Gabriele Beyerlein

Der schwarze Mond


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      Der Busch schreit, es schreit aus dem Busch, hohl, verzerrt, fern – eine Kinderstimme, Jungenstimme, schreit sie nicht „Hilfe!“?

      Eine Gänsehaut kriecht mir den Rücken hinunter, ich zerre den Busch zur Seite, ein dunkles Loch tut sich dahinter auf, ein Spalt, ich bücke mich, es ist ein Gang, der schnell höher wird. Ein finsterer Höhlengang.

      Aus dieser Finsternis kommt die Stimme. Sie schreit wirklich um Hilfe. Dann bricht sie ab, aber jetzt schreit eine andere, die in ein Schluchzen übergeht.

      Sie sind es, die Jungen – aber die Stimmen klingen viel jünger – ich muss sie retten –

      Retten?

      Vielleicht sind sie irgendwo abgestürzt. Oder haben sich verlaufen ...

      Wenn ich da reingehe, passiert mir bestimmt das Gleiche wie denen. Und damit ist ihnen auch nicht gedient. Da muss die Feuerwehr helfen oder die Bergwacht, jedenfalls Männer, die sich mit Höhlen auskennen. Wenn ich endlich einem Menschen begegne, werde ich sagen, dass Kinder da drinnen sind und dass man sie retten muss.

      Langsam gehe ich von der Höhle weg. Da, plötzlich, packt mich eine Hand. Ich fahre herum und sehe einen bärtigen Mann mit seltsamen schwarzen Kleidern: einer schwarzen Kniebundhose, einer silbern bestickten schwarzen Weste, einem schwarzen Samtumhang, einem riesigen Hut mit Feder und einer Art zu kurz geratenem Spazierstock.

      „Weißt du nicht, dass du hier in höchster Gefahr schwebst?“, stößt er hervor und zerrt mich mit sich.

      Ich bringe kein Wort heraus. Neben ihm her stolpere ich den Hang hinunter – und schreie auf. Der Wolf ist wieder da, und diesmal greift er an. In großen Sätzen rennt er auf uns zu, die Zähne drohend gebleckt. Gleich springt er mir an die Kehle, und dann –

      Schnell suche ich hinter dem Rücken des Mannes Schutz. Dieser lässt mich los, hebt einen Stein auf, schleudert ihn gegen den Wolf, trifft ihn am Kopf, der Wolf jault auf, klemmt den Schwanz ein und zieht sich in den Wald zurück.

      Meine Knie sind so weich, dass ich fast hinfalle.

      Der Mann wirft dem Wolf noch einmal einen Stein hinterher, geht ihm ein paar Schritte nach.

      Vorsichtshalber passe ich genau auf, ob der Wolf zurückkommt. Vielleicht an einer anderen Stelle. Da sehe ich etwas zwischen den Bäumen. Nein, nicht den Wolf. Einen großen, dürren, weißhaarigen Mann. Mit der einen Hand macht er mir ein Zeichen, dass ich zu ihm kommen soll. Die andere Hand streckt er nach mir aus.

      Und plötzlich gehe ich auf ihn zu. Ich will das nicht, ich will weglaufen, mich verstecken, aber ich gehe immer näher zu ihm hin. Es ist wie ein Sog. Ich will nicht, ich will nicht, ich muss -

      „Aribor!“, schreit hinter mir der schwarze Mann. „Donnerkeil und Flammenstrahl treffe dich mit Höllenqual!“

      Der weißhaarige Mann schwankt, taumelt, fällt zu Boden, windet sich, stöhnt.

      Merkwürdig, ich habe nicht gesehen, dass der Schwarze noch mal einen Stein geschleudert hat.

      Auf einmal ist der Sog weg. Ich bleibe stehen. Drehe mich nach ihm um. Er hat seinen Stock ausgestreckt.

      Nun lässt er ihn sinken, sieht mich an und schüttelt den Kopf. „Einen Adlerschrei später hätte dich nichts und niemand mehr aus der Macht des Elfen erretten können! Nun eile, nicht länger verweilt!“ Er packt mich wieder an der Hand und zieht mich weg von dem weißen Mann, der sich immer noch am Boden krümmt.

      „Wawawas für ein E-, E- Elf?“, stottere ich, während ich hinter dem schwarzen Mann herstolpere.

      „Bei meinem Barte!“, ruft er. „Erkennst du einen Elfen nicht, wenn du ihn erblickst?! Sahest du seine spitzen Ohren nicht, das untrügliche Erkennungsmerkmal eines jeden Elfen? Und spürtest du nicht, wie er Macht über dich gewann?! Oder willst du behaupten, du seiest aus freiem Willen seinem Winke gefolgt?“

      Ein Elf!? Elfen gibt es doch nur in Märchen! Oder in Rollenspielen ...

      Ich will weg hier. Hier ist alles fremd. Unheimlich. Und gefährlich.

      Das mit der Macht, das ist wahr. Ich musste auf den Elfen zugehen, obwohl ich es nicht wollte.

      Sind die drei Jungen auch dem Elfen gefolgt?

      Die drei Jungen! Die habe ich ja fast vergessen!

      „Hören Sie“, beginne ich und wehre mit einer Hand die Zweige ab, die mir dauernd ins Gesicht peitschen, denn inzwischen schlagen wir uns durch den dichten Wald. „Hören Sie ...“

      Er dreht sich zu mir um. „Welcher Redeweise erdreistest du dich?!“, fährt er mich an. „Bin ich ein Weib?! Nenne mich 'Herr Medicus' und 'Ihr'!“

      Um Himmels willen, so redet doch kein Mensch, heutzutage! Wohin bin ich hier geraten?! Ins Mittelalter oder was?

      „Ja, Herr Medicus, entschuldigen Sie, oh, Entschuldigung, ich meine: Entschuldigt. Bitte, Ihr müsst den Jungen in der Höhle helfen, die sind da drinnen und haben um Hilfe geschrien, die müssen Sie, müsst Ihr retten!“

      „Retten?“, fragt er. „Es ist wahrlich schwer genug, dich zu retten! Einem Jungen, den die Elfen bereits in ihrer Gewalt haben, ist nicht mehr zu helfen!“

      „Aber wieso, Sie sind, ich meine, Ihr seid doch so stark, stärker als der Elf, Ihr habt ihn besiegt!“

      Er sieht mich kopfschüttelnd an. „Dass ich Aribor zu Boden strecken konnte, heißt nicht, dass ich ihn besiegte! Er ist sehr zauberkräftig – ihn besiegt nicht einmal der Magier des Herzogs.“

      Ich schlucke. Es hilft nichts, dass ich es nicht denken will. Ich weiß es trotzdem: Ich bin weit weg von Zuhause. Sehr weit weg.

      Mama, Papa, ich will wieder zu euch!

      Der Medicus beugt sich zu mir herunter und flüstert: „Man hat auf der Hut zu sein, wenn man von den Elfen spricht. Der Wald ist voller Ohren. Wisse: Aribor lockt ahnungslose Knaben in seine Höhle. Er hat den Abgrund der Höhle mit einem Zauber gesichert, den keine Menschenseele brechen kann. Jenseits des Abgrundes hält er die unglückseligen Knaben gefangen, deren Herzen die grausamen Elfen benötigen, um ihre Zauberkräfte zu erneuern. Vergebens habe ich auf Abhilfe gesonnen. Kein Mensch außer mir getraut sich auch nur in die Nähe dieser Höhle und auch ich unternehme dies Wagnis nur, weil ich hier heilkräftige Kräuter wachsen weiß, die nirgends sonst gedeihen und die ich für meine segensreichen Werke bitter benötige. Als ich dich erblickte, wusste ich: Du warst zu der Elfen nächstem Opfer erkoren. Aribor giert nach deinem Herzen.“

      Mein Herz –

      Ich ringe nach Luft. Ein schriller Ton pfeift in meinen Ohren. Dann wird alles schwarz ...

      Als ich wieder zu mir komme, liege ich am Boden, meine Beine sind gegen einen Baumstamm gelehnt und der Mann kniet über mir und hält mir ein Fläschchen mit einem scharf riechenden Zeug unter die Nase.

      Ich huste und schiebe die Flasche weg und setze mich auf. Er fühlt meinen Puls wie ein Arzt. Ich glaube, ein Medicus ist auch so was Ähnliches.

      Habe ich ein Glück gehabt! Einen Augenblick später, und ich wäre genauso verloren gewesen wie die anderen Jungen.

      „Danke“, murmle ich, „vielen Dank!“

      Er nickt. „Es ist meine Berufung, Menschenleben zu retten. Doch nun müssen wir eilen, um Aribor zu entkommen, ehe seine Lebensgeister zurückkehren. Hier in der Nähe wartet mein Lehrling mit meiner Kutsche. Ich bringe dich auf meinen Hof und verberge dich dort vor den Elfen. Erhebe dich!“

      5

      Das Eingesperrtsein macht mich noch verrückt.

      Dabei dient es ja nur zu meinem Schutz, dass ich hier im Speicher des Medicus eingesperrt bin, und ich sollte eigentlich froh sein, dass ich in Sicherheit bin vor Aribor und den anderen Elfen. Aber ich bin schon den dritten Tag hier drin und lange halte ich das wirklich nicht mehr aus. Das ist noch viel