Gabriele Beyerlein

Der schwarze Mond


Скачать книгу

nicht durchdrehen. Der würde sagen: „Es gibt immer einen Ausweg.“ Mit dieser festen, gelassenen Stimme, die er hat, wenn es brenzlig wird.

      Bestimmt bin ich vom Brunnen aus in die verkehrte Richtung gelaufen. Wahrscheinlich war da eine Kreuzung, die ich nicht bemerkt hatte. Und ich habe einfach den falschen Weg erwischt.

      Ich drehe um und laufe zurück. Meine Füße tun weh, ich habe ja keine Schuhe an, und immer wieder drücken Steine in meine nackten Fußsohlen.

      Meine Güte, Jens, reiß dich zusammen! Bist du ein Junge oder ein Jammerlappen?

      Auch wenn meine Füße gleich bluten, ich laufe weiter. Ich will den richtigen Weg finden. Ich muss.

      Ich komme wieder am Brunnen an. Nein, hier gibt es keine Kreuzung. Hier führt nur dieser eine Weg vorbei, dieser Weg, der ganz anders aussieht als vorhin. Ich setze mich auf eine Treppenstufe und versuche nicht zu –

      Ein Junge heult nicht, das ist sowieso das Allerletzte. Sagt Papa.

      Ich beiße mir in den Knöchel meines Zeigefingers, bis es richtig weh tut. Dann renne ich wieder los. Diesmal in die andere Richtung.

      Ich laufe immer weiter, bestimmt eine halbe Stunde, ich habe Seitenstechen, trotzdem geh ich nicht langsamer, ich darf nicht langsamer werden, sonst muss ich denken, und dann –

      Der Wald wird immer dschungeliger. Bäume stehen da, die müssen bestimmt schon fünfhundert Jahre alt sein, so dick und knorrig sind sie. Umgestürzte Bäume liegen dazwischen, halb vermodert und von Moos und Pilzen überwuchert, Farne wachsen an sumpfigen Stellen, Flechten hängen von abgestorbenen Ästen.

      Unheimlich ist das. So was gibt es nicht, heutzutage ...

      Das Rennen hilft auch nicht mehr. Ich bin völlig fertig. Ich habe Seitenstechen und Blasen an den Füßen. Aber das ist nicht das Schlimmste.

      Ich lasse mich zu Boden fallen. Heule doch. So was wie mir ist noch nie einem Menschen passiert.

      Oder – die Jungen! Die verschwundenen Jungen, der mit der Narbe und der rothaarige und der dritte, der so viel gekichert hat. Denen muss das Gleiche passiert sein wie mir. Die waren auch in dem Brunnen, ich hab sie doch selbst hinuntersteigen sehen mit dem Schwert und der Mütze und der magischen Kugel –

      Die magische Kugel.

      Aber das sind nur Rollenspiel-Sachen, Zauber und so was gibt es nicht im wirklichen Leben!

      Der alte Mann hat gesagt, man muss die Kugel reiben und drehen. Und genau das habe ich gemacht. Und die drei anderen haben es bestimmt auch ausprobiert. Ob sie hier sind? Vielleicht ganz in der Nähe?

      Ich wische mir Rotz und Tränen ab und stehe auf. „Hallo! Ist da jemand?“, rufe ich. Und dann lege ich die Hände wie einen Trichter um den Mund und schreie: „Wo seid ihr?!“

      Ich lausche. Kein Mensch antwortet. Doch direkt über mir höre ich ein lautes Krächzen. Ich hebe den Kopf und sehe einen großen schwarzen Vogel auf dem nächsten Baum. Nun fliegt er von seinem Ast auf den Weg, hüpft vor meinen Füßen herum, schlägt mit den Flügeln, krächzt immer wieder und sieht mich dabei die ganze Zeit an.

      Ich weiß nicht, was für ein Vogel das ist, ein Rabe vielleicht, ich kenne mich mit Vögeln nicht so genau aus, aber dass ein Vogel so was normalerweise nicht tut, das weiß ich. Jetzt flattert er ein Stück den Weg weiter, dreht um und flattert wieder zu mir zurück. Hockt sich vor meine Füße. Krächzt, trippelt in die Richtung, in die er eben geflattert ist, schaut zurück.

      Fast sieht es aus, als fordere er mich auf, ihm zu folgen.

      Ich gehe ihm nach. Alles ist besser, als hier zu stehen und zu flennen. Der Vogel hüpft vor mir her, fliegt ein kurzes Stück, lässt sich gleich wieder auf dem Pfad nieder und dreht den Kopf nach mir um. Ich glaube wirklich, er will mich führen. Ich laufe schneller, immer hinter ihm her.

      Tatsächlich – dort vorn mündet der Pfad in einen breiten Fahrweg. Auf einem Fahrweg findet man bestimmt aus dem Wald raus. Auch wenn ich dann noch immer nicht weiß, warum der Wald so anders ist, wo ich überhaupt bin und wie ich wieder nach Hause –

      Darüber wollte ich doch nicht nachdenken!

      Der Rabe trippelt auf dem Fahrweg nach rechts. Also gehe ich auch nach rechts.

      Auch der breite Weg ist nicht geteert. Abdrücke von Hufen sind darauf zu sehen. Pferdeäpfel. Und tiefe Fahrrillen. Aber keine Reifenspuren. Eher sehen die Rillen so aus, als wären hier Schlitten langgezogen worden. Oder Kutschen mit eisenbeschlagenen Rädern.

      Da sind sie wieder, die Ameisen. Diesmal unter der Haut.

      Nochmal versuche ich zu rennen, mit letzter Kraft. Ich muss einfach.

      Der Rabe fliegt ein Stück voraus, lässt sich dann auf einen Baum am Wegrand nieder und krächzt laut. Als ich ihn eingeholt habe, krächzt er noch einmal und fliegt vom Weg weg in den Wald hinein auf den nächsten Baum. Dorthin führt kein Weg. Auch kein Pfad.

      Der Rabe hüpft auf seinem Ast herum. Keuchend bleibe ich stehen. Nein, in dieses Dickicht folge ich ihm nicht! Ich bleibe auf dem Fahrweg, bis ich aus dem Wald gefunden habe, das ist sicherer. Denn wenn ich den Weg erst einmal verloren habe und in dem Dickicht stecken bleibe und nie mehr –

      Ich schleppe mich weiter. Hinter mir schreit der Rabe. Irgendwie fühle ich mich ohne ihn noch verlorener.

      Plötzlich, wie aus dem Nichts, steht mir ein Schäferhund im Weg. Ein sehr magerer, seltsamer Schäferhund. Steht zum Sprung geduckt da, den Schwanz steif nach hinten gestreckt, und knurrt.

      Ich bleibe stehen wie angewurzelt. Der Hund fletscht die Zähne. Diese riesigen Eckzähne –

      Das ist kein Hund! Das ist ein Wolf!

      Der Schweiß läuft an mir runter, ich kann keinen Muskel mehr rühren.

      Ich glaube, es ist auch besser, keinen Muskel zu rühren. Ich hab nicht die geringste Ahnung von Wölfen, aber der da, der macht den Eindruck, als würde er mir an die Kehle springen, sobald ich nur einen Mucks von mir gebe. Bestimmt riechen Wölfe die Angst. So wie Hunde.

      Die Zeit bleibt stehen. Der Wolf knurrt. Ich bin erstarrt. Dann, endlich, klappt der Wolf sein Maul zu, lässt seinen Schwanz baumeln und gibt sich harmlos.

      Meine Muskeln sind so verkrampft, dass sie wehtun. Langsam stoße ich die Luft aus. Trete ein bisschen von einem Fuß auf den anderen, schüttle ganz leicht meine Arme, schau immer den Wolf dabei an. Die größte Gefahr scheint vorüber. Aber der Weiterweg ist mir gesperrt.

      Rückwärts, Schrittchen für Schrittchen, ziehe ich mich vorsichtig zurück und lasse den Wolf dabei nicht aus den Augen. Er beobachtet mich. Verhält sich ruhig.

      Meine Entfernung zu ihm wird immer größer. Endlich wage ich es, mich wieder umzudrehen und ganz normal zu gehen. Neben mir krächzt es. Mein Rabe sitzt immer noch auf dem gleichen Baum. Soll ich ihm vielleicht doch in das Dickicht folgen?

      Hinter mir knurrt es. Da ist er wieder, der Wolf. Langsam kommt er näher, und näher. Er drängt mich vom Weg ab. Auf den Raben zu.

      Es bleibt mir nichts anderes übrig, als diesem in den Dschungel zu folgen.

      4

      Erst führen sie mich hierher, und plötzlich sind sie verschwunden!

      Die ganze Zeit bin ich dem Raben gefolgt, zwischen Laub- und Nadelbäumen, durch Dickicht und sumpfige Stellen, über Wurzeln und umgestürzte Baumriesen, stundenlang. Sobald ich nur mal stehenbleiben wollte, war der Wolf da und hat mir die Zähne gezeigt.

      Irgendwie war das sogar gut. Die Angst vor dem Wolf hat die andere Angst vertrieben. Aber jetzt bin ich wieder allein. Ganz allein.

      Ich befinde mich an einem kahlen, felsigen Hang. In dem vertrockneten Busch genau vor mir hat der Rabe noch einmal ein Mordsspektakel aufgeführt, dann ist er auf- und davongeflogen.

      Ich schaue mir den Busch genauer an