Arnulf Meyer-Piening

Das Doppelkonzert


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dass er im Krankenhaus nicht wieder gesund werden könnte, obwohl sich alle Ärzte und Pfleger alle erdenkliche Mühe mit ihm gaben. Aber es ging nicht nur um seine physische Gesundung, es ging um die Schulung seines Geistes und seines Gedächtnisses. Er musste wieder Zutrauen zu sich selbst finden. Das war im Krankenhaus nicht möglich, vor allem nicht in der Intensivstation, wo ihn der Lärm aus den Nachbarzimmern irritierte: Immer wieder schrillten irgendwo Alarmglocken, Menschen riefen um Hilfe. Ein ständiges Kommen und Gehen auf dem Gang. Er schloss die Tür. Die betreuenden Ärzte aber beharrten darauf, dass seine Tür offen bleiben müsse, damit sie im Notfall sofort zur Stelle sein könnten: Herr Sämann, es ist nur zu Ihrem Besten! Diesen Satz hörte er wieder und wieder. Er konnte ihn nicht mehr hören.

      Mit schwacher Stimme antwortete er: Es mag ja aus Ihrer Sicht so sein, aber ich will und muss hier raus. Und zwar sofort.

      Der Arzt zeigte sich unbeeindruckt: Herr Sämann, Ihre Schwester hat strikte Anordnung gegeben, dass Sie hier in unserer Pflege und Obhut bleiben müssen. Dagegen können wir nichts machen. Sie hat das alleinige Sagen. Sie entscheidet, was hier in der Klinik geschieht und was nicht. Sie müssen sich mit Ihrer Schwester verständigen.

      - Wolfgang wusste: Er würde sich hier nicht gegen seine Schwester durchsetzen können. Er kannte nicht ihre Motive. Möglich, dass sie wirklich nur das Beste für ihn und seine Gesundung wollte, aber es war durchaus möglich, dass sie ihre eigene Suppe kochen wollte. Sie wollte Macht und Geld! Das war vielleicht die Gelegenheit, auf die sie viele Jahre gewartet hatte. Viele Jahre hatte sie im Schatten ihres großen Bruders gestanden. Das wollte sie nun nicht mehr.

      - Er schluckte die Tabletten hinunter und lehnte sich wieder zurück: Künftig würde sie über ihn triumphieren. Sie wäre dann nicht mehr seine kleine Schwester, die vom Gnadenbrot des übermächtigen Bruders lebte. Schließlich besaß sie jetzt die Vollmacht über alle Konten. Sie könnte auf diese Weise ihre angespannte finanzielle Situation bereinigen. Zwar besaß sie zusammen mit ihrem Neffen und ihrer Nichte die Kapitalmehrheit an der Firma Sämann, die auch ihren Namen trug. Ohne seine Zustimmung konnte sie aber keinen Geschäftsführer bestellen. Auch mit seiner Vollmacht konnte sie die Mehrheitsverhältnisse in den wichtigen Entscheidungsgremien nicht verändern. Und es standen wichtige Entscheidungen an: Es ging um eine Kapitalerhöhung, um neue Beteiligungsverhältnisse und um die strategische Ausrichtung der Firma. Sie musste also warten.

      Von Zeit zu Zeit sah Ingrid nach ihrem Bruder. Sie ließ sich von der Oberärztin die Krankheitsakte zeigen, prüfte die Eintragungen über Temperatur, Blutdruck, Herzfrequenz und die Medikation: Sieht so weit ganz stabil aus, sagte sie mit zurückhaltender Zufriedenheit.

      Für den nächsten Morgen hatte sich Isabelle angesagt. Betont leutselig begrüßte sie Ingrid auf dem Gang: Wie geht es Ihrem Bruder?

      - Ingrid war nicht besonders erfreut über ihren Besuch. Sie mochte sie nicht, das war ziemlich deutlich zu spüren. Im Grunde hatte sie für die Ablehnung keinen triftigen Grund, aber sie wollte keine Mitwisser über die internen Verhältnisse der Familie. Nach außen sollte die Familie als intakt gelten. Gerade in diesen wirtschaftlich schwierigen Zeiten sollte nach außen alles als harmonische Einheit und wohl geordnet erscheinen. Zu sehr waren sie auf die Meinungen in der Öffentlichkeit angewiesen. So nutzte sie die allgemein in solchen Situationen übliche Floskel: Den Umständen entsprechend. Er ist noch sehr schwach.

      - Ich würde ihn gerne sehen. Wäre das möglich? Ich habe ein paar Blumen mitgebracht.

      - Ja, wir können ihn in seinem Zimmer besuchen. Allein darf ich Sie nicht zu ihm lassen. Er darf sich auf keinen Fall aufregen.

      Sie nahmen den Fahrstuhl und fuhren in den siebten Stock. Ingrid ging voran, nickte den Schwestern zu, begrüßte eine Ärztin und öffnete die Tür am Ende des Ganges. Es war ein sonniges Einbettzimmer. Nichts Besonderes. Ein Zimmer wie jedes andere unter vielen. Nichts deutete darauf hin, dass hier der Bruder der Chefärztin lag.

      - Isabelle betrachtete besorgt den schlafenden Patienten, trat zu ihm an sein Bett und hielt ihre Hand an seine erhitzte Stirn: Er hat Fieber, sagte sie vorwurfsvoll.

      - Ingrid nahm die Krankenakte, die sich am Fußende seines Bettes befand. Sie nickte: Wir geben ihm seit gestern ein fiebersenkendes Mittel, das auch gegen die Entzündung wirkt, dessen Ursache wir noch nicht kennen.

      - Isabelle wollte Klarheit: Was könnte die Ursache für das Fieber sein?

      - Ingrid blickte erneut auf die Eintragungen auf der Akte. Es gibt viele Gründe, aber wir kennen die wirkliche Ursache noch nicht.

      - Wie lange wird er noch im Krankenhaus bleiben müssen?

      - Das wird sich erst in den nächsten Tagen entscheiden, wenn wir die Ursache des Fiebers wissen. Wir werden ihn auf die Intensivstation verlegen. Anschließend muss er noch zur Beobachtung ein paar Wochen in die Reha-Klinik gleich hier in der Nähe.

      - Isabelle ließ sich nicht mit allgemeinen Erklärungen abspeisen: Wenn ich Sie recht verstehe, dann wird er noch ein paar Wochen hier bleiben müssen, bevor er wieder an seinen Arbeitsplatz zurückkehrt. Ist das richtig?

      Ingrid wagte nicht, sie anzusehen: Hoffentlich kann er überhaupt wieder an seinen Arbeitsplatz zurückkehren. Das ist jetzt noch nicht mit Sicherheit zu sagen. Sie sehen selbst, in welchem Zustand er sich befindet.

      - Isabelle machte sich Sorgen. Und was soll aus der Firma werden, wenn er nicht zurückkehrt? Die Firma braucht eine kompetente Leitung. Sie könnten ihren Bruder vertreten, jedenfalls für eine begrenzte Zeit. Das wäre eine Lösung. Würden Sie in der Zwischenzeit die Firmenleitung übernehmen?

      - Mit Entschiedenheit sagte Ingrid: Nein, das werde ich nicht tun, denn ich habe meine Aufgaben hier im Krankenhaus. Damit habe ich genug zu tun. Außerdem bin für die Konzernleitung nicht ausgebildet. Aber vielleicht kennen Sie jemanden, der für diese Aufgabe zur Verfügung stünde?

      - Auf diese Frage hatte Isabelle gewartet, aber sie wollte Zeit gewinnen: So jetzt aus dem Handgelenk nicht, antwortete sie, aber ich muss mal sehen, wer zur Verfügung steht. Ich kenne eine ganze Reihe geeigneter Manager, die grundsätzlich für diese Aufgabe in Frage kämen. Man muss sie fragen. Aber es ist nicht leicht, jemanden zu finden, der in einer so schwierigen Situation das Risiko der Firmenleitung auf sich nimmt.

      - Dann prüfen Sie die möglichen Kandidaten und schlagen Sie mir ein paar geeignete Herren vor.

      - Dazu müsste ich einen Search-Vertrag mit Ihnen abschließen. Mein Honorar liegt üblicher Weise in Höhe von einem Jahresgehalt.

      - Wir sollten uns zu einem späteren Zeitpunkt darüber unterhalten. Gehen wir in mein Büro. Ich habe die Vollmacht, einen entsprechenden Vertrag mit Ihnen abzuschließen.

      - Gut, gehen wir. Aber ich möchte mich erst noch von Ihrem Bruder verabschieden. Sie gingen in sein Zimmer zurück. Er schien zu schlafen. Sie beugte sich über sein Bett und streichelte seine Hand. Er schien es nicht zu bemerken. Nachdenklich verließ sie ihn. Er tat ihr unendlich leid.

      Auf dem Gang bat Ingrid die Besucherin, auf einen Sprung in ihr Büro zu kommen. Sie fuhren in das oberste Stockwerk und setzen sich in Ingrids spartanisch eingerichtetes Büro an einen kleinen Tisch.

      - Ingrid eröffnete das Gespräch: Also, Sie glauben, dass Sie einen Manager für uns finden können?

      - Ich werde sehen, was ich tun kann. Es kommt natürlich auf die Bedingungen an. Es wird nicht leicht ein, denn es ist überhaupt nicht klar, für welchen Zeitraum seine Tätigkeit bemessen werden soll. Es könnten ein paar Monate oder auch ein Jahr sein. Unabhängig von dem Zeitraum bleibt für ihn das Risiko das gleiche. Der Kandidat wird nur mit viel Geld zu überzeugen sein.

      - Genau das ist der wunde Punkt. Wir haben zurzeit einige Produktionsprobleme, und die neuen Medikamente warten noch auf ihre Zulassung. Aber das wird sich wahrscheinlich schnell regeln lassen.

      - Unter den Umständen wird es sehr schwierig werden. Sie wissen, dass die Zulassung neuer Medikamente oft viele Jahre dauern kann.

      - Ingrid wurde ungeduldig. Aber wir brauchen jetzt einen fähigen Manager. Wir wissen nicht, wie lange die Firma ohne