Arnulf Meyer-Piening

Das Doppelkonzert


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Ja, ich will deinen großen Geburtstag mit dir feiern. Deshalb bin ich hier.

      - Das freut mich. Ich brauche dich hier in meiner Nähe. Mehr als du ahnen kannst.

      - Ich weiß es, aber ich habe auch mein eigenes Leben. Du erinnerst dich: Wir haben die Gründung meines Instituts in Nicaragua gemeinsam beschlossen. Wir wollten die Tests in einem Land durchführen, in dem uns nicht so viele Behörden das Leben erschweren. Nun habe ich dort meine Heimat gefunden.

      - Deine Heimat ist hier, beharrte Wolfgang mit Nachdruck, vergiss das nicht. Hier liegen deine Wurzeln. Und hier liegt auch deine Zukunft.

      - Julia erhob sich: Lass uns nicht wieder davon anfangen. Das hatten wir doch schon mehrfach besprochen. Sie erhob sich abrupt und verließ verärgert den Raum.

      - Du solltest nicht immer in dieser eiternden Wunde bohren, sagte Ingrid vorwurfsvoll. Du wirst sie nicht umstimmen können. Sie hat sich entschieden. Sie wird dort bleiben. Ich weiß auch nicht, was sie dort so bindet. Manchmal spricht sie von einem jungen Mann. Vielleicht ist das der Grund. Offenbar findet sie bei ihm ihre innere Ruhe und auch eine Geborgenheit. Hier fühlt sie sich von dir ständig gegängelt und kontrolliert. Das mag sie nicht.

      - Vielleicht fehlt ihr die Mutter mehr, als wir es ahnen, sagte er mit einer gewissen Wehmut. Sie fühlt sich hier bei uns nicht richtig wohl.

      - Ich habe versucht, ihr die Mutter zu ersetzen, soweit mir das möglich war. Offenbar konnte ich es nicht. Ich habe wohl versagt, sagte sie mit verhaltenem Wehmut, die auch einen gewissen Vorwurf erkenne ließ.

      - Du hast bestimmt nicht versagt. Im Gegenteil, du hast ihr nach dem Tod ihrer Mutter das Leben gerettet. Das weiß sie genau, und sie ist dir dankbar dafür.

      - In jedem Fall wäre es gut, sagte Ingrid etwas versöhnlich, wenn sie noch etwas hier bei uns bleiben würde, um unsere Forschungsergebnisse mit ihren Erkenntnissen aus den Tests in der Plantage abzugleichen. Ich würde gern gemeinsam mit ihr in meinem Krankenhaus an dem Forschungsprojekt arbeiten. Vielleicht kommen wir mit ihrer Hilfe schneller voran. In jedem Fall brauchen wir dringend eine größere Menge an den spezifischen Wirkstoffen. Die klinischen Tests zeigen noch keine eindeutigen Ergebnisse.

      - Etwas hoffnungslos blickte er sie an: Aber wir können die benötigten Mengen Vexalin nicht produzieren. Eine Mischmaschine und eine Abfüllstation sind ist ausgefallen, wie du weißt.

      - Sie bekam einen bitteren Zug um den Mund, als spuckte sie etwas aus, was ihr wie Galle auf der Zunge lag: Die Produktion ist Hinrichs Job. Darum muss er sich kümmern. Warum setzt du ihn nicht stärker ein? Du schonst ihn, das ist nicht gut für ihn. Ich sagte es dir schon des Öfteren: Du musst ihn ins kalte Wasser stoßen. Er ist jetzt fünf Jahre in deiner Firma in leitender Position beschäftigt und hat Produktionstechnik studiert. Er muss das können, du musst ihm mehr Verantwortung übertragen, musst ihn stärker fordern. Du bist zu nachsichtig mit deinem Sohn, er braucht eine starke Hand, die ihn sicher führt und leitet.

      Er blickte etwas traurig und versonnen auf das Bild eines Flötisten, der in einem feudalen Saal vor gut gekleideten Menschen spielte. Es handelte sich um Friedrich den Großen, der im Schloss Sanssouci ein Konzert gab. Das Bild - eine Kopie des berühmten Gemäldes von Menzel - stammte aus dem Familienbesitz und weckte zwiespältige Gefühle in ihm. Gern hätte er seinen Sohn in der Rolle des großen Königs gesehen; sowohl als Musiker und gleichzeitig als erfolgreicher Feldherr. Die divergierenden Eigenschaften ließen sich also durchaus miteinander verbinden. Warum nicht also bei seinem Sohn?

      - Sie erriet seine Gedanken: Hinrich ist nicht wie Friedrich der Große, er ist ein Träumer, er liebt nur seine Musik. Besonders Beethoven, Bruckner, Wagner und Brahms. In seiner gesamten freien Zeit übt er die Violinkonzerte, und in der letzten Zeit lässt er sich auch noch im Gesang ausbilden. Er hat eine schöne Tenorstimme, wie mir andere Musikliebhaber bestätigen. Du weißt, ich bin nicht sehr musikalisch, aber ich liebe die Musik. Sein Lehrer Paulsen meint, er könne bald als Solist in einem öffentlichen Konzert auftreten, zu Beginn vielleicht im kleineren Rahmen, zum Beispiel in einem Kirchenkonzert, um erste Erfahrung zu sammeln und sich einen Namen zu machen.

      - Er nickte: Ja, ich weiß, Hinrich ist musikalisch sehr begabt, das hat er von seiner so früh verstorbenen Mutter, die aus einer angesehenen Musikerfamilie stammte, wie du weißt. Erneut versuchte er sich etwas mühevoll an Vergangenes zu erinnern: Als Hinrich noch in den Windeln lag, starb sie bei der Geburt von Julia an Kindbettfieber. Eine Amme hat ihn groß gezogen. Sie diente schon bei unseren Eltern und hat Musik studiert. Vielleicht hat er die Musikliebe mit der Muttermilch in sich aufgenommen.

      - Sie wandte sich ab, strich sich über die Augen, als müsse sie eine hässliche Bilderserie fortwischen: Es war ein schreckliches Unglück. Ich war damals noch Oberärztin in der Klinik, die mir unser Vater ein paar Jahre später schenkte, und die ich bis heute leite. Ich war bei der Geburt anwesend. Zunächst schien alles gut gegangen zu sein, aber dann bekam sie während der unvollständigen Nachgeburt ganz plötzlich Kindbettfieber. Das Fieber breitete sich rasend schnell aus und führte zu heftigen Schock-Symptomen. Ihr Herz war nicht mehr in der Lage, den Kreislauf ausreichend mit frischem Blut zu versorgen. Damals konnten wir nichts mehr für sie tun, sie war zu schwach. Die sofort eingeleiteten Wiederbelebungsversuche blieben ohne Erfolg.

      - Er nahm ihre Hand, als wolle er sich mit ihr versöhnen: Ich weiß, dass ihr damals alles Menschenmögliche getan habt, um sie zu retten. Damit hast du der kleinen Julia das Leben gerettet. Du hast dich um sie wie eine Mutter gekümmert, hast ihr eine Amme besorgt. Letztlich hast du sie groß gezogen. Dafür ist sie dir ewig dankbar. Und ich bin es auch. Ich werde es dir nie vergessen.

      - Sie ergriff etwas versöhnlich seine Hand, und doch war ein gewisser Vorwurf zu spüren: Deine Frau wurde viel zu früh schwanger. Du hättest ihr mehr Zeit lassen sollen, damit sie sich von der ersten Geburt erholen konnte. Sie hatte noch nicht abgestillt. Sie meinte, die Muttermilch sei gut für das Kind. Für Hinrich hat sie alles getan, sie hat ihn abgöttisch geliebt. Letztlich hat sie für ihn ihr Leben gelassen.

      - Ziemlich abweisend sah er sie an: Machst du mir deshalb einen Vorwurf?

      - Energisch schüttelte sie ihren Kopf: Nein, ich sage nur, Marion war zu schwach für ein zweites Kind so kurz nach der ersten Geburt. Sie hatte sich von der Entbindung noch nicht richtig erholt. Das ist kein Vorwurf, nur eine Feststellung.

      - Traurig und auch mit einem nicht ganz versteckten Vorwurf blickte er ihr in die Augen: Du magst recht haben, aber das war nicht die Ursache für ihren Tod. Im Krankenhaus habt ihr damals die strengen Hygiene-Vorschriften nicht richtig beachtet. Man hat später, als die Gerichtsmediziner die Ursache für ihren Tod erforschten, an vielen Stellen multiresistente Krankenhauskeime wie Staphylokokken und auch Streptokokken gefunden.

      - Sie wandte sich ab als wolle sie den Gedanken verscheuchen: Wir wollen davon jetzt nicht sprechen. Jetzt geht es um dich, um deine Gesundheit und um die Rettung der Firma. Es geht auch um Hinrich, der wahrscheinlich irgendwann deine Nachfolge als Firmenchef antreten soll. Und es geht auch um Julia. Sie sollte stärker in die Firma eingebunden werden.

      - Er nahm noch einen Schluck Tee: Daraus wird wohl nichts werden. Ich sagte es schon: Hinrich ist zu weich, kann sich nicht durchsetzen. Er hat nicht die notwendigen Eigenschaften für die Führung eines weit verzweigten Konzerns. Er kann nicht „nein“ sagen. Er ist zu sehr auf zwischenmenschliche Harmonie und Konsens ausgerichtet. Man kann nicht immer alle Konflikte vermeiden oder aussitzen. Manchmal sind harte Entscheidungen gefordert, auch wenn sie nicht allen passen. Er lässt seinen Mitarbeitern zu viel Freiheit. Bei ihm können sie machen, was sie wollen. Darum ist er auch so beliebt. Sie mögen ihn, weil er ist wie sie.

      - Missbilligend schaute sie ihn an: Das liegt nur daran, dass du ihn immer hast gewähren lassen. Du hast die Zügel zu locker gelassen. Sein ganzes Leben konnte er tun, was er wollte. Bei dir kam er immer mit allem durch. Nie wollte er das lernen, was er lernen sollte. Jedes Mal hast du großzügig darüber hinweggesehen und meintest, er müsse aus seinen eigenen Fehlern lernen.

      - Das ist auch so: Man kann nur aus seinen eigenen Fehlern lernen. Wenn es manchmal auch schmerzhaft ist.

      - Nachdenklich nickte