Gabriele Beyerlein

Der schwarze Mond


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sind, sehe keinen Weg, nichts als Wald. Dicht umgibt er uns, wie eine Wand. Der Mann aber, der mich trägt, schreitet ohne Zögern draufzu. Und die Äste teilen sich vor ihm, weichen auseinander, ehe er sie berührt. Mehr noch: Ganze Baumstämme neigen sich wenige Schritte vor ihm zur Seite.

      Ich bekomme eine Gänsehaut. Kaum wage ich es, mich umzudrehen. Hinter uns richten sich die Bäume wieder auf, ohne zu schwanken. Etwas stimmt hier nicht.

      Da fallen mir die weißen Haare des Mannes auf. Seine helle Haut. Und seine spitzen Ohren.

      Er ist es! Und ich habe gedacht, ich wäre bei ihm in Sicherheit! Aber es ist Aribor, der Elf, der mich zur Höhle gelockt hat, der Elf, der die Jungen gefangen hält, der mein Herz -

      Plötzlich geht alles ganz schnell. Ich beiße dem Elf ins Ohr, ich beiße, bis ich den Knorpel knacken spüre, er schreit auf und lässt meine Beine los, ich springe von seinem Rücken und renne, schlage Haken um die Bäume, doch da, er hat mich überholt, steht vor mir, ich weiche zurück, ein Graben, zu spät merke ich es, rücklings falle ich hinein. Und schon ist er über mir und setzt mir seinen Fuß auf die Brust.

      „Ist das dein Dank für meine Hilfe?!“ Er drückt mich mit dem Fuß noch fester auf den Boden, ich bekomme kaum Luft.

      „Bitte“, beginne ich zu keuchen, „bitte, lasst mich los, tut mir nichts, lasst mich laufen, bitte, nehmt nicht mein Herz ...“

      „Dein Herz?“, wiederholt er und es klingt irgendwie angewidert.

      „Nicht?“ frage ich. Auf einmal habe ich Hoffnung. Der Medicus hat mich doch die ganze Zeit angelogen – vielleicht hat er auch in dem gelogen, was er über Aribor und die Elfen gesagt hat? „Ihr seid, Ihr seid doch Aribor? Ein Elf?“, stottere ich herum.

      „Welch außerordentliche Erkenntnis!“, erwidert er scharf. „Es ist Aribor, König der Elfen in höchsteigener Person, der sich deiner annahm und den du zu beißen wagtest! Wenn du mir dafür nicht mit einer triftigen Erklärung aufwarten kannst, wirst du erleben, wie ein König der Elfen zu strafen weiß! Also, Menschenjunges?“

      „Bitte, bitte, es tut mir leid, ich wusste doch nicht, der Medicus hat doch gesagt, Ihr haltet die Jungen in der Höhle gefangen und ich sollte Euer nächstes Opfer sein, Ihr wolltet mir mein Herz rauben, Ihr benötigt immer Herzen von Jungen, damit Euere magischen Kräfte aufgefrischt werden, aber jetzt glaub ich das nicht mehr, der Medicus hat mir auch nicht gesagt, dass er ...“

      „Beim silbernen Haar meiner Mutter! Welche Lügengespinste flüsterte dir der Medicus ein! Da nimmt mich nicht wunder, dass du vor mir die Flucht ergriffst und mir beinahe das Ohr abbissest!“

      „Das tut mir wirklich leid. Verzeihung, bitte!“

      „Unter diesen Umständen sei sie dir gewährt!“

      Er hält seine rechte Hand über sein blutendes Ohr und als er sie wieder wegnimmt, blutet es nicht mehr, ja, man sieht nicht einmal mehr die kleinste Wunde. Dann zieht er seinen Fuß von meiner Brust zurück und macht mir ein Zeichen, aufzustehen. Auf einmal bin ich ganz sicher, dass kein Wort von dem stimmt, was der Medicus über die Elfen gesagt hat. Und dass mir von Aribor keine Gefahr droht. Ganz im Gegenteil.

      Er erklärt: „Der Medicus ist ein Meister vieler schwarzer Künste und ein Meister des Luges und Truges. Und er steht mit all seiner Macht in den Diensten eines grausamen Herrschers. Es ist der Herzog, der die Knaben in der Höhle gefangen halten lässt, und der Medicus, der einen Bann um den Wald gelegt habe, damit kein Mensch die Höhle findet und die Knaben befreit!“

      „Aber ich habe hingefunden!“

      „Ja, du! Weil meine Tiere dich geleiteten. Es war mein Wille, dass du das Elend dieser Knaben mit eigenen Ohren vernimmst, mit eigenen Augen erblickst. Damit du begreifst, was es gilt. Denn nur unter deiner Mitwirkung kann verhindert werden, dass jahrein und jahraus unglückselige Kinder so leiden müssen!“

      „Ich, wieso, wie soll ich ...“

      „Du wirst es erfahren, wenn es an der Zeit ist!“

      „Aber ich will das alles nicht, ich will heim, nach Hause! Meine Eltern warten auf mich und ich werde hier vor Angst fast wahnsinnig, alles ist so unheimlich und gefährlich, der Herzog will mich umbringen, was mache ich, wenn der Medicus mich wieder -“

      „Schweige still! Wirst du nicht gewahr, wie du dich selbst erniedrigst mit deiner Winselei?! Ich jedenfalls beabsichtige nicht, sie mir anzuhören! Die Menschenkönigin erwartet dich.“

      Er geht einfach los, und ich stapfe hinter ihm her.

      Winselei! Als ob ich nicht Grund genug hätte, von hier wieder fort zu wollen! Aber es hätte keinen Sinn, wegzulaufen. In diesem Wald wäre ich rettungslos verloren. Ich muss tun, was der Elfenkönig von mir will. Was immer es ist.

      Wir gehen durch das Dickicht, als sei da ein Pfad. Aribor läuft, fast ohne den Boden zu berühren. Ich habe Mühe, ihm zu folgen, obwohl es hell wird und ich besser sehen kann.

      Aribor dreht sich nach mir um. Der erste Sonnenstrahl fällt ihm ins Gesicht. Er ist älter, als ich dachte. Für einen, der mich so lange durch den Wald getragen hat, ohne auch nur einmal zu keuchen, ganz schön alt.

      Er sieht mich an. Er hat sehr helle, durchdringende Augen. Und einen Blick ...

      Da, plötzlich, erkenne ich ihn: Er ist der Mann, der auf dem Flohmarkt die Rollenspielsachen verkauft hat! Er ist es, von dem die drei Jungen die magische Kugel geschenkt bekommen haben!

      Jetzt wird mir so manches klar. Auch, dass nur er es ist, der mich wieder zurückbringen kann.

      Plötzlich bleibt Aribor stehen, legt warnend den Finger an die Lippen und macht mit dem Kopf eine Bewegung in den Wald vor uns.

      Leise schleichen wir weiter, das heißt, ich versuche zu schleichen, Aribor geht sowieso lautlos. Wie laut es knackt, wenn ich auf einen Zweig trete!

      Schwach höre ich das Schnauben eines Pferdes. Das Knarren einer Tür. Und dann, unüberhörbar, einen lauten Schrei, der schlagartig abbricht.

      Ein Schauer kriecht mir den Rücken hinunter. Es war ein Kind, das da geschrien hat. Schon wieder ein Kind.

      Jetzt höre ich noch mehr Schreie, eine Frau, einen Mann -

      Der Elfenkönig hat mich an der Hand gefasst und neben sich hinter einen Baum gezogen. Durch die Äste spähe ich hinaus auf eine kleine Lichtung. Mehrere seltsame kreisrunde Hügel stehen auf der Wiese und rauchen. Eine erbärmlich baufällige Hütte sehe ich daneben. Die Tür ist weit offen. Und da –

      Ein Ritter kommt heraus, ein Ritter in einer schwarzen Rüstung, von Kopf bis Fuß in Eisen gepackt, mit zwei Schwertern und einer Axt bewaffnet, das Visier seines Helmes geschlossen. Unter den eisernen Arm geklemmt trägt er wie ein Paket ein Kind, einen Jungen, kleiner, als ich es bin.

      Der Junge schreit und strampelt, der Ritter achtet nicht darauf, wehrt mit dem freien Arm einen Mann ab, der hinter ihm her aus der Tür rennt und mit einer schweren Holzstange auf ihn eindrischt, der Ritter holt aus und schlägt mit der Eisenfaust den Mann zu Boden. Der bleibt liegen und rührt sich nicht mehr. Aber jetzt stürzt eine Frau aus der Hütte und wirft sich dem Ritter in den Weg, wirft sich vor ihn auf den Boden, umklammert seine Beine, weint und fleht. Er stößt sie mit dem eisernen Fuß zur Seite.

      Der Junge schreit.

      Der Ritter stampft genau auf uns zu.

      Ich kann den Jungen sehen, seine Nase blutet, seine Augen sind weit aufgerissen.

      Unwillkürlich mache ich eine Bewegung auf ihn zu. Aribor hält mich zurück. Die eine Hand drückt er mir auf den Mund, mit der anderen packt er mich an der Schulter.

      Aber die Augen hält er mir nicht zu.

      Und ich sehe, wie der Ritter schwerfällig zu einem Pferd geht, das wenige Schritte von uns entfernt an einem Baum angebunden ist, wie er ein Seil vom Sattel nimmt, den Jungen mit dem Seil fesselt und ihn hinter dem Sattel auf das Pferd bindet. Der Junge schreit nach seiner Mutter. Da stopft ihm der Ritter ein