Arnulf Meyer-Piening

Das Doppelkonzert


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in der sie leben. Den Mächtigen geht es nur um den Erhalt ihrer Macht und um das Geld. Das Spiel beherrschen sie, sie haben es schon seit vielen Generationen geübt. Sie spielen es meisterhaft.

      - Gehst du mit dieser Darstellung nicht zu weit?, wollte Hinrich wissen. Ist das nicht für euch gefährlich?

      - Das glaube ich nicht, sagte Julia. Die Menschen vertrauen mir, und ich kenne meine Grenzen. Mir geht es darum, die Kinder von der Straße zu holen, und sie sinnvoll zu beschäftigen. Ich will, dass sie etwas lernen und dass sie sich ein Ziel geben, welches sie erreichen wollen. Dabei müssen sie verschwiegen sein und sich klug verhalten.

      Julia klappte das Album zu, erhob sich und wandte sich zum Gehen: Auch wir müssen uns klug verhalten, wenn wir unser Ziel erreichen wollen.

      - Welches Ziel?

      - Du kennst es: Wir müssen die Firma retten. Und wir müssen viele Widerstände überwinden. Gerade so wie Tamino und Pamina. Wir müssen den Zaubergarten durchschreiten. Das wird nicht leicht sein.

      - Wir haben kein mystisches Glockenspiel zu unserer Verfügung, sagte er ziemlich traurig. Ich könnte jetzt eines sehr gut gebrauchen. Ein Kling und ein Klang, und schon kommt die Hilfe von oben oder von irgendwo.

      - Nein, leider haben wir das nicht, aber wir haben die Musik. Sie wird uns helfen.

      - Ja, die Musik soll uns helfen. Sie wird uns die richtigen Wege zeigen. Deine Aufführung hat mich sehr interessiert, sagte Hinrich. So etwas würde ich auch gerne einmal machen. Die Arbeit mit Musik und Kindern ist bestimmt befriedigend und sehr inspirierend.

      - Das ist sie in jedem Fall. Und es kommt immer etwas zurück. Wir Künstler bekommen große Anerkennung von vielen Menschen. Das hilft uns bei unserer Arbeit. Die Menschen spüren, dass wir etwas für sie tun wollen.

      - Das ist sicher ein erhebendes Gefühl, sagte er voller Bewunderung. Bei dieser Gelegenheit sollten wir uns mal mit Vaters Geburtstag beschäftigen. Ich möchte ihm etwas Besonderes bieten. Er hat große Erwartungen, besonders an mich. Leider können wir zu seinen Ehren keine solche Aufführung auf die Beine stellen. Ein Konzert würde ihm bestimmt große Freude machen.

      - Eine schöne Idee, aber das schaffen wir nicht.

      - Ein Konzert? Wie soll das gehen?, fragte sie erstaunt. Woran denkst du dabei? Du hast doch bestimmt eine konkrete Vorstellung von dem, was du machen willst.

      - Ich denke mir das so: Wir beide spielen das Doppelkonzert von Brahms. Wir haben es vor Jahren schon einmal zu meiner Abschlussprüfung in der Aula der Musikhochschule gespielt.

      - Ja, ich weiß. Damals hatten wir ein großes Orchester von Mitgliedern der Meisterklasse zu unserer Verfügung.

      - Kein Orchester. Das schaffen wir nicht. Nur wir beide musizieren mit professioneller Klavierbegleitung.

      - Wer übernimmt den Klavierpart?

      - Ich könnte meinen Lehrer Paulsen bitten, den Orchesterpart auf dem Klavier zu spielen. Er ist mit Vater gut befreundet, und wir könnten es im kleinen Rahmen in unserem Hause machen. Wir würden unserem Vater eine große Freude bereiten. Es schätzt dieses Konzert sehr, weil es unsere Mutter oft gespielt hat. Du weißt, dass sie eine bedeutende Geigerin war. Es gibt ein paar Aufnahmen von ihrem letzten Konzert, das sie gegeben hat. Sie sah wundervoll aus, mit ihrem engen roten Kleid, in dem sie immer schulterfrei spielte. Vor allem die Männer lagen ihr buchstäblich zu Füßen. Sie genoss die Anerkennung und die öffentlichen Auszeichnungen.

      - Ich weiß. Hoffentlich regt ihn die Erinnerung an unsere Mutter nicht zu sehr auf.

      - Es ist schon lange her. Heute ist er darüber hinweg. Vater war damals bei unserem Konzert dabei. Später wollte er das Werk immer wieder hören. Nun können wir es ihm bieten. Und wir haben noch genügend Zeit, uns vorzubereiten.

      - Und wenn das schief geht?

      - Warum soll es schief gehen?

      - Ich habe ein schlechtes Gefühl.

      - Sei nicht abergläubisch. Ich habe vorsorglich die Noten mitgebracht, wir könnten das Werk hier gründlich studieren.

      - Wir sollten mit Michel drüber reden. Vielleicht kann er den Klavierpart übernehmen.

      - Ja, das wäre wirklich toll. Aber er kann nicht in München spielen.

      - Warum nicht?

      - Ganz einfach. Weil er nicht eingeladen ist. Unser Vater würde ihn nie einladen. Er ist strikt gegen meine Beziehung mit Michel, das weiß ich aus sicherer Quelle. Wir sollten im Vorfeld keinen Konflikt mit ihm provozieren. Vaters Gesundheit ist sehr labil.

      - Dann sollten wir es wenigstens hier mit Michel probieren. Dann sehen wir, ob das Experiment gelingen kann.

      - Bis zu unserer Abreise bleibt uns genügend Zeit zur Probe, sagte sie. Wir werden das schon schaffen.

      - Sie einigten sich mit Michel auf das Doppelkonzert von Brahms, das er nach kritischer Durchsicht des Klavierauszugs glaubte, vom Blatt abspielen zu können.

      In den verbleibenden Tagen verliefen die Proben überraschend erfolgreich. Gemeinsam versenkten sie sich in die Musik. Sie spielten unter freiem Himmel. Die Musik wuchst mit den Stimmen der Natur zu einem harmonischen Ganzen zusammen. Es war hinreißend. Michel war von der Idee einer öffentlichen Aufführung begeistert und drängte die Beiden, den Versuch zu starten, ein Konzert zu Ehren des Vaters zu geben. Vielleicht würde es Julia gelingen, ihren Vater zu überzeugen, Michel in seinem Hause zu empfangen. Er hoffte es, weil er die deutlich zu spürende Barriere der Ablehnung überwinden wollte.

      Julia konnte ihm keine Hoffnung machen, denn sie wusste, wie stark die Ablehnung ihres Vaters war, einen Schwiegersohn zu akzeptieren, den er nicht ausgewählt hatte. Sie war verstimmt, verbarg aber ihre Gefühle, denn sie wollte sich keine Schwachheiten erlauben.

      Wenige Tage später nahm sie von Michel Abschied und ermahnte ihn, besonders sorgfältig die Testserien zu dokumentieren. Traurig ließ Michel seine Geliebte davonziehen. Seine Gedanken waren in erster Linie auf eine künftige und bleibende Verbindung mit ihr gerichtet. Alles Andere war für ihn sekundär. Und doch wusste er, dass von den Tests sehr viel abhing. Es ging um das Überleben der Forschungsstation und des Krankenhauses. Ohne die erfolgreiche Entwicklung des neuen Medikaments würde es kein Überleben geben. Weder des Krankenhauses noch der vielen Patienten.

      Auch Hinrich verließ die Plantage mit vielfältigen Gedanken. Er überlegte, mit welcher spektakulären Aktion er seinem Vater imponieren könnte. Zunächst war es das Konzert, das zur Bewältigung anstand. Aber bis dahin war es noch ein weiter Weg. Was würde sein Lehrer Paulsen dazu sagen? Wer würde den Klavierpart übernehmen können und wollen? Michel kam dafür nicht in Frage, darüber machte er sich keine Illusionen. Zu tief war der Graben. Er war unüberwindbar. Zu groß waren die Vorurteile.

      Sorgenvolle Heimkehr

      Die Flugverbindung führte über Houston und Frankfurt nach München. Zwei Tage waren sie unterwegs gewesen. Die Maschine war pünktlich gelandet. Der Chauffeur, der seit vielen Jahren fast schon zur Familie gehörte, holte sie am Flughafen ab.

      - Wie geht es Vater?, erkundigte sich Hinrich.

      - Eigentlich ganz gut, sagte er etwas zögerlich, aber die Verantwortung für die Firma belastet ihn sehr. Ich fahre ihn – wie seit fast dreißig Jahren - noch immer jeden Tag ins Büro, aber man merkt ihm an, dass er alt wird. Er ist nicht mehr der sichere Fels in der Brandung. Das Beste wäre, er würde mit der Arbeit ganz aufhören, aber er kann sich nicht trennen.

      - Der Wagen hielt vor der Einfahrt zur Sämann-Villa am Starnberger See. Sie wurden von ihrem Vater und seiner Schwester am Eingang erwartet. Er stützte sich auf einen Stock, sie hielt ihn fürsorglich am Arm. Er löste sich von ihr und ging seinen Kindern ein paar zögerliche Schritte entgegen, umarmte seine Tochter und reichte seinem Sohn flüchtig die Hand: Wie schön, dass ihr wieder da seid. Wir hatten uns schon Sorgen gemacht, weil ihr so spät geflogen seid, und so viele