Kurt Pachl

Bodos zornige Seele


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      Kapitel 6

      Zwischenzeitlich war eine riesige Maschinerie angelaufen. Allen wichtigen Stellen in Kanada, in den USA, in England sowie in Australien und Neuseeland lagen detaillierte Informationen vor. Alle weiteren Länder, die nicht den Fife-Eyes angehörten, wollte das Innenministerium zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht mit einbeziehen.

      Für die Anwesenden stand fest: Die Täter waren ausgesprochene Spezia­listen. Spurenleser hatten das Plateau ausfindig gemacht, von wo aus die Schüsse abge­geben worden waren. Eine fast unumstößliche These besagte, dass die Schützen mit dem Kutter unterwegs gewesen waren, welcher in Flammen aufgegangen und kurz danach gesunken war. Allerdings gab es nicht die geringste verwert­bare Spur. Als sicher musste weiterhin gelten, dass alle oder ein Teil der Täter ein Flugzeug vom kleinen Flugplatz am Rande der Straße 430 nach Yarmouth genommen hatten.

      Das Flugzeug war jedoch gegen 15:00 Uhr vom Radar ver­schwunden. Bislang fehlte jede Spur der Maschine. Die Auswertungen der Kame­ras im kleinen Flughafengebäude in Yarmouth ergaben keine verwert­baren Erkenntnisse.

      Es stand außer Frage, dass alles nur Erdenkliche unter­nommen werden musste, um alle Männer dieser grausamen Aktion dingfest zu machen. Der Innenminister hatte diesen Vorgang zur Chefsache erklärt. Gleichzeitig waren seitens der wichtigsten Politiker des Landes am vorigen Abend in einer Telefonkonferenz folgende Beschlüsse gefasst worden: Unter keinen Umständen durfte bekannt werden, dass Robbenjäger auf die vorlie­gende Art ums Leben gekommen waren. Das Thema Robbenjäger durfte nicht mehr in der Öffentlichkeit breitgetreten werden. Der Hauptgrund bestand darin, den Tourismus nicht zu gefährden. Im Bereich Old Harry, einem Teilstück des St. Lorenz-Golfs war eine wichtige Tiefseebohrung geplant. Die Investoren der Öl­plattform durften nicht verschreckt werden. Neufundland hatte immer noch eine Arbeitslosenquote von weit über dreißig Prozent. Man wollte vor allem keinen Ärger mit dem dortigen, äußerst kampfeslustigen Gouverneur haben.

      Da ein kleiner Sturm drohte, ging Bradly am Abend des 16. April 2010 in Atlantic Highlands vor Anker. Weit im Norden sahen sie die Skyline von New York. Richtung Osten erstreckte sich eine schmale Halbinsel und schirmte die Bucht, das Gateway National Rec. Area, zum Atlantischen Ozean hin ab.

      Marco hatte einige Male ausgiebig im Internet recherchiert. Bei seiner Suche war er äußerst vorsichtig. Er durfte keine Keywords eingeben, welche die NSA oder andere Geheimdienste hätten alarmieren können. Er wurde nicht fündig. Nichts. Totenstille. Bradly sollte nun Zeitungen kaufen. Marco schärfte ihm ein, möglichst nicht alle Zeitungen von einem Stand zu kaufen.

      Erst nach einer Stunde, die Sonne war bereits hinter Perth Amboy untergegangen, kam Bradly seelenruhig zur Yacht zurück; bewaffnet mit zwei großen Tüten. In einer Tüte hatte er eine große Anzahl Tageszeitungen, und in der anderen befand sich frischer Proviant. Das sei unauffälliger gewesen, sagte er. Bodo nickte anerkennend. Gemeinsam stürzten sie sich über die The Globe and Mail und über die National Post, den überregionalen Zeitungen. Der gestrige Vorfall existierte für diese Zeitungen nicht. Auch in den Tageszei­tungen von Quebec, der Le Devoir und der Montreal Gazette, wurde die gestrige Aktion unterschlagen. Bodo fischte sich die Regionalzeitung von Neu­fundland, The Western Star aus dem Zeitungsstoß.

      »Hier. Hört mal«, sagte Marco. Er hatte die The Chronicle Herald von Nova Scotia vor sich liegen. Er las vor: »Kutter in Flammen aufgegangen. Vorfall wird von der RCMP untersucht.« Der IT-Spezialist runzelte die Stirn und schnaubte: »Aber sonst steht hier nichts weiter.« »Das macht mich etwas nervös, was hier steht«, sagte Bodo und begann vorzulesen: »Mysteriöse Kette von Vorfällen. Sechs Robbenjäger ertrunken. Ein Kutter ausgebrannt. Wasserflugzeug vermisst. Plötzlich vom Radarschirm ver­schwunden. Die RCMP in Ottawa wurde eingeschaltet.«

      »Das klingt nach Nachrichtensperre«, sagte Marco. »Die wollen das Thema totschweigen. Kannst du dir einen Reim darauf machen, Bodo?«

      Der Angesprochene warf seine Zeitung auf den runden Tisch des Achter­decks. »Das ganze Thema ist äußerst komplex», begann er. »Wir haben ja Zeit.« Er lehnte sich in seinem gemütlichen Stuhl zurück.

      »Ich muss ein bisschen ausholen. Vor Neufundland trifft der eisige Labrador­strom auf den wärmeren Golfstrom. An keiner Stelle der Erde wurde seit hunder­ten von Jahren mehr Kabeljau gefangen als hier. Das zog vor allem in den 70er- und 80er Jahren riesige Fischfangflotten an; aus den USA, natürlich auch aus Japan und seit alters her aus vielen europäischen Ländern – aber natürlich auch aus Kanada, was immer unterschlagen wurde. Ja, auch kanadische Fischfang­flotten fischten den Neufundländern den Kabeljau vor der Nase weg. Das Fische­reiministerium in Ottawa hatte alle Bedenken und Untersuchungen von Wissenschaftlern weggewischt, dass die Bestände bedenklich abgenommen hätten. Allein in Neufundland lebten damals 700 Dörfer vom Fischfang. Es gab über 12 000 Fischer und davon mindestens 5 000, die sich ausschließlich auf Kabeljau spezialisiert hatten. In den 80er Jahren ging der Fang von schät­zungsweise 200 000 Tonnen Kabeljau pro Saison schlagartig zurück.«

      Bodo stand sichtlich erregt auf. Er lehnte sich an die Reling. Viele zum Teil hektische Gesten begleiteten seine weiteren Ausführungen.

      »Dummheit und grenzenlose Gier – wie überall auf diesem Planeten. Eine Arma­da aus weiteren Ländern wollte ihren Anteil am unerschöpflichen Fischreich­tum. Früher kamen einige Schiffe und fuhren mit reicher Beute wieder nach Hause. Das änderte sich relativ schnell. Unvorstellbar riesige, hochmoderne Fabrikschiffe ankerten das ganze Jahr über. Unzählige Fang­schiffe brachten unun­terbrochen neue Fracht. Der Kabeljau wurde auf diesen Fabrikschiffen ausgenommen, filetiert und bereits in verkehrsfähigen Verpackungen schock- und tiefgefroren. Das konnte nicht gutgehen.

      Diese Idioten haben erst dann reagiert, als das Kind erkennbar in den Brunnen gefallen war. Der NAFO und das Fischereiministerium in Ottawa erließen ein Fangverbot auf unbestimmte Zeit. Das hatte für Neufundland dramatische Auswirkungen. Es entstand eine Arbeitslosenquote von über vierzig und mehr Prozent. Viele wanderten aus, verdingten sich auf Bohrinseln oder fingen vor Langeweile an zu saufen.

      Das Fischereiministerium fand, zumindest zum Teil, einen Ausweg. In Kanada schätzte man den Bestand an Robben auf 5,8 Millionen Tiere; Tendenz steigend, sagte man. Sie gaben 300 000 Robben zum Fang frei. Die Robbenfelle erzielten am Anfang relativ hohe Preise. Aus vielen ehemaligen Fischern wurden Robbenjäger. Sie gingen mit den Robben artähn­lich um, wie mit dem Kabeljau. Beim Kabeljaufang musste es schnell gehen. Nie­mand war sensibilisiert, ob ein Fisch bereits tot war, wenn man ihn aufschlitzte. Die Fischer sahen die Robben ohnehin als Wettbewerber. Die Robben fraßen ihnen die Fische weg. Warum sollte man zart mit diesen Biestern umgehen, meinten viele von ihnen. Oftmals war ihr Kopf ohnehin vom Alkohol umnebelt, wenn sie mit Kuttern und den Hakapiks loszogen. Das waren keine Robbenjäger, wie die Eingeborenen von früher. Sie hatten keine Achtung vor diesen Kreaturen. Viele von ihnen wurden zu seelenlosen Schlächtern. Schnell musste es gehen. Und die Felle durften nicht beschädigt werden.

      Ja – und dann kamen die Naturschützer. Sie demonstrierten und liefen zwischen ihnen und den Robben herum. Sie fotografierten, und überall auf der Welt wurden die ehemaligen Fischer als Robbenschlächter geächtet. Dabei wollten sie doch nur ihren Lebensunterhalt bestreiten – war in den Veröf­fentlichungen des Fischereiministeriums zu lesen. Sie ignorierten, dass drei oder vier Wochen alte Robbenbabys ebenfalls abgeschlachtet wurden. Mit den Whitecoats, den Robbenbabys, ließ sich noch mehr Geld verdienen. 1987 wurde dies zwar offiziell verboten, aber wer kontrollierte dies da draußen in der Einöde? Sie ignorierten Fakten, woraus hervorging, dass Robben bei lebendigem Leib das Fell über die Ohren gezogen wurde. Und irgendwann kam es sogar unter den Robbenschützern zum Eklat. Einer der Gründer von Greenpeace, Paul Watson, warf kurzerhand die Felle und die Hakapiks einiger Robbenjäger ins Wasser. Das ging seinen Gefährten zu weit. Greenpeace schloss ihn aus. Aber Watson wollte sich nicht auf das Beten verlegen, und gründete die Sea Shepherd Conservation Society. Robbenfänger und vor allem die japanischen Walfänger, welche sich nicht an das geltende Gesetz hielten, mussten fortan mit der Gegenwehr Watsons und seinen Mitstreitern rechnen.

      Die Lage