Arnulf Meyer-Piening

Das Doppelkonzert


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dass du kommst. Wir müssen uns noch abstimmen. Setze dich etwas zu mir.

      Julia hatte ihr Cello aus dem Kasten genommen und stimmte ihr Instrument mit Hilfe einiger Akkorde, die Hinrich auf dem Klavier anschlug. Enttäuscht stellte sie fest, dass ihr Instrument total verstimmt war.

      - Es ist jedes Mal so, wenn du von einer Reise zurückkehrst. Das kennst du doch und du wirst dein Instrument schon wieder richtig stimmen.

      - Julia strich noch ein paar Saiten und lehnte ihr Instrument lustlos an den Flügel: Hinrich, bevor wir anfangen, möchte ich noch etwas geklärt wissen, das mich belastet.

      - Was ist es? Er ahnte, dass etwas Wichtiges kommen würde.

      - Es geht um die auffällige Häufung der Todesfälle bei unserer letzten Testserie. Wir hatten bereits über die möglichen Ursachen gesprochen. Hast du Nachforschungen angestellt, ob die Beschriftung, die Verpackung und der Versand der Medikamente ordnungsgemäß erfolgt sind?

      - Ja, habe ich, antwortete Hinrich, aber seine Stimme verriet Unsicherheit. Sie hatte eine schwärende Wunde berührt. Es saß ein Stachel tief in seinem Fleisch.

      - Und zu welchen Ergebnissen hat das geführt? Sie wollte die ganze Wahrheit wissen.

      - Ich bin die Versandlisten durchgegangen, es scheint alles in Ordnung zu sein. Die Placebos waren mit der korrekten Nummer auf der Verpackung gekennzeichnet. Hier bei uns gibt es keine Unregelmäßigkeiten. Wir haben die alten Sortier- und Verpackungsmaschinen aus der Werkstatt hervorgeholt. Sie sind neu justiert und geprüft worden. Das Problem muss bei euch liegen.

      - Hast du wirklich alles sorgfältig geprüft?, erkundigte sie sich nachdrücklich. Ihre Stimme verriet, dass sie genervt war.

      - Ja. Ich werde zur Klärung nicht mehr viel beitragen können. Du musst die Ursache bei euch suchen. Vielleicht ist es nur eine zufällige Koinzidenz von verschiedenen Faktoren, die nichts mit den Tests zu tun haben.

      - Sie war über den Vorwurf ihres Bruders verärgert und antwortete nicht. Mürrisch holte sie ihr Instrument, strich ein paar Saiten und korrigierte den Ton. Sie versuchte sich wieder auf das Spiel zu konzentrieren. Ich denke, bevor wir anfangen, sollten wir uns über die Tempi verständigen.

      - Ich habe mich mit meinem Lehrer mit der Tempo-Diskussion bei Pablo Casals, dem hervorragenden Brahms-Interpreten, befasst. Er hatte einmal gesagt: Die Tempi werden bei Brahms sehr oft missverstanden. Als Beispiel wählte er das Finale des Doppelkonzerts. Er wies darauf hin, dass Brahms dieses Werk nicht in Schlägen von Vierteln, sondern von Achteln auffasste, mit der entsprechenden Verminderung des tatsächlichen Tempos. Für uns würde es gewöhnlich Andante sein, für Brahms ist es Vivace non troppo, weil er in Achteln zählte. Darum wird Brahms sehr oft – nahezu immer – zu schnell gespielt. Das auf die einzelnen Achtel aufmerksam gemachte Ohr hat nun trotz der verminderten Geschwindigkeit den Eindruck von Schnelligkeit. Das hat einen anderen Charakter, das ist das Brahms-Tempo. Daher ist es nicht notwendig, die ausdrucksvolle Melodie im Mittelteil langsamer zu spielen.

      - Julia reagierte etwas frostig: Wir werden es versuchen. Du weißt, wie wenig ich die Streite über Tempoannahmen mag, und wie sehr für mich das innere Maß der Bewegung entscheidet. Da kann ich keine Kompromisse machen.

      - Er versuchte, die Schärfe aus der Unterhaltung zu nehmen: Du hast vollkommen recht, aber wir beide sind äußerst unterschiedliche Menschen mit ganz anderen Gefühlswelten, und wir müssen uns gegenseitig auf einander einstellen, damit ein harmonisches Ganzes entsteht.

      - Wir sind in der Tat so unterschiedlich, dass man kaum glauben kann, dass wir von den gleichen Eltern stammen, aber wir werden uns beim Spiel auf einander einstellen.

      - Sie probierten ein paar Takte aus dem langsamen Satz: Die Harmonie in unserem Vortrag ist unsere Hauptaufgabe. Ich denke, ich werde mich deiner musikalischen Auffassung anpassen, du bist sicher der Begabtere unter uns Beiden, sagte sie. Auch sie war erkennbar um Entspannung der verkrampften Atmosphäre bemüht.

      - Die Unterschiede in unserer Auffassung von der inneren Kraft des Werkes können dazu dienen, den ungeheuren Reichtum der Musik auszudrücken.

      - Wir wollen sehen, wie es uns gelingt, den inneren Spannungsbogen zu zeigen sagte er. Die Geschwister begannen mit den Proben und wiederholten die kritischen Stellen wieder und wieder. Hinrich ließ seine Geige in herrlichen Klängen jubeln. Während des Spiels schien er in einer anderen Welt zu leben.

      - Sie sagte mit aufrichtiger Bewunderung: Du bist in der Zwischenzeit viel weiter gekommen, verglichen mit dem, was ich vor einem halben Jahr von dir gehört habe. Du musst viel geübt haben.

      - Habe ich auch, aber ich muss es heimlich tun, weil Vater mein Spiel nicht hören will. Er meint, ich vernachlässige meine Arbeit.

      - Und, ist es so? Hat er recht?

      - Hinrich antwortete ausweichend: Es kommt drauf an, von welchem Standpunkt man es betrachtet. Jedes Ding hat zwei Seiten. Vater lebt nur für die Firma. Die Firma ist für ihn sein Ein und Alles, wie du weißt. Ich arbeite, um zu leben. Ich versuche, mein inneres Streben nach dem richtigen Klang mit den Notwendigkeiten des Berufs in Einklang zu bringen. Das ist nicht immer leicht, denn Vater verlangt meinen ungeteilten Einsatz. Für mich ist das anders. Die Firma dient mir dazu, meinen Lebensunterhalt zu verdienen. Du weißt, dass ich ziemlich anspruchsvoll bin, vor allem, was die Musik betrifft. Ich gehe oft auf Reisen, besuche Konzerte in New York, San Francisco, Paris oder London. Ich bin immer auf der Suche nach den perfekten Klang. Das ist mir wichtig und kostet viel Geld. Ich muss es verdienen. Dividenden zahlen wir schon lange nicht mehr, denn seit Jahren machen wir keine Gewinne. Von den Zinsen meiner Kapitalanlagen kann ich nicht leben. Mein Gehalt ist ziemlich bescheiden. Es reicht kaum zum angemessenen Leben.

      - Steht es denn so schlecht um die Firma? Das wusste ich nicht. Ich dachte immer, es läuft alles einigermaßen vor dem Winde.

      - Leider nicht. Die Geschäfte laufen seit einiger Zeit schlecht. Sehr schlecht sogar. Unsere Wettbewerber mit günstigeren Standorten im Ausland machen uns das Leben schwer. Uns fehlen neue Medikamente, die bessere Margen bringen.

      - Julia verstand den kritischen Hinweis: Tag für Tag bemühe ich mich, forsche und teste. Mehr kann ich wirklich nicht tun. Aber das war die vergangenen Jahre immer so. Was ist neu daran?

      - Stimmt, aber früher konnten unsere Wettbewerber im Ausland die geforderte Qualität nicht halten. Jetzt aber liefern die Maschinenbauer ihre Maschinen sowohl an uns als auch an unsere Wettbewerber in Indien und in Japan. Auch China ist stark im Kommen. Jetzt kommt dazu noch Osteuropa. Das macht es für uns nicht leichter.

      - Lass uns jetzt nicht mehr davon reden. Wir haben später noch Zeit. Zuerst müssen wir unser Konzert erfolgreich über die Bühne bringen. Anschließend sprechen wir in Ruhe miteinander. Jetzt kann ich mich nicht darauf konzentrieren.

      Konzertvorbereitung

      Die folgenden Tage vergingen wie im Fluge. Die Beiden übten so intensiv wie es ihre Zeit erlaubte. Endlich war der ersehnte Tag des Geburtstags gekommen. Tische und Stühle waren neu arrangiert. Das Haus glänzte festlich vom Schein vieler Hunderten von Kerzen, die als Armleuchter die Tische zierten oder an blankgeputzten Messingblakern an den Wänden glänzten.

      Nach und nach betraten ein paar elegant gekleidete Damen und Herren mit großen Blumenbuketts den Saal. Kurze Begrüßung durch die Gastgeber. Ein Diener wartete mit einem Tablett und einigen Gläsern Champagner und frisch gepresstem Orangensaft. Die meisten Gäste kannten sich seit vielen Jahren. Man befand sich im Kreis der bürgerlichen Aristokratie und der Wohlhabenden, gesellte sich locker in kleinen Gruppen, sprach über das letzte Konzert in der Philharmonie, das von den meisten besucht worden war. Schließlich war man wer und wollte als Kenner der gehobenen Kunstszene angesehen werden. Kurz: Man wollte dazu gehören.

      - Julia übernahm die Rolle der Gastgeberin und gesellte sich zu der ersten Gruppe: Ich freue mich, dass Sie den weiten Weg zu uns gefunden haben. Es ist eine Ehre für uns, Sie bei uns als Gast zu haben.

      - Eine ältere Dame, mit doppelter Perlenkette