Detlef Wolf

Salto Fanale


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mußte. Schnell zog er sich aus, duschte sich kurz ab und machte sich dann für den Abend fertig. Sein Vater erwartete, daß er mit Anzug und Krawatte erschien, so war es üblich im Hause von Molzberg, wenn man sich zu einer gemeinsamen Mahlzeit traf. Und es war besser, sich an diese Vorgaben zu halten, wollte man sich nicht den Unmut des Hausherrn zuziehen.

      Das wollte Adrian nun auf keinen Fall. Sein Vater war der einzige Mensch, der ihm wirklich Respekt einflößte. So begrüßte er ihn dann auch, als er als Letzter das Eßzimmer betrat, wo seine Eltern bereits Platz genommen hatten. Allerdings saßen sie noch an dem kleinen, runden Tischchen in der Ecke des Zimmers, an dem sie ihre Aperitivs zu nehmen pflegten. Er war also noch nicht zu spät.

      Entsprechend freundlich grüßte sein Vater zurück. „Ah, Adrian, mein Sohn, da bist Du ja. Setz Dich zu uns. Möchtest Du auch etwas zu trinken?“

      „Einen Organensaft vielleicht, ich hab ziemlichen Durst“, antwortete Adrian.

      Weit davon entfernt, seinem Sohn diesen Orangensaft selbst zu besorgen, klingelte Oswald von Molzberg nach dem Dienstmädchen, das gleich darauf erschien und mit einem knappen: „Einen Orangensaft für meinen Sohn“ abgefertigt wurde. Das der Höflichkeit gebotene „Bitte“ sparte sich der Graf bereits.

      Es folgte das übliche Frage- und Antwortspiel, das sich immer entwickelte, wenn Vater und Sohn aufeinandertrafen. Der Vater fragte, und der Sohn hatte zu antworten. So war es auch an diesem Tag. Mit einer Abweichung. Als sie sich zum Essen begaben, wagte es auch Adrian, seinem Vater eine Frage zu stellen.

      „Wohin fahren wir eigentlich dieses Jahr in Urlaub? In etwas mehr als zwei Wochen gibt’s Ferien, und Du hast noch nichts gesagt.“

      „Die Ferien, mein Sohn, wirst Du diesmal mit mir verbringen“, antwortete der Graf. „Ich habe mir überlegt, Du bist jetzt langsam alt genug, um damit zu beginnen, Dich mit den Vorgängen in der Bank vertraut zu machen. Also wirst Du mich während der Ferien begleiten und wirst Dich über meine Arbeit informieren. Als stiller Zuhörer. Dabei und im Anschluß daran, wirst Du in einem Bericht zusammenfassen, was Du gelernt hast. Diesen Bericht wirst Du mir zur Beurteilung vorlegen. Möglicherweise werden wir gegen Ende der Schulferien noch ein paar Tage Urlaub einlegen, aber das weiß ich noch nicht. Wenn es sich eben so ergibt und dann auch nicht länger als höchstens eine Woche.“

      Na bravo, soviel also zu seinen Plänen, mit Linda nach Südfrankreich zu fahren. Stattdessen wochenlang mit dem Vater zusammensein. Etwas Schlimmeres hätte ihm kaum passieren können. Und er wußte genau, es würde keine Chance geben, seinem Vater diese Idee auszureden. Von Seiten seiner Mutter war keine Unterstützung zu erwarten. Wie er mit einem flüchtigen Seitenblick feststellte, hatte sie es wohl schon erfolglos versucht. Also blieb ihm nichts anderes übrig, als sich widerspruchslos zu fügen. Was er schließlich auch tat, denn sein Vater hatte das Personal bereits angewiesen, den ersten Gang zu servieren. Und da beim Essen jegliche Unterhaltung ausgeschlossen war, gab es zum Protestieren auch keine Gelegenheit mehr.

      Adrian nutzte die Zeit, die das mehrgängige Menue in Anspruch nahm, um sich mit dem Plan seines Vaters abzufinden. Es gelang ihm einigermaßen. So schnell er konnte, verabschiedete er sich nach dem Essen und stieg hinauf in sein Appartment.

      Er konnte nicht einschätzen, wie er sich fühlte. Wut, Enttäuschung, Ohnmacht, Niedergeschlagenheit, was war es, das er empfand? Er wußte es nicht. Noch viel weniger wußte er, wann und ob jemals der Albtraum namens Oswald Graf von Molzberg je zu Ende gehen würde. Er wußte nur eins: Er war darin gefangen und war gezwungen, darin mitzuspielen. Es gab keinen Ausweg. Jetzt nicht, während der Ferien nicht und in der Zukunft ebenfalls nicht.

      Wenn er gewußt hätte, wie so etwas funktioniert, hätte er angefangen zu heulen. Aber er wußte es nicht. Nicht einmal das wußte er. Also saß er nur stumm vor seinem Schreibtisch und starrte aus dem Fenster in die Nacht, die jetzt langsam heraufzog.

      ***

      Von der negativen Stimmung, die sich bei Adrian von Molzberg im Laufe des Abends entwickelte, waren Tabea und ihr Bruder Lukas Lichtjahre entfernt, als sie sich nach einem wunderschönen Nachmittag, den sie zusammen im Stadtparkbad verbracht hatten, endlich entschlossen, nach Hause zu fahren. Sie wußten zwar, daß es dort ein Donnerwetter geben würde, weil sie nicht rechtzeitig zum Abendessen aufgekreuzt waren, aber das würde halb so schlimm werden. Und außerdem waren sie ja auch zu zweit. Da würde es sich leichter ertragen lassen.

      Ziemlich vergnügt standen sie also vor einer Fußgängerampel an der Binnenalster und warteten darauf, daß es Grün wurde. Als es endlich soweit war und sie gerade loslaufen wollten, bemerkten sie, gerade noch rechtzeitig, das heranrasende Porsche-Cabrio, das ihnen, mit Sicherheit schon bei Rot, fast über die Füße gerauscht wäre. Zumindest Tabea, wenn ihr Bruder, der von ihnen offenbar der Reaktionsschnellere war, sie nicht im letzten Moment noch zurückgerissen hätte.

      „Der Typ hat doch wohl auch nicht mehr alle Tassen im Schrank“, schimpfte er, nachdem sie beide den ersten Schreck überwunden und einmal tief durchgeatmet hatten.

      „Tussi“, sagte Tabea, die dem Porsche nachgesehen und bemerkt hatte, daß er um einen Augenblick früher als ein anderer Wagen, der wohl schon länger gewartet hatte, in eine eben freiwerdende Parklücke hineinfuhr. „Das war ‘ne Tussi“, wiederholte Tabea. „Guck mal, da steigt sie eben aus. Und weißt Du auch, warum sie’s so eilig hatte? Weil sie dem Typ in dem anderen Auto, der da jetzt schimpft wie so’n Rohrspatz, die Parklücke klauen wollte. Hat ja wohl auch geklappt.“

      Auch Lukas sah jetzt zu der Stelle hinüber, an der der weiße Porsche parkte, aus dem ein Mann und eine Frau ausstiegen, die sich königlich über ihren gelungenen Coup zu amüsieren schienen. Die Frau zeigte dem anderen Autofahrer sogar den Mittelfinger und bog sich dabei vor Lachen.

      Plötzlich hielt Tabea ihren Bruder am Arm fest. „Weißt Du, wer das ist?“ fragte sie aufgeregt.

      „Nee, woher soll ich das wissen?“ antwortete Lukas. „Ich kenn keine Bräute, die versuchen, in weißen Porsche Cabrios harmlose Fußgänger über den Haufen zu fahren. Kennst Du die etwa?“

      „Naja, kennen ist zuviel gesagt. Ich weiß, wer sie ist. Das ist die Freundin von Adrian, unserm Klassenarschloch.“

      „Etwa von dem Adrian?“

      „Ja klar, Adrian von Molzberg. Der Typ, der mich heut Mittag nach Hause gebracht hat. ‘N anderen Adrian gibts doch bei uns in der Klasse gar nicht.“

      Dann sahen die Geschwister, wie sich die beiden Porsche-Insassen mitten auf der Straße und ohne weiter auf den immer noch schimpfenden Autofahrer zu achten, innig umarmten und nach allen Regeln der Kunst abzuknutschen und zu -küssen begannen.

      „Das glaub ich ja jetzt nicht“, meinte Tabea, einigermaßen fassungslos. „Unser Graf scheint wohl offensichtlich nicht der Einzige zu sein, mit dem die Porsche-Tussi sich vergnügt. Ob der da wohl ‘ne Ahnung von hat?“

      Lukas lachte. „Wenn nicht, kannst Du’s ihm morgen ja vorsichtshalber mal unter die Weste jubeln.“

      „Ich werd mich schwer hüten“, gab Tabea energisch zurück. „Was geht mich dieser Arschloch-Graf und seine bescheuerte Tussi an? Wenn die ihm fremdgeht, dann soll er das mal schön selbst rausfinden. Von mir erfährt er’s jedenfalls nicht.“ Sie griff nach der Hand ihres Bruders. „Und jetzt komm. Laß uns mal zuseh’n, daß wir nach Hause kommen. Da kriegen wir sowieso was zu hören, weil wir so spät sind.“

      Immer noch lachend, ließ Lukas sich von ihr mitziehen.

      3

      Gleich am ersten Ferientag stand der Umzugswagen vor der Tür. Tabea hatte deshalb früher als gewöhnlich aufstehen müssen. Die Umzugsleute hatten sich für acht Uhr angesagt, und bis dahin mußten sie auf jeden Fall gefrühstückt haben, denn danach würden sie dafür keine Chance mehr haben. Das wußte sie von früheren Gelegenheiten, denn es war nicht der erste Umzug, den sie mitmachte. Das hatte sie schon mehrmals erlebt. Ihr Vater war ein Ingenieur im Industrieanlagenbau und wurde alle paar Jahre woanders eingesetzt.