Benno von Bormann

Das Hospital


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geschah in erster Linie im Dialog mit den Angehörigen. Bekker hatte deren Betreuung vom ersten Tag seines Amtsantritts an höchste Priorität eingeräumt und damit die bisherigen Gepflogenheiten radikal verändert. Für eine verzweifelte Mutter, einen Bruder, eine Ehefrau musste immer Zeit sein. Das war Gesetz, dem sich Bekker mit aller Zeit der Welt selbst unterwarf.

      Die alte Frau knetete ihre Hände, so dass die Knöchel weiß hervortraten.

      „Herr Professor“, ihre Stimme stockte, „was ist mit meinem Jungen? Ich hatte geglaubt, dass die Operation ihm hilft?!“ Das waren Frage und Antwort in einem. Sie war eine einfache Frau, hatte aber nach Bekkers Einschätzung Einiges an Lebenserfahrung und praktischer Klugheit, die anderen fehlte. Sie wusste, dass es um ihren Sohn schlecht stand und versuchte nun, die Zusammenhänge zu begreifen. Sicher hoffte sie auch auf ein kleines Zeichen der Zuversicht, einen Strohhalm, dass vielleicht doch noch nicht alles verloren wäre.

      Bekker räusperte sich, um Zeit zu gewinnen. Er sprach nicht zum ersten Mal mit ihr. Auch die zuständigen Mitarbeiter der Intensivstation hatten sich hingebungsvoll um sie gekümmert. Ihr Sohn wurde seit sechzehn Wochen behandelt. Er war dreißig Jahre alt und ein schwerer Trinker, der wegen einer nekrotisierenden Pankreatitis, einer Erkrankung, bei der die Bauchspeicheldrüse sich selbst und die umliegenden Organe sukzessive zersetzt, intensivmedizinisch behandelt wurde. Die Therapie war symptomatisch, da es keine Möglichkeit gab, die Erkrankung kausal zu bekämpfen. Die meisten Patienten starben bereits nach wenigen Tagen, egal was man machte.

      Dieser hier war zäh. Seit mehr als neun Wochen lag er im künstlichen Koma und wurde über einen Luftröhrenschnitt, ein Tracheostoma, künstlich beatmet. Jeden Tag kam seine Mutter, um ihn zu besuchen. Dazu fuhr sie von ihrem Heimatort eine knappe Stunde mit der Bahn und noch einmal fünfzehn Minuten vom Bahnhof mit der Straßenbahn zur Klinik – abends dann zurück. Anfangs hatte sie im Vorraum der Intensivstation gewartet. Ihr Zug kam so früh an, dass sie sich eine Stunde vor dem offiziellen Beginn der Besuchszeit bereits im Krankenhaus befand. Sie war Bekker einige Male bei einer seiner Kurzvisiten, die er spontan und ohne feste Zeiten durchführte, aufgefallen. Schließlich hatte er sich danach erkundigt, was es mit der alten Frau auf sich habe, der er immer wieder vor der Station begegnete, wie sie an der Wand lehnte, offensichtlich bemüht, niemanden zu belästigen.

      Bekker war ein sentimentaler Mensch, der im Kino heulte oder bei der Sterbeszene von ‘La Traviata‘, selbst wenn es nur aus dem Radio kam. Es schnitt ihm ins Herz als es hieß, dass die alte Frau lediglich den Beginn der Besuchszeit abwartete und es offenbar nicht wagte, eine gesonderte Regelung für sich zu erbitten. Von diesem Tag an konnte sie kommen, wann sie wollte, und seine Tür stand ihr immer offen, wovon sie wenig Gebrauch machte. Bekker regte an, dass man ihr Kaffee anbot, oder ein belegtes Brot. Das war aber nicht nötig, denn darauf waren seine Mitarbeiter längst von selbst gekommen, trotz der Hektik. Bekker war nicht der einzige barmherzige Samariter in der Klinik.

      „Ihrem Sohn geht es heute leider wieder erheblich schlechter“, begann Bekker, „Sie wissen, dass ich in die Operation von Anfang an nicht sehr viel Hoffnung gesetzt habe.“

      ‚Das wird sie kaum trösten, was für ein Scheißanfang‘, dachte er im gleichen Moment, fuhr aber fort, da er ihren irritierten Blick bemerkt hatte, „andererseits musste“, er betonte das letzte Wort, „musste man diesen Eingriff wagen, sonst wäre er bereits tot. Früher hat man bei dieser Erkrankung immer operiert, und die Patienten sind alle gestorben. Deshalb wird heute immer konservativ vorgegangen und nur im äußersten Notfall chirurgisch. Aber das ist und bleibt eigentlich nie mehr als ein verzweifelter Versuch. Ihr Sohn lebt nur noch, weil er jung ist und Reserven hat.“

      All das hatte er bereits etliche Male erklärt, aber hier tat er es gern. Gleichzeitig fühlte er, dass das Gespräch nun forciert werden musste, da nach seiner Einschätzung der Tod des jungen Mannes nur noch eine Frage von Stunden war.

      „Sehen sie, Frau Steinmeier, es ist ja nicht nur die Bauchspeicheldrüse, es sind inzwischen beinahe alle lebenswichtigen Organe mehr oder weniger stark angegriffen und geschädigt.“ Sie nickte, und ihre Schultern sackten noch ein wenig tiefer.

      „Sie wissen ja, wie es losging, Frau Steinmeier. Die schrecklichen Leibschmerzen, das Erbrechen. Der Grund dafür war die entzündete Bauchspeicheldrüse, Pankreatitis sagen wir dazu – damit’s keiner versteht“, fügte er mit dem hilflosen Versuch eines Scherzes hinzu.

      „Die Bauchspeicheldrüse sorgt mit ihren Sekreten und Enzymen, also den ganzen Säften, die sie in den Darm absondert, dafür, dass die Speisen verdaut werden. Diese Säfte sind sehr aggressiv, wie Salzsäure müssen sie sich das vorstellen. Im Darm ist das okay. Der ist geschützt und die Nahrung kann nur so verdaut werden. Bei Ihrem Norbert ist nun in dieser Drüse ein Schaden entstanden, wie wenn ein Heizungsrohr platzt und das Wasser in die Wand läuft. Hier laufen die aggressiven Säfte in das Drüsengewebe, so dass sich das Organ praktisch selbst angedaut hat und die Sekrete in die Umgebung gelaufen sind. Dadurch wurden andere Organe schwer geschädigt, vor allem der Darm und das Bauchfell. Sie müssen sich das wie eine innere Verbrennung vorstellen.“ Bekker hielt kurz inne, der Vergleich passte. Das würde die Frau verstehen.

      „Der Körper kommt dabei in eine Art Schockzustand. Der Darm hört auf zu arbeiten, das heißt, er bewegt sich nicht, ist wie gelähmt. Speisen und Sekrete werden nicht mehr transportiert und verarbeitet. Die Massen verschiedener Bakterien, die normalerweise das Essen zersetzen, vermehren sich auf das Zigfache und beginnen durch die Darmwände in andere Organe einzuwandern, vor allem in Lunge und Bauchfell. Diese Infektionen sind ihrerseits lebensbedrohlich. Das Krankheitsbild wird also potenziert und für die Ärzte beginnt ein Kampf an vielen Fronten. Leider gewinnen wir diesen Kampf nur selten.“ Ehrlicher wäre gewesen zu sagen, ‚…gewinnen wir nie’. Bekker erinnerte sich an keinen vergleichbaren Fall, wo der Patient überlebt hätte.

      „Wegen der Beteiligung der Lunge hat es bei ihrem Sohn von Anfang an so große Probleme mit der Luft gegeben, Sie erinnern sich?“

      Die alte Frau nickte langsam. Sie hatte lange nicht verstanden, warum eine Erkrankung im Bauch zu einer so schweren Atemnot führen kann.

      „Na ja, zwischendurch sah’s ja mal beinahe gut aus. Wir hatten Hoffnung, die Krankheit in den Griff zu bekommen.“ Das war erneut gelogen. Bekker hatte zu keinem Zeitpunkt eine solche Hoffnung gehabt. Er schwieg einen Moment. Beide dachten dasselbe. Nach schwerstem Krankheitsverlauf, wochenlangem Fieber, Beatmung, Dekompensation von Herz und Kreislauf war es überraschend zu einer Stabilisierung gekommen. Man hatte die Beatmung erfolgreich beendet, das Loch im Hals einfach zugeklebt, so dass der junge Mann wieder sprechen konnte. Die Mutter war an diesem Tag länger geblieben als sonst. Sie saß am Bett des Sohnes und hörte nicht auf, seine Hand zu streicheln. Als Bekker wie stets gegen sieben Uhr abends seine Spätvisite machte, saß sie noch immer da.

      „Na, Frau Steinmeier“, hatte er gefragt, „immer noch da? Wann fährt eigentlich ihr letzter Zug?“ Es war mehr eine Floskel. Sie blickte auf, etwas bestürzt, „Mein Gott, wie spät ist es denn?“ „Gleich halb acht“, sagte Bekker.

      „Ojemine“, sie erhob sich schwerfällig, bemüht, leise zu sein, um ihren schlafenden Sohn nicht zu wecken, „da ist der letzte Zug längst weg“, sie sprach mehr zu sich selbst, „na ja, nehm ich ein Taxi.“ Bekker begleitete sie in den Vorraum, wo ihr abgewetzter Mantel hing. Das Taxi würde mindestens hundert Euro kosten. Er half ihr in den Mantel, und sie sprachen noch ein paar belanglose Sätze und verabschiedeten sich voneinander. Irgendwie fühlte er sich elend. Er wollte gerade auf die Station zurückkehren und hatte die Tür schon halb geöffnet, als er auf dem Absatz kehrtmachte.

      „Bin weg“, rief er durch die zufallende Tür in die Station und hastete die Treppe hinunter in den langen Gang, der den operativen Bereich mit den Normalstationen verband. Von dort erreichte man die große Eingangshalle des Krankenhauses, vor der bis in den späten Abend immer ein paar Taxen auf Fahrgäste warteten. Die alte Frau war noch nicht sehr weit gekommen. Er rannte hinterher und blieb atemlos neben ihr stehen. Bevor sie etwas sagen konnte, platzte er heraus,

      „Es ist nichts passiert, Ihrem Sohn geht’s gut, aber ich bin ein alter Trottel“, er japste nach Luft, und sie sah ihn erstaunt von unten