unter Kopfschmerzen, die sich unvermittelt und ohne jede Ankündigung einstellten. Am letzten