Benno von Bormann

Das Hospital


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wann sollte er das machen? Es wusste doch jeder, wie lange man in den Wartezimmern der Doktoren herumsaß. Menzel sah kurz in seinen Computer, um die Aufträge für morgen abzuchecken. Die Firma lief rund, sie hatten gut zu tun. Kurz darauf ging er zu Bett und schlief sofort ein.

      Es war fünf Uhr morgens, und gerade hatte die Turmuhr der nahegelegenen Kirche geschlagen, als er erwachte. Er tastete nach dem Schalter und machte das Licht an, kniff geblendet die Augen zusammen und suchte nach den Kapseln auf dem Nachttisch. Die Kopfschmerzen waren unerträglich. Das Licht, die Bewegungen, selbst das Atmen schienen den Druck in seinem Schädel zu vergrößern und mit ihm die wellenförmigen Schmerzattacken, die sich ungebremst direkt ins Gehirn fortsetzten, als wollten sie es von innen zum Bersten bringen. Er stöhnte, fasste mit immer noch geschlossenen Augen nach dem Medikament und drückte die Kapsel mit dem Daumen durch die Folie. Durch seinen linken Arm lief ein schwaches Kribbeln, gefolgt vom einem merkwürdigen Taubheitsgefühl. Die Finger verloren ihre Kraft, und die Tablette fiel auf den Boden.

      „Verdammt“, sein Arm gehorchte ihm nun gar nicht mehr. Die Schmerzen paralysierten ihn und trieben ihm Tränen in die Augen. Hilflos ließ er sich zurückfallen. Er atmete flach, in der Hoffnung, es werde vorübergehen. Seine Frau hatte sich herumgedreht, aber nicht aufgerichtet; die Augen waren geschlossen. Auf Ihrer rosigen Wange war das Muster des Kissenbezugs abgebildet.

      „Ruth?“ Ein Wispern. Kaum mehr. „Bitte Schatz, wach auf.“ Er lallte jetzt, aus dem Mundwinkel lief unkontrolliert Speichel. Seine Frau öffnete die Augen, blieb aber immer noch liegen.

      „Was denn?“ murmelte sie, kurz davor, wieder einzunicken, „wieder die blöden Kopfschmerzen?“ Sie rührte sich noch immer nicht. Drehte lediglich ihren Kopf mühsam nach oben, sodass ihr Blick sich peu à peu an dem halb sitzenden Mann emporzog. Sie blickte ihm ins Gesicht, setzte sich ruckartig auf und fasste den Röchelnden bei den Schultern.

      „Jürgen, um Gottes Willen, was ist denn? – Jürgen!" Sie versuchte ihn an sich zu ziehen wie ein Kind, das man trösten möchte, aber er stöhnte nur, versuchte zu sprechen.

      Alles, was er herausbrachte, war „Aua, Aua“, tatsächlich wie ein Kind. Gleichzeitig versteifte sich sein Oberkörper, entwand sich ihrer hilflosen Umarmung.

      „Deine Tabletten“, sie sprang aus dem Bett, lief herum zu seiner Seite und fand die offene Packung. Ein Glas Wasser hatte er nachts immer an seiner Seite stehen, und sie versuchte nun, ihm die Tablette mit etwa Flüssigkeit einzuflößen. Sein rechter Mundwinkel hing schlaff herab und gehorchte nicht, sodass ein Teil der Flüssigkeit aus dem Mund auf das Kissen lief. Er versuchte die Tablette zu schlucken, geriet jedoch in einen quälenden Hustenanfall und spuckte dabei das Medikament wieder aus. Der Kopfschmerz war nun unerträglich. Vor seinen Augen begann es zu flimmern. Er würgte grüne Galle hervor. Das Stöhnen ging in ein Keuchen über, dann in ein unkontrolliertes Schluchzen. Ruth rannte zum Telefon auf dem Flur.

      „Ich ruf den Krankenwagen, Schatz.“ Er rührte sich nicht, in seinem Kopf tobte ein vernichtender Schmerz. Seine Frau kehrte aus dem Flur zurück und kniete nun vor seinem Bett, während der kräftige junge Mann, überwältigt von Schmerz und Angst, zusammengekauert auf der Seite lag und weinte. Wenig später verließ der Notarztwagen die Straße Richtung Universitätsklinik. Nichts würde je wieder so sein, wie es einmal war.

       5. Kapitel Universitätsklinik

      „Notfall... bei den Nussknackern... privat!“, schrie Zerres über den Flur und versuchte damit das Getöse von herumlaufenden Patienten, Schwestern, Besuchern und umher geschobenen Betten zu übertönen. Bekker, Oberarzt und zuständig für die Neurochirurgie, nickte zum Zeichen, dass er verstanden habe.

      „Fangen Sie schon mal an und nehmen sie einen von den AiPlern dazu. Peters müsste frei sein. Muss eben kurz zum Chef rein und komme sofort nach.“ Er öffnete eine Tür, ohne eine Antwort abzuwarten, und verschwand. Zerres machte kehrt und schritt eilig mit wehendem Kittel Richtung Operationstrakt.

      ‚Mist‘, dachte er, ‚natürlich, immer am Freitagnachmittag. Ich habe seit vierzig Minuten Feierabend, verdammt noch mal. Kann der Bekker nicht gleich in den OP gehen, der Chef kann doch warten, oder strickt er wieder an seiner Karriere – dämliche Wissenschaftsscheiße!‘ Eigentlich mochte er Bekker. Der machte zwar genauso Karriere wie der Rest der habilitationsgeilen Bagage, aber nicht auf dem Rücken von anderen. Außerdem war er zwar für die Neurochirurgen zuständig, hatte aber ebenso wenig Bereitschaftsdienst wie er. Wenn er schlau war, würde er sich schnellstmöglich den diensthabenden Oberarzt herbei pfeifen.

      Zerres war angefunkt worden, als er auf dem Weg zu seinem Schrank in der anästhesiologischen Umkleide gewesen war. Normalerweise wurde nach sechzehn Uhr der erste Hausdienst alarmiert, aber der schien anderweitig festzustehen, offenbar bei den Herzchirurgen mit einer Notmaschine. Die bekamen den Hals auch nie voll. Gut möglich, dass der diensthabende Oberarzt dort auch feststand, dann war Bekker gekniffen. Erst einmal aber hatte es Zerres als einen der Neuroanästhesisten getroffen.

      Zerres war nichthabilitierter Altassistent mit mehr als fünfzehn Jahren Anästhesieerfahrung, ausschließlich an der Uni. Dadurch kannte er so ziemlich alles, was die operative Medizin zu bieten hatte, von der kombinierten Herz-Lungen-Transplantation bis zum Sechshundert-Gramm-Frühgeborenen mit angeborenem Herzfehler.

      Er zog die grüne OP-Kleidung an und verstaute seine weißen Sachen im Schrank. Wertsachen nahm er mit – es kam viel weg in letzter Zeit, auch aus doppelt gesicherten Schränken. Er betrat den Flur, der bogenförmig die ersten zwölf Operationssäle umspannte. Von hier gelangte man in den jeweiligen Einleitungsraum, wo die Patienten vom Anästhesisten für die Operation vorbereitet, im Jargon ‘verrohrt‘ wurden. Die leitende Anästhesieschwester, eine aufgetakelte Kunstblondine undefinierbaren Alters, kam ihm entgegen.

      „Saal sechs“, sagte sie kurz, „junger Patient mit Ruptur gefährdetem Aneurysma. Scheint schon zu bluten, jedenfalls geht’s dem echt dreckig. Seine Eminenz ist auch schon da. Wünsche viel Vergnügen.“

      Sie rauschte davon. Der Operateur war demnach bereits vor Ort, und zwar der Chef der neurochirurgischen Klinik persönlich. Zerres fluchte innerlich. Auch das noch. Kritischer Patient und ungeduldiger Operateur, der Albtraum eines jeden Anästhesisten, vor allem wenn der Operateur Professor Dr. med. Dr. h.c. mult. Ernst Brücher hieß. Nach Zerres Meinung, und damit stand er nicht alleine, war Brücher ein cholerischer Menschenschinder und Überbleibsel einer Medizinepoche, in der Klinikchefs absolute Macht besaßen, außerhalb jeglicher Kritik standen und außerhalb des Rechts sowieso. Patienten und Klinik waren für sie persönliches Eigentum, das sie nach Gutsherrenart verwalteten. Mitarbeiter wurden systematisch ausgepresst und bis aufs Blut drangsaliert. Für tausende geleistete Überstunden erhielten sie von Ihrem Chef, dessen Millionen zum großen Teil von ihnen verdient worden waren, nichts! Zum Jahresende gab es einen warmen Händedruck und eine schwülstige Belobigung. Eine Weihnachtsfeier, wenn’s hoch kam, natürlich von einer Firma gesponsert.

      Brücher war bereits sechsundsechzig Jahre alt. Als weltweit anerkannte Kapazität seines Fachgebiets verfügte er über beste politische Verbindungen in nah und fern, und keiner hatte es bisher gewagt, ihm die Emeritierung, was hieß, den Rücktritt als Chef der Klinik und als Inhaber des neurochirurgischen Lehrstuhls anzutragen, obwohl er diskrete Zeichen beginnender Senilität aufwies. Sein Dienstvertrag war ohne Umstände von fünfundsechzig auf achtundsechzig Lebensjahre verlängert worden, gegen den Trend.

      Operateure haben durch die Art ihrer Tätigkeit einen höheren Verschleiß, als dies für konservative Fachgebiete zutrifft. Das liegt zum einen an der enormen körperlichen Belastung. Zum anderen muss sich ein Chirurg, wie kein anderer Arzt, unmittelbar mit Fehlschlägen und Misserfolgen auseinandersetzen. Starke Persönlichkeiten wachsen daran. Andere versuchen den Druck abzuwälzen. Aus einem latenten Gefühl der Ohnmacht entstehen je nach Charakter und familiärer Prägung des Einzelnen, Resignation oder Aggression, mit der Folge permanenten Machtmissbrauchs, unterstützt und gefördert durch ein inkompetentes, devotes Umfeld.

      Die kommunalen und konfessionellen Kliniken begrenzten die Chefarztverträge in den operativen Fachgebieten schon lange auf ein maximales