Arnulf Meyer-Piening

Das Doppelkonzert


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Meistens nehme ich kaum wahr, was das Publikum macht, ich sehe keine Individuen, nur eine unpersönliche amorphe Masse.

      - Aber hier ist es anders: Die Menschen sitzen viel dichter am Podium. Du kannst die einzelnen Gesichter sehen. Außerdem kennst du die meisten, das macht es viel schwieriger. Es ist so wie früher, wenn wir unter dem Tannenbaum vor der Familie in kleinem Kreis ein Gedicht vortragen mussten. Auf der großen Bühne in der Aula der Schule war es viel leichter.

      - Der Senior betrat die Bühne, wendete sich an seine beiden Kinder, die hinter dem Vorhang warteten: Seid ihr so weit? Lasst uns anfangen, die Gäste werden langsam unruhig.

      Die etwa zwanzig oder dreißig Gäste hatten auf den Stühlen, die für dieses Konzert in vier Reihen aufgestellt worden waren, Platz genommen und blickten erwartungsvoll auf die Bühne. Für die Nachzügler wurden weitere Stühle an der Seite bereitgestellt. Konselmann hatte im letzten Augenblick noch einen freien Platz hinter dem Gastgeber gefunden. Langsam kehrte erwartungsvolle Stille ein.

      - Ja, wir sind so weit, sagte Hinrich. Wir müssen noch unsere Instrumente ein Wenig nachstimmen.

      - Wolfgang Sämann wandte sich an das Publikum: Liebe Freunde und liebe Gäste, ich freue mich, dass Sie so zahlreich unserer Einladung zu unserem heutigen Hauskonzert gefolgt sind. Es ist mir eine besondere Freude, dass Sie aus Anlass meines Geburtstags zu mir gekommen sind. Ich freue mich, dass meine Kinder Julia und Hinrich mir und uns allen an diesem Abend eine besondere Freude bereiten wollen. Sie haben mir dies heutige Geschenk gemacht, denn sie wollen mein Lieblingsstück: Das Doppelkonzert von Johannes Brahms spielen.

      Verhaltener Applaus unterbrach die Stille. Der Patriarch machte eine Pause und stützte sich auf eine Stuhllehne. Er nahm einen Schluck Wasser.

      - Der Senior dankte mit einer schwachen Verbeugung und nahm den Faden wieder auf: Zunächst möchte ich unseren verehrten Generalmusikdirektor Bernd Paulsen herzlich begrüßen. Er ist Ihnen von vielen Konzerten als herausragender Brahms-Interpret bekannt.

      Heftiger Applaus brandete auf als Paulsen das Podium betrat und sich routiniert verbeugte.

      - Bei seinem Erscheinen auf der Bühne wandte sich der Patriarch direkt an ihn: Lieber Herr Paulsen, Sie sind gerade von einer Tournee nach Japan und China zurückgekehrt. Umso mehr freue ich mich, dass Sie sich trotz Ihrer vielfältigen internationalen Verpflichtungen die Zeit genommen haben, den gesamten Orchesterpart dieses anspruchsvollen Werks auf dem Klavier zu übernehmen. Eine nicht leichte Aufgabe. Es ist eine große Ehre für mich und unser Haus, Sie hier bei uns im Hause zu haben.

      - Lieber Herr Sämann, ich bin Ihrer Einladung gern gefolgt, antwortete der Musikdirektor. Ich weiß, was Sie in unserer Stadt für die Musik und die Förderung junger Musiker getan haben, so nehmen Sie meinen Beitrag gleichsam als Dankgeschenk an Sie und Ihre liebe Familie.

      - Der Senior verneigte sich leicht und fuhr mit seiner Ansprache fort: Ich bitte Sie, meine Damen und Herren, die Solisten des heutigen Abends mit Applaus zu empfangen.

      Julia mit ihrem Cello und Hinrich mit seiner Geige im Arm betraten das Podium. Applaus brandete auf. Langsam trat Stille ein, das Räuspern und Husten ebbte ab.

      - Paulsen bat um einen Augenblick der Ruhe: Ich bin sehr froh, Ihnen heute das Doppelkonzert von Johannes Brahms in ungewöhnlicher Besetzung vorstellen zu dürfen. Es handelt sich um sein sinfonisch-konzertantes Abschiedswerk, das die historische Größe des Brahmsschen Oeuvres ausdrucksvoll demonstriert. Trotz seiner Schönheit wird es selten aufgeführt, das mag daran liegen, dass es an der Schwierigkeit liegt, zwei überlegende und übereinstimmende Künstler als Solisten für dieses äußerst diffizile Werk zu gewinnen. Das ist für den heutigen Abend in überzeugender Weise gelungen: Julia Sämann ist extra deshalb aus Nicaragua angereist. Und ihr Bruder Hinrich hat seine Aufgaben als Geschäftsführer der Firma Sämann für ein paar Stunden zurückgestellt und präsentiert sich Ihnen heute als Geigenvirtuose. Julia unterrichtet Musik an der von ihr gegründeten Schule. Sie ist mit ihrem Cello in besonderer Weise verbunden. Sie könnte überall in der Welt als Solistin auftreten.

      Applaus brandete durch den Saal wie Wellen an einer steilen Felsenküste vielfach reflektiert.

      - Paulsen hob die Hand zum Zeichen, dass jetzt Ruhe einkehren sollte: Hören Sie nun das Doppelkonzert von Brahms für Violine und Violoncello a-Moll Opus 102. Lassen Sie mich einleitend noch ein paar Bemerkungen zu diesem Werk machen: Brahms hat es 1887 komponiert. Ich bedaure, dass ich Ihnen das Werk nicht in seiner vollständigen Orchester-Besetzung vorführen kann. Es wären etwa hundert Musiker erforderlich gewesen, was ein erhebliches logistisches Problem dargestellt und auch die Möglichkeiten dieses Raumes überfordert hätte. Aber ich werde mir alle Mühe geben, Ihnen am Flügel den Eindruck von der Farbigkeit und Schönheit dieses Werkes zu vermitteln.

      Herr Paulsen nahm seinen Platz am Flügel ein. Hinrich stellte sich so, dass er gleichermaßen Blickkontakt zum Pianisten und zu Julia hatte. Sie nahm am Podiumsrand Platz, so dass sie sowohl ihren Bruder als auch den Pianisten im Blick hatte. Hinrich sah seine Schwester fragend an und sie nickte.

      Der Hausherr setzte sich in der ersten Reihe in die Mitte zwischen Isabelle von Stephano und seiner Schwerster Ingrid. Die beiden Damen waren modisch elegant gekleidet. Isabelle trug ein enganliegendes, tief ausgeschnittenes leuchtend rotes Kleid und Ingrid trug ein figurbetontes graues Kostüm, das ihr vorteilhaft stand. Sie hatte sich ihr jugendliches Aussehen durch hartes Training im Fitness-Studio bewahrt.

      Der Pianist regulierte seinen Sitz auf die richtige Höhe. Er schlug ein paar Töne und Akkorde an. Hinrich übernahm den Kammerton A, korrigierte ein wenig die Stimmung seiner Geige und Julia tat das Gleiche. Zufrieden nickten sie. Eine aufmerksame Erwartung erfüllte den Raum. Die Gäste erwarteten einen ganz besonderen Musikgenuss, abseits des normalen Musikbetriebs der Philharmonischen Konzerte. Ein erlesener Kreis musikinteressierter Hörer hatte sich versammelt. Sie erwarteten das Außergewöhnliche, etwas bisher nie Gehörtes.

      Paulsen hob den Arm zum Zeichen, dass er nun beginnen wollte. Im Saal trat erwartungsvolle Ruhe ein. Der erste Takt begann mit dem energischen Kopfteil des Hauptthemas. Schon im fünften Takt setzte Julia ein und umspielte das Thema. Sie trug ein langes schwarzes und schulterfreies Kleid, das ihre schlanke Figur elegant betonte. Hinrichs Violine brachte zarte Andeutungen des zweiten Themas. Nach wenigen Takten spielten sich die beiden Solisten die einzelnen Motive wechselseitig zu und zwangen das Orchester (hier dargestellt durch das Klavier) zu einer ausführlichen Exposition.

      Hinrich trug einen maßgeschneiderten Frack. Rhythmisch im Takt tänzelte er elegant über das Podium und wiegte sich in den Hüften, wie ein zweiter Paganini. An besonders ausdrucksvollen Passagen warf er seinen Kopf in den Nacken und beugte sich alsdann über seine Geige, in die er sein Ohr zu tauchen schien, um auch nicht die kleinste Nuance des Tons zu versäumen.

      Er fixierte mit seinen dunklen Augen die Frau in dem roten Kleid, die neben seinem Vater saß, und die jede seiner Bewegungen andächtig in sich aufnahm, als sei er speziell für sie vom Himmel als Erzengel Gabriel gesandt. Schon wähnte sie sich als seine Geliebte und träumte von weltweiten Tourneen an der Seite des international gefeierten Stars. Traum und Realität verschwammen vor ihren Augen zu einer unlösbaren Einheit.

      Der Pianist verstand es meisterhaft, den Klang des vollen Orchesters mit Flöten, Oboen, Klarinetten, Fagotten, Hörnern und Trompeten, Pauken und Streicher auf dem Klavier zu intonieren, so dass die Zuhörer glaubten, ein ganzes Orchester zu hören. Die herrlichsten Akkorde erfüllten den Raum und unterdrückten jedes störende Geräusch. Kaum dass die Hörer zu atmen – oder gar zu husten - wagten. Sie lauschten den überirdischen Klängen, die gleichsam vom Himmel zu stammen schienen.

      Die beiden Solisten eröffneten die klangvolle Themenaufstellung und setzten starke Akzente. Das Orchester – einzigartig dargestellt vom Pianisten - griff die Themen auf und begann mit der Durchführung, indem die Tempi variierten und Umkehrungen mit neuen Klangerlebnissen brachten.

      Nach einer Viertelstunde hatten sie den ersten Satz mit seinen lyrischen Passagen und einer heftigen konfliktbehafteten Durchführung beendet. Die Spannung zwischen den beiden ungleichen Teilen schien sich auf die Hörer zu übertragen. Sie schwankten zwischen heiterer