den Raum zu verlassen. Es war ihnen peinlich, so einfach ohne Abschiedswort zu gehen. Sie schlichen sich grußlos an dem Wagen vorbei.
Über sein erneutes Versagen war Hinrich verzweifelt und wollte am liebsten die Stadt und das ganze Land verlassen: Möglichst weit weg! Er spielte sogar mit dem Gedanken an einen spektakulären Freitod auf den Schienen der nahe gelegenen Eisenbahn. Oder ein Sturz aus einem der oberen Fenster des Elternhauses. Auf diese Weise glaubte er, seine verlorene Ehre wiederherstellen zu können. Und außerdem würde dann sein Vater erkennen, was er an ihm gehabt hatte. Bei diesem Gedanken spielte sogar ein gewisser Rachegedanke mit. Immer hatte er hinter Julia zurückstehen müssen. Sie durfte alles, hatte alles erreicht, konnte seit ihrer Geburt bei ihrer Tante leben, die ihr jeden Wunsch erfüllte. Und auch jetzt hatte sie es besser: Sie konnte auf ihre Plantage in die Karibik zurückkehren, wo sie von ihrem Freund erwartet wurde und niemand über den missglückten Abend Bescheid wusste.
Er hatte niemanden, der sich um ihn kümmerte. Er blieb allein zurück. Und was aus seinem Vater werden würde, das wusste niemand. Das Schlimmste wäre, wenn der Vater nicht zurück käme. Dann würde die gesamte Verantwortung für die Firma auf seinen Schultern ruhen. Er fühlte sich der Aufgabe nicht gewachsen. Sie schien für ihn zu groß zu sein. Am besten wäre es, wenn der Vater die Firma verkaufen würde, aber sie gehörte ihm nicht allein. Er brauchte die Zustimmung der anderen Gesellschafter, die er wohl nicht bekommen würde.
Hinrich hatte inzwischen einen klaren Kopf bekommen und begann zu rechnen: Sein Vater besaß knapp die Hälfte der Firmenanteile. Seine Tante besaß etwas über einem Drittel, und er und seine Schwester hatten zusammen ein Sechstel. Gemeinsam hätten sie die Kapitalmehrheit. Sie könnten ihn überstimmen, wenn sie sich einig wären. Aber Julia würde nicht verkaufen wollen, denn sie brauchte die Firma im Hintergrund, und wer würde eine Firma mit Verlusten kaufen? Jedenfalls würde er nicht so viel bekommen, dass er künftig davon leben könnte. Nein, das wäre keine Lösung des Problems.
Er nahm sich einen Sessel, rückte ihn ans Fenster und blickte gedankenverloren hinaus: Die Gewitterwolken hatten sich zusammengezogen und schütteten den Regen in Kübeln auf die Landschaft. Nach dem Gewitterregen zeigten sich erste Silberstreifen am Horizont. Gab es noch eine Rettung? Erst müsste die Firma neu geordnet werden und wieder Gewinne machen. Dann könnte man sie verkaufen, vielleicht sogar an einen Wettbewerber oder an einen Lieferanten. Warum nicht? Aber Vater würde nie zustimmen. Man müsste einen Berater haben, der sich mit der Reorganisation von Firmen auskennt. Vielleicht könnte sogar Isabelle eine Lösung bringen? Sie kannte viele einflussreiche Leute und besaß gute Kontakte zu vermögenden Leuten im In- und Ausland. Ja, er müsste sie ansprechen. Genau das war seine schicksalhafte Bestimmung, der er sich stellen würde. Er selbst müsste die Firma retten. Diese Frau, dies teuflische Weib im Bunde mit finsteren Mächten, könnte vielleicht die Rettung bringen. Das müsste er arrangieren. Wer sonst, wenn nicht sie? Und vielleicht könnte sie Einfluss auf seinen Vater nehmen. Sie könnte den Vater bewegen, die Firmenleitung abzugeben.
Das war seine Idee. War es die rettende Idee?
Vor der Abfahrt des Krankenwagens trafen sie sich in der Vorhalle des Hauses. Isabelle hatte angeboten, ihn ins Krankenhaus zu begleiten. Das Ansinnen aber wurde von Ingrid ziemlich schroff abgelehnt, weil sie nicht mit ihm verwandt sei. Außerdem machte ihr Ingrid den Vorwurf, für das Unglück mit verantwortlich zu sein. Vor allem wollte nicht, dass sie sich in die internen Angelegenheiten der Familie einmischte. Zu allem Überfluss sagte Ingrid, wenn Isabelle nicht gewesen wäre, dann wäre das Unglück nicht passiert.
- Den Vorwurf verstehe ich nicht, gab Isabelle ziemlich heftig zurück: Sie sollten mir dankbar sein. Sie jedenfalls haben sich nicht um ihn bemüht als er hilflos am Boden lag. Was habe ich mit seinem Anfall zu tun? Ihr Bruder ist während des Konzerts ohnmächtig geworden, und ich habe mich um ihn gekümmert. Das ist alles.
- Nein, das ist nicht alles, entgegnete Ingrid mit kaum unterdrückter Aggressivität. Ich habe Sie beobachtet, ich weiß mehr über Sie, als Sie ahnen. Seit einiger Zeit haben Sie sich systematisch an meinen Bruder herangemacht, suchten seine Nähe und Ihren persönlichen Vorteil. Sie haben ihm ganz ungeniert vor allen Leuten einen Kuss gegeben, und Hinrich hat das beobachtet. Glauben Sie, ich hätte nicht gemerkt, wie Sie seine Hand auf ihren Oberschenkel gelegt haben und sie gestreichelt haben?
- Isabelle blickte zur Decke und zuckte mit den Schultern, als ob sie sagen wollte: Sind Sie nun endlich fertig?
- Ingrid ließ sich nicht beirren und fuhr fort: Tun sie nicht so scheinheilig. Dies unwürdige Schauspiel hat Hinrich aus dem Takt gebracht. Wenn Sie nicht gewesen wären, dann wäre alles gut gewesen. Ohne Ihre peinlichen Annäherungsversuche hätten wir einen erfolgreichen Abend erlebt. Hinrich hätte das Vertrauen seines Vaters gewonnen, wäre sein Nachfolger geworden, aber jetzt ist alles verloren. Und Sie tragen daran maßgeblich die Schuld.
Feindselig sah Isabelle sie an. Ihre Augen blitzten vor Zorn: Frau Sämann, Sie machen sich die Sache zu leicht. Sie suchen einen Schuldigen für das heutige Desaster, aber die Ursachen liegen weit zurück: Ihr Bruder hat seinen Sohn nie richtig verstanden, hat nie begriffen, was er wirklich wollte. Er hat ihn von früh an zu etwas gezwungen, was er nicht wollte und auch nicht konnte. Er wollte aus ihm sein Ebenbild machen. Aber das gelang ihm nicht. Ihr Bruder fühlte sich für Hinrichs Versagen mitverantwortlich. Schließlich war Hinrich sein Sohn. Er wollte einen Sohn, wie er es gewesen war. Er suchte sein Ebenbild.
- Das müssen Sie mir nicht erzählen. Das weiß ich selber. Wollen Sie mir erklären, wer Hinrich ist? Was wissen Sie schon von ihm? Sie kennen ihn überhaupt nicht.
- Vielleicht verstehe ich ihn viel besser als Sie, entgegnete Isabelle, denn Sie sehen nur sich selbst, sonst niemanden. Hinrich hat die wahre Liebe nie kennengelernt, weder von seiner Mutter noch von seinem Vater und wahrscheinlich auch von Ihnen nicht. Aber das können wir ein anderes Mal besprechen, wenn Sie wollen.
- Ingrid wandte sich dem Krankenwagen zu, in dem ihr Bruder mit Sauerstoff versorgt wurde. Julia war bei ihm und hielt seine Hand. Sie kämpfte mit ihren Tränen. In gewisser Weise fühlte sie sich schuldig, denn letztlich war sie es gewesen, die ihren Bruder aus dem Konzept gebracht hatte.
Ingrid kümmerte sich nicht um den Patienten. Ihrer Ansicht nach waren genügend Helfer da. Zu Isabelle gewandt, sagte sie über die Schulter mit schneidender Stimme: Ich sehe keinen Sinn darin, mich mit Ihnen weiter zu unterhalten. Wir haben uns nichts mehr zu sagen.
- Jetzt geht es in erster Linie um Ihren Bruder, antwortete Isabelle, ohne sich aus der Ruhe bringen zu lassen. Ihr Bruder braucht mich mehr als Sie wahrhaben wollen. Und nun wollen Sie mir die Schuld für seinen Anfall zuschieben? Da sind Sie bei mir an der falschen Adresse. Suchen Sie sich einen anderen Sündenbock.
- Ingrid nahm auf dem Beifahrersitz Platz: Wir können fahren, sagte sie mit der herrischen Bestimmtheit der Chefärztin und schlug die Tür zu. Das Fenster aber war offen geblieben.
- Sie glauben mich abschieben zu können, und dabei brauchen Sie mich mehr als Sie wahrhaben wollen, sagte Isabelle. Ich weiß, dass Sie dringend Geld brauchen, aber ihr Bruder kann das nicht leisten, denn die Firma Sämann hat selbst kein Geld.
- Das ist eine infame Lüge, schrie Ingrid durch das geöffnete Fenster. Ihre Vermutung ist völlig aus der Luft gegriffen. Wir brauchen Sie nicht.
- Sie brauchen mich mehr, als Sie glauben und zugeben wollen.
Der Notarztwagen schaltete erneut das Blaulicht ein und verließ das Grundstück. Wolfgang Sämann wurde sofort in der Klinik aufgenommen und auf die Intensivstation gebracht. Seine Schwester setzte alle Hebel in Bewegung, so dass er schon nach wenigen Minuten im Operationssaal lag und fachgerecht medizinisch betreut wurde. Es ging um Minuten, um Leben oder Tod. Allen war klar, dass er einen Herzinfarkt erlitten hatte. Aber dank des schnellen Eingriffs der Ärzte konnten schwere Gehirnschäden vermieden werden. Die Chancen standen gut, dass er den Anfall ohne bleibende Schäden überstehen würde.
Isabelle hatte dem abfahrenden Wagen noch eine Weile nachdenklich nachgeblickt, bevor sie sich umwandte. Sie suchte Hinrich und fand ihn in dem Raum seiner Niederlage, wie sie es erwartet hatte. Sie sah den jungen Mann in sich zusammengesunken am Fenster sitzen, legte ihre