gewesen sei und sie leider nicht wisse, aus welchem Grund.
Guido erkundigte sich, in welcher Weise Ingrid Einfluss auf die Entscheidungen ihres Bruders nähme.
- Genau weiß ich es nicht, sagte sie, aber die Geschwister sind durchaus nicht immer der gleichen Meinung. Sie wirft ihm vor, dass er bei der Erbschaft bevorzugt worden sei. Und er ist der Ansicht, dass sie ihr Erbe nicht richtig verwalte.
- Und entspricht das der Wahrheit?
- In gewisser Weise schon, denn er hat von seinem Vater die Majorität der Firmenanteile erhalten, während sie sich mit einem Drittel der Kommanditanteile begnügen musste. Zum Ausgleich hat sie aber die Klinik bekommen.
- Dann wäre das Erbe in etwa wohl ausgeglichen?, vermutete er.
- Nicht ganz, denn die Klinik hat jahrelang Verluste gemacht, die durch die auf sie entfallenden Gewinnanteile als Kommanditistin der Sämann-Gruppe nicht ausgeglichen werden konnten. Sie brauchte immer mehr Geld, als sie verdiente, während er ein stolzes Gehalt bezog. Das führte zu Spannungen zwischen den beiden.
- Und wie wirkte sich das auf die Geschäftsführung aus? Hat sie in seine unternehmerischen Entscheidungen eingegriffen?
- Nicht direkt, soweit ich weiß, aber so genau weiß ich das natürlich auch nicht.
- Du hattest eine ungewöhnlich bevorzugte Vertrauensstellung bei ihm. Hat das zu Konflikten innerhalb der Familie geführt?
- In gewisser Weise schon. Wir haben manche Kapitalanlagen miteinander besprochen. Ingrid misstraute mir, sie fürchtete, dass ich ihren Bruder in seinen finanziellen Entscheidungen negativ beeinflussen könnte und nur eigene Interessen verfolge. Bei Firmen-Angelegenheiten hat er mir vieles anvertraut, aber alle Interna hat er mir auch nicht gesagt.
- Und wie war dein Verhältnis zu den Kindern, vor allem zu Hinrich?
- Zu ihm hatte ich wenig Kontakt. Er war mir gegenüber immer sehr zurückhaltend, manchmal sogar ziemlich abweisend. Ich weiß auch nicht, warum. Mit Julia hatte ich wenig Berührung, weil sie meistens in Nicaragua war.
Sie verließen die Autobahn und fuhren die Schnellstraße nach Frankfurt. Er musste sich auf den dichten Stadtverkehr konzentrieren, so dass er die Unterhaltung unterbrechen musste, aber er hing weiter seinen Gedanken nach und fragte sich, wie er nun weiter vorgehen sollte.
Er nahm sich vor, jede Gelegenheit zu nutzen, mehr über Hinrich zu erfahren. Am besten direkt von Julia. Er kannte sie als offen und mitteilsam. Aber wie sollte das möglich sein? Er könnte sie unter dem Vorwand anrufen, dass sie eine Studie über die weitere Entwicklung der Start-up-Firmen planten. Und da sie damals bei dem Wettbewerb zu den großen Hoffnungsträgern gezählt hatte, möchte er weitere Einzelheiten über die Erfolgsgeschichte ihrer Firma erfahren. Das schien ihm hinreichend plausibel und unverfänglich zu sein. Sie würde ihm sicher seine Fragen beantworten. Vor allem wollte er wissen, ob sie künftig eine Karriere in der väterlichen Firma anstrebte. Offenbar hatte sie andere Pläne, obwohl sie seiner Meinung nach das Zeug für eine Firmenchefin hatte.
Vor allem bewegte ihn die Frage, was mit Hinrich los sei. Er war auf der Einladung des Grafen nicht anwesend gewesen. Das wunderte ihn. Schließlich würde er wahrscheinlich eines Tages der Nachfolger seines Vaters werden. Es musste einen triftigen Grund dafür geben. Vielleicht ein Zerwürfnis zwischen Vater und Sohn? Oder Zwistigkeiten zwischen den Geschwistern? Auch Reibereien mit seiner Tante Ingrid waren denkbar. Nicht ganz auszuschließen war auch ein persönlicher Konflikt mit dem Grafen, weshalb Hinrich seine Nähe mied. Konselmann würde versuchen, eine Antwort zu finden, denn davon hing sein weiteres Vorgehen ab.
Zunächst ging es darum, den bereits lose bestehenden Kontakt zu dem Sämann-Clan zu intensivieren. Dazu müsste er das Vertrauen aller Familienmitglieder gewinnen. Bei Julia konnte er sich sicher sein: Sie war ihm zu Dank verpflichtet. Schließlich hatte ihr der Start-up-Wettbewerb den Einstieg in ihr erfolgreiches Berufsleben ermöglicht. Aber sie war wohl nur eine Randfigur in dem Geschehen. Dann folgte Hinrich, der große Unbekannte: Eine unkalkulierbare Größe. Immerhin war er in leitender Funktion in der Firma tätig.
Schließlich noch die Schwester des Patriarchen. Als Chefin des Elisabeth-Krankenhauses war sie eine durchaus ernstzunehmende Person. Außerdem war sie maßgeblich an der Gruppe beteiligt. An erster Stelle rangierte aber der Firmenchef Wolfgang Sämann.
Wie könnte die weitere Kontaktaufnahme geschehen? Es musste diskret und professionell geschehen. Zunächst ging es um einen Beratungsauftrag. Das Weitere würde sich zu späterer Zeit entscheiden. Er würde er sich der Unterstützung von Isabelle bedienen müssen. Sie hatte den Kontakt, den er brauchte. Aber der Patriarch hatte sich bereits positioniert, als er auf seiner uneingeschränkten Funktion als alleiniger Firmenlenker beharrt hatte. Aber das musste nicht das letzte Wort gewesen sein. Den Patriarch zu überzeugen, das würde die konkrete Aufgabe sein. An ihm führte kein Weg vorbei.
Sie erreichten Isabelles Wohnung in Sachsenhausen, in der er schon des Öfteren gewesen war. Kaum dass sie ihr Gepäck abgestellt hatten, umfasste er ihre Hüfte und drückte sie fest an sich: Er spürte ihre festen Brüste durch das dünne Sweatshirt. Ich begehre dich, flüsterte er ihr ins Ohr.
- Auf diesen Moment habe ich schon lange gewartet. Ich kann es kaum mehr aushalten. Ich bin schon ganz feucht.
- Lass uns einen Augenblick entspannen.
Sie holte die Flasche aus dem Kühlschrank, nahm zwei Gläser aus dem Schrank und ging wortlos in ihr Schlafzimmer, schloss die Fenster und zog die Vorhänge vor. Er folgte ihr und küsste sie voller Leidenschaft.
Schnell hatten sie sich ihrer Kleidung entledigt, legten sich auf das Bett und genossen, worauf sie so lange gewartet hatten. Er küsste ihre Brüste und drang in sie ein. Von mir aus könnte das den ganzen Tag so bleiben, sagte sie und lächelte.
- Wir wollen uns Zeit lassen, heute sind wir beide nur für uns da. Wieder und wieder liebten sie sich, als sei es das letzte Mal. Kaum konnten sie voneinander lassen. Endlich erschöpft fielen sie in einen kurzen, aber tiefen Schlaf. Als er erwachte, lag sie in seinem Arm, blickte ihn an und sagte: Es war wunderbar. Wir sollten es viel öfter tun.
- Ja, wenigstens einmal in der Woche. Er erhob sich, griff sich den Bademantel, der immer für ihn bereit lag. Sie verließ den Raum und ging ins Badezimmer.
Er schenkte den Wein in die bereitgestellten Gläser. Als sie zurückkam, hatte sie ihre zerwühlten Haare geordnet, trug einen leichten Morgenmantel aus grauer Seide, küsste ihn und setzte sich an den kleinen Tisch. Sie lächelte glücklich und prostete ihm zu: Es war ein schöner Tag.
- Besonders der Abend. Ich hoffe, es werden noch viele weitere folgen. Wenn wir beiden uns weiterhin gut verstehen, dann gehört uns die ganze Welt.
- Das scheint mir doch etwas zu groß gegriffen zu sein, sagte sie lächelnd und sah dabei bezaubernd aus. Mir würde es genügen, wenn wir unser eigenes Geschäft richtig in den Griff bekämen.
- Darum werden wir uns bemühen und uns dabei gegenseitig nach besten Kräften unterstützen.
Es war mehr als ein bloßer Wunsch, es war ein gegenseitiges Versprechen.
Gedanken zur Nachfolge
Noch blickte die abendliche Sonne vorsichtig auf die Terrasse des stattlichen Hauses am Starnberger See, als sei sie nicht sicher, ob sie die Unterhaltung des Hausherren stören dürfe. Wolfgang Sämann saß mit seiner Schwester Ingrid am Tisch, wo sie den obligaten Nachmittagstee genommen hatten. Ein schöner Herbsttag neigte sich dem Ende zu, doch von unheilschwangerer Atmosphäre geprägt. Im Hintergrund die im Dunst verschwimmende Bergkette der Voralpen. Darüber erhoben sich bedrohlich wachsende Wolkentürme. Auf der leicht zum See abfallenden Wiese grasten friedlich ein paar Kühe. Sie schienen von dem drohenden Gewitter unbeeindruckt zu sein. Die Landschaft schien fast kitschig wie auf einer Postkarte oder einem Prospekt für Bio-Milchprodukte.
Der Senior saß in sich zusammengesunken, etwas gebeugt vom Alter, auch von Krankheit gezeichnet. Seine rechte Hand zitterte,