Benno von Bormann

Das Hospital


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er nannte den Namen einer Stadt, die ihm gerade einfiel und die in der Nähe ihres Heimatortes lag, denn er wusste ganz genau, wo sie wohnte, „ich halte dort heute abend einen Vortrag über Bluttransfusionen.“ Er führte das Thema weiter aus, um glaubwürdig zu wirken, denn er wollte die alte Frau nicht beschämen.

      „Ich kann Sie zu Hause absetzen, ist so gut wie kein Umweg.“ Sie wollte protestieren, sagte aber nur,

      „Sie haben ja noch Ihren Kittel an, Herr Professor.“ Sie gingen in sein Büro zurück und von dort zu seinem Wagen. Er redete unaufhörlich, um ihr die Situation zu erleichtern. Sie sagte nichts. Sie wusste, dass er log. Die alte Frau war nicht gebildet, aber sie konnte unterscheiden zwischen Gefälligkeiten, die man ablehnt und solchen, die man annimmt.

      „Leider hat die Lunge dann erneut Probleme gemacht“, fuhr Bekker fort. Genaugenommen hatte die szirrhotische Leber endgültig ihren Geist aufgegeben, das Lungenversagen war nur die logische Folge des allgemeinen Verfalls. Bekker hatte die vorgeschädigte Leber in ihren Gesprächen stets taktvoll ausgespart. Der junge Mann hatte nicht nur exzessive Mengen Alkohol, sondern auch allerlei Drogen konsumiert und das Organ dadurch ruiniert. Aber was machte es für einen Sinn, auf solchen Details herumzureiten und der alten Frau das Herz noch schwerer zu machen? Als Folge eines zunehmenden Mangels an immunologischen Abwehrstoffen entwickelte sich eine generelle Entzündungsreaktion, die man als Sepsis bezeichnete. Die Therapie in den letzten Wochen war rein symptomatisch gewesen.

      Der Patient verdaute sich praktisch selbst. Nach Bekkers Überzeugung hätte man längst aufhören können. Aufhören müssen. Aber das durfte man in Deutschland, dem Kernland der Pharisäer und Bedenkenträger nicht einmal andeuten. Der Patient war jung und er hielt noch eine ganze Weile durch. Vor zwei Tagen wurde der Zustand so kritisch, dass Bekker und der Chefarzt der chirurgischen Klinik darüber debattierten, die Therapie einzustellen. Schließlich entschloss man sich wegen des jugendlichen Alters, ihn gegen alle wissenschaftliche Vernunft zu operieren. Genau genommen setzte der Chirurg sich durch. Das in solchen Fällen allgegenwärtige Totschlagargument mit der berühmten ‚letzten Chance, die der Patient verdient hat’ wurde bemüht. Bekker war ausdrücklich dagegen, musste jedoch nachgeben. Es war ein chirurgischer Patient und der Chirurg hatte das letzte Wort.

      „Wir wollen versuchen, das ganze verdaute und zerstörte Gewebe, mit dem der Bauch voll ist, und die Wundflüssigkeit zu entfernen und Drainagen zu legen, damit das in Zukunft besser abfließen kann“, wurde der Mutter erklärt. Als der Bauch auf war, quollen den Operateuren fast fünfzehn Liter einer übelriechenden Brühe entgegen, voller undefinierbarer Gewebefetzen. Regelrechte Organstrukturen ließen sich nicht erkennen, alles war mit gelbem oder hochrotem reaktivem Gewebe überzogen, die Darmschlingen grotesk auf das Vielfache ihres normalen Kalibers aufgebläht und so verklebt, dass man sie nicht mehr voneinander lösen konnte, ohne sie zu zerreißen. Alle am Tisch wussten, was das bedeutete. Bekker war nicht sonderlich überrascht. Als der Patient auf die Intensivstation zurück transportiert wurde, war sein Zustand schlimmer denn je.

      Die alte Frau war über Nacht geblieben. Die Schwestern der Nachtschicht hatten sie gegen zwei Uhr morgens resolut in ein freies Bett verfrachtet mit dem Versprechen, sie bei der kleinsten Verschlechterung sofort zu wecken. Dort hatte Bekker sie morgens bei seiner Frühvisite gegen halb sechs in tiefem, erschöpftem Schlaf vorgefunden.

      „Er wird sterben, Herr Professor, nicht wahr?“ Es war das erste Mal, dass sie es aussprach, und es war eine Feststellung, keine Frage. Sie hatte bis zuletzt gegen jede Vernunft gehofft, erwartete von Bekker aber nun, keine Zeit zu vergeuden, die sie ihrem sterbenden Kind noch geben wollte.

      „Ja“, sagte er. In seinem Hals war ein Kloß, „sehr bald“, das wollte sie schließlich von ihm wissen, „sehr bald“, wiederholte er und wünschte, er wäre ganz woanders.

      Sie straffte sich. Nie war sie ihm so zierlich vorgekommen und so zerbrechlich. Er ging zu ihr und nahm ihren Arm, um ihr aufzuhelfen. Sie sah ihn lange an.

      „Das war ein langer Weg, nicht wahr, Herr Professor?“, sagte sie leise.

      ‚Verflucht, was machst Du mit mir?‘, dachte Bekker. Er spürte, dass sie dabei waren, die Rollen zu tauschen. Er war plötzlich schwach, und sie war so stark, wie er es nie sein würde. Er wusste nicht, was er sagen sollte, obwohl sein Herz überquoll vor tiefer Sympathie und vor Mitgefühl für diese schlichte, kleine Frau, die gerade das Liebste verlor, das sie noch hatte.

      „Meinen Sie, ich könnte mit meinem Sohn allein sein, wenn“, sie stockte und konnte nicht weitersprechen.

      „Natürlich, selbstverständlich“, Bekker machte einen Schritt auf die Tür zu, um mit ihr nach oben zu gehen und alles zu arrangieren.

      „Vielleicht können sie das von hier organisieren, wenn das nicht zu mühsam ist.“

      ‚Mein Gott, was sollte denn mühsam sein. Oben stirbt Dein Kind und Du sorgst Dich um meine Mühe‘, dachte Bekker wild.

      „Ich möchte mich gerne hier von Ihnen verabschieden, Herr Professor Bekker.“ Sie sprach mit einer fremd anmutenden Förmlichkeit.

      „Ich möchte mich bei Ihnen und Ihren Mitarbeitern bedanken für alles, was sie für meinen Jungen getan haben“, nach einer kurzen Pause, „und für mich. Ich bin ein einfacher Mensch und das Reden nicht gewohnt“, sie nestelte ein Taschentuch aus ihrer Manteltasche, um sich die Nase zu schnäuzen.

      ‚Du bist mehr als die meisten mit Titeln und Fürstentümern‘, dachte Bekker. Er war aufgewühlt bis in die tiefsten Tiefen seiner Seele.

      „Ich kann natürlich nicht beurteilen, ob Sie ein guter Arzt sind, aber ich weiß, dass Sie ein guter Mensch sind, und das ist in Ihrem Beruf vielleicht das Wichtigste.“ Die letzten Worte hatte sie nur noch geflüstert. Sie gaben sich förmlich die Hand. Bekker verzichtete auf Beileids- oder Betroffenheitsfloskeln. Es war alles gesagt. In der Tür drehte sie sich noch einmal um und sah ihn mit dem Anflug eines spitzbübischen Lächelns an.

      „Ich weiß, dass sie geschwindelt haben, damals“, sagte sie, „sie hatten gar keinen Vortrag.“ Sie ging hinaus.

      Er setzte sich und dachte nach. Er dachte an den sterbenden jungen Mann, einen Riesenkerl, mit seinen Schläuchen und Monitoren und der Mutter, die seine Hand streichelte. Bekker hatte in den zurückliegenden Wochen viel über ihn erfahren, aber wenig Positives. Er war ein schwerer Trinker, gewalttätig und arbeitsscheu. Das Geld, das seine Mutter von ihrer kleinen Rente abzweigte und ihm zusteckte, nahm er, und wenn sie nicht hinschaute, bestahl er sie. Aber Liebe fragt nicht nach Wert und Unwert, nach Warum und Wieso, nach Rang und Verdiensten. Konnte ein Mensch wirklich schlecht sein, der so geliebt wurde? Bekker stand auf und fuhr sich durchs Haar.

       7. Kapitel Universitätsklinik

      Bekker war bereits auf dem Weg zur Umkleide, als sein Funk piepte. Sein Gespräch mit Professor Fritsche hatte etwas länger gedauert. Fritsche kam gelegentlich ins Schwafeln. Meist ging es um irgendwelche ehrgeizigen Forschungsprojekte, manchmal aber auch nur um banalen Kliniktratsch, denn Fritsche war immer begierig zu erfahren, was an der Basis passierte und über wen was geredet wurde. Bekker war allerdings für beide Bereiche der falsche Ansprechpartner. Die Eifersüchteleien und Affären in der Klinik scherten ihn wenig. Seine Habilitationsschrift hatte er abgegeben, nachdem Fritsche sie kritisch durchgesehen und für gut befunden hatte. Das interessierte ihn derzeit am meisten. Die zustimmenden Gutachten lagen vor. Auch die ersten vier von insgesamt fünf Sachverständigen hatten sich durchweg positiv geäußert. Grundlagenforschung und ehrgeizige wissenschaftliche Projekte waren nicht sein Ding. Das hatte er Fritsche mehrfach klargemacht, auch wenn der es nicht wirklich akzeptierte. Er hielt Bekker für eine Art ungeschliffenen Diamanten, und da er noch keinen seiner leitenden Mitarbeiter auf einen Lehrstuhl hatte hieven können, hegte er große Hoffnungen, dass es mit diesem nun endlich gelingen könnte. Bekker jedoch strebte eindeutig keine Universitätskarriere an, und es tat ihm manchmal ein wenig leid für Fritsche, dessen Intentionen niemandem verborgen bleiben konnten.

      Dabei hätte Bekker einige gute Voraussetzungen zur Besetzung eines Lehrstuhls mitgebracht. Er war ein glänzender