Gabriele Beyerlein

Der schwarze Mond


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ist, und als sie ihn hochgezogen haben und er auf der Bahre liegt, nimmt er meine Hand und sagt: „Danke, mein Junge. Du hast mir das Leben gerettet“, und ich sage: „War doch klar!“

      Was ist das eigentlich für ein Krach da draußen? Ein Hubschrauber? Es hört sich fast an, als stehe er über unserem Haus.

      Ich räkle mich noch einmal, dann quäle ich mich aus dem Bett und zieh Shorts und T-Shirt an. Hat ja doch keinen Zweck, noch länger liegenzubleiben.

      Barfuß gehe ich in die Diele hinunter. Unten sitzen Mama und Papa am Frühstückstisch. Jeder hat einen der Zwillinge auf dem Schoß.

      „Du bist schon auf?“, fragt Mama und schaut mich groß an.

      „Wie soll man denn schlafen bei so einem Krach!“, antworte ich, nehme mir einen Becher aus dem Schrank und schenke mir Milch ein. „Haben wir jetzt einen privaten Flughafen, oder was?“

      Papa schüttelt den Kopf: „Leider ist das Ganze gar nicht lustig. Das mit dem Hubschrauber ist die Polizei, sie sucht nach drei vermissten Jungen. Ich hab es vorhin beim Bäcker gehört und im Radio kam es auch schon. Die Jungen sind seit gestern Mittag vermisst, erst haben ihre Eltern das nicht weiter ernst genommen, jeder hat gedacht, sie wären bei dem andern, aber als sie nun nachts nicht nach Hause gekommen sind ...“

      „Die armen Eltern“, meint Mama. „Ich würde wahnsinnig vor Angst. Obwohl es ja wahrscheinlich gar nicht so schlimm ist, wie es aussieht. Drei Jungen auf einmal! Ich glaube nicht, dass drei Jungen gemeinsam etwas zugestoßen ist. Das Ganze ist bestimmt bloß ein Dummejungenstreich, vielleicht haben sie im Wald übernachtet und in ein, zwei Stunden stehen sie vor ihren Haustüren und können die ganze Aufregung gar nicht verstehen.“

      „Jens, dass du dir nie einfallen lässt, über Nacht einfach wegzubleiben, ohne uns Bescheid zu geben!“, droht Papa.

      „Ich bin doch nicht blöd“, murmle ich. Obwohl, zu gönnen wäre es ihnen schon, dass sie sich mal so richtig Sorgen um mich machen würden ...

      „Übrigens sind die drei gestern Vormittag auf dem Flohmarkt zum letzten Mal gesehen worden. Vielleicht hast du sie ja auch bemerkt, Jens?“, fragt Mama. „Du hast uns doch erzählt, dass du dort deine Lego-Eisenbahn verkauft hast!“

      Drei Jungen auf dem Flohmarkt? Plötzlich klopft mein Herz. Trotzdem zucke ich bloß die Achseln. „Und wenn schon. Ich wüsste es ja gar nicht, wenn es so wäre.“

      „Sie sind zwischen zwölf und dreizehn Jahren alt“, sagt Papa. „Und einer von ihnen, der übrigens hier in der Straße wohnt, hat eine Narbe im Gesicht. Eine Klassenkameradin hat beobachtet, wie sie auf dem Rathausplatz bei einem alten Mann irgendwelchen Krempel gekauft haben. Danach wurden sie von niemandem mehr gesehen. Die Polizei sucht jetzt nach dem Mann, aber es scheint, dass keiner ihn kennt. Himmel! Meine Straßenbahn!“ Er springt auf, drückt Mama Anne auf den Schoß, nimmt seine Aktentasche, ruft im Rausgehen: „Übrigens, Jens, heute Abend toben wir beide uns mal mit den Rädern aus, zur Burg hoch, ja?“, und weg ist er.

      Ich starre ihm nach.

      Nicht wegen dem Fahrradfahren auf die Burg. Das ist okay, auch wenn der Burgberg ganz schön steil ist, aber mit meinem Mountainbike schaffe ich das schon, Papa und ich unternehmen öfter solche Sachen, und das finde ich echt cool. Doch daran zu denken habe ich jetzt keine Zeit.

      Die drei Jungen -

      Ich weiß, wo sie hingefahren sind, nach dem Flohmarkt. Vielleicht war ich der Letzte, der ...

      Soll ich zur Polizei gehen?

      Aber der Brunnen war bestimmt das Geheimnis der Jungen, und wenn sie nun in Wirklichkeit gar nicht in Gefahr sind, wenn die drei nur ein Abenteuer erleben in ihrem Rollenspiel und es gerade ganz spannend ist, und dann kommt die Polizei und scheucht sie aus dem Brunnen, und ich bin schuld daran -

      Dann kann ich es vergessen, dass ich jemals mit ihnen mitspielen kann.

      Ob ich Mama frage?

      Da klingelt das Telefon. Ich gehe hin. Es ist Karin, Mamas Freundin von daheim. Ich gebe Mama den Hörer. Wenn Mama mit Karin telefoniert, dauert es ewig. Ich kenn das.

      „Ich geh mal kurz weg!“, sage ich. Mama nickt und winkt mir zu. „Stell dir vor, was hier in der Nachbarschaft passiert ist“, erzählt sie Karin. „Drei Jungen sind über Nacht ...“

      Ich ziehe die Tür hinter mir zu. Ehe ich etwas unternehme, muss ich wissen, ob die drei noch in dem Brunnen sind. Ob sie vielleicht gar nicht gefunden werden wollen.

      Ich nehme mein Fahrrad und radle den Weg durch den Wald zum Brunnen. Der Hubschrauber hat inzwischen abgedreht. Ein Stück vor der alten Mauer steige ich vom Rad und lehne es an einen Baum. Stimmen höre ich nicht. Ich schlage die Zweige zurück und spähe durchs Gebüsch. Tatsächlich, dort liegen drei Fahrräder. Vorsichtig nähere ich mich dem Brunnen. Schaue über die Mauer.

      Es geht ein paar Meter hinunter. Unten ist es duster. Aber nicht zu duster, um nicht erkennen zu können, dass sich hier kein Mensch aufhält. Schon gar nicht drei Jungen.

      Aber – liegt dort nicht etwas am Boden und glänzt?

      Ich gehe um die Mauer herum bis zum Eingang in den Brunnenschacht, steige die alte Steintreppe hinunter.

      Plötzlich schaudere ich zusammen.

      Ich sollte umkehren und zur Polizei gehen. Oder Mama alles erzählen. Oder Papa anrufen in seinem Büro.

      Aber erst muss ich wissen, was da glänzt.

      Am Fuß des Brunnenschachtes entspringt die Quelle. Nur ein ganz kleines Bächlein, das aus einem steinernen Löwenkopf rinnt, ein paar Schritte den Schacht durchfließt und durch ein Loch auf der gegenüberliegenden Seite wieder verschwindet. Vielleicht war es nur das Wasser, was ich von oben glitzern gesehen habe?

      Nein, da ist etwas: eine Kugel aus Glas. Ich bücke mich und hebe sie auf, drehe und wende sie in meinen Händen. Ich kenne sie. Es ist die Kugel, die der alte Mann den Jungen geschenkt hat für ihren „Magier“.

      Sie sieht aus wie eine große Christbaumkugel ohne Aufhänger. Man braucht schon eine Menge Phantasie, um sie für eine magische Kugel zu halten. Aber hier unten im Dustern ...

      Noch einmal drehe ich sie hin und her und sehe, wie das schwache Tageslicht, das durch das Blätterdach in den Schacht fällt, sich darin spiegelt. Ich reibe sie ab, bis sie ganz sauber ist. Da, plötzlich –

      Ist mir schlecht!

      Und schwarz wird mir vor Augen, ich kann gar nichts mehr sehen, ich schwanke, fall auf die Knie –

      So kotzübel war mir noch nie in meinem Leben. Ich knie da, die Hände vor dem Gesicht, und hoffe nur, dass es vorübergeht.

      Es geht vorüber. Puh. Als wäre nichts gewesen.

      Da merke ich, dass ich nass bin. Mehr noch, dass ich im Wasser knie. Ich nehme die Hände herunter.

      Die Quelle! Sie war doch eben noch nur ein kleines Rinnsal, ein Bächlein, das durch das Loch im Brunnenschacht davonfloss, und nun steht mir das Wasser bis zu den Hüften.

      Vielleicht war das gerade ein Erdbeben und jetzt fließt plötzlich viel mehr Wasser aus der Quelle und ich muss aufpassen, dass ich nicht ertrinke. Schnell die Stufen rauf, aus dem Brunnen raus! Ich nehme immer zwei Stufen auf einmal, komme oben an und –

      Mein Fahrrad ist weg. Und nicht nur das. Alles kommt mir plötzlich ganz anders vor. Der Wald viel dunkler und dichter. Und der Weg nicht mehr geteert, sondern nur ein schmaler Pfad, der von Pferden zertrampelt ist.

      Es ist, als würden lauter Ameisen auf meiner Haut krabbeln, auf dem Rücken, den Beinen, überall. Und auch in meinem Bauch.

      Es kann nicht sein.

      Ich renne los. Bis zum Ort und unserem Haus ist es nicht weit, keine zehn Minuten. Wenn nicht -

      Ich renne und komme außer Atem und renne immer weiter. Ich müsste längst am Ortsanfang sein und das Schwimmbad sehen. Aber da kommt