bestückt waren. Jetzt übernahm er das Ruder, da alle sechs Schützen damit beschäftigt waren, sich zu entkleiden. Zwei Schützen legten jeweils ihre Kleidung in eines der vorbereiteten Netze; Stiefel und Overall mit Fellmütze. Danach zogen sie ihre persönlichen warmen Kleidungen an. Amaro und Ole suchten mit Ferngläsern das Ufer ab. Erst als sie zufrieden nickten, warfen Cristostomo, Bradly und Vincent die drei Netze über Bord. Bradly übernahm wieder das Kommando über das Schiff und steuerte in Richtung Nordwest zur Seal Bay. In kleinen Abständen ließen Amaro und Ole die sechs Futterale mit den Gewehren ins Wasser gleiten. Sie waren schwer genug, um rasch auf den Grund der Bay zu sinken; auf eine Tiefe von mindestens 300 Metern, wie Amaro versichert hatte.
Knurrend setzten sich die Schützen nacheinander auf einen Stuhl im Führerhaus. Es war Marcos Aufgabe, mit einem speziellen Lösungsmittel die Augenlider und Wimpern zu reinigen. Danach mussten die Männer ihre Lippen und Nasenlöcher sorgfältig reinigen. Bodo entging keine Bewegung. Alle Utensilien übergaben sie Marco, der diese in einem Beutel mit einer Bleikugel verstaute, und den Beutel rasch über Bord gehen ließ.
Erst jetzt atmete Bodo erleichtert auf. Selbst wenn sie heute oder in den nächsten Tagen festgenommen würden, gäbe es keine stichhaltigen Beweismittel. Alles war bis ins kleinste Detail geplant.
Kapitel 4
Die Straße 430 im Norden von Neufundland führte direkt an der Seal Bay vorbei in Richtung St. Anthony. Bei einem kleinen Fischerhafen hatte Cristostomo den großen und alten Geländewagen abgestellt. Bodo hatte Bradly eingeschärft, den Kutter am äußersten Ende des kleinen Hafens anzulegen. Während die Männer von Bord kletterten, war es Oles Aufgabe, mehrere kleine Sprengsätze mit Zeitzünder knapp unterhalb der Wasserlinie anzubringen. Die Detonationen durften nicht laut sein. Gleichzeitig würde an mehreren Stellen des Kutters Feuer ausbrechen und rasch alle DNA-Spuren beseitigen. Erst danach sollte der Kutter auf Grund sinken.
Beim Verlassen des Kutters blickte Bodo auf die Uhr. Es war inzwischen kurz vor 11:00 Uhr. In wenigen Minuten sollten sie am Flugplatz sein, und spätestens in dreißig Minuten würde das Flugzeug abheben.
In Yarmoth, im äußersten Westen der Halbinsel Nova Scotia, würden sie voraussichtlich gegen 13:30 landen, hatte Vincent versprochen. Und gegen 14:30 Uhr wären sie mit der Yacht im Golf von Maine und kurze Zeit später im Atlantik in Richtung Süden. Der Kutter durfte deshalb nicht zu früh gesprengt werden. Sehr clevere Ermittler könnten eine Verbindung zum nahegelegenen Flugplatz herstellen – und damit zum Flug nach Nova Scotia. Andererseits war es notwendig, alle Spuren auf dem Kutter zu vernichten. Keine DNA-Spur durfte zurückbleiben; kein Fingerabdruck; nichts Verwertbares.
Nach fünfzehn Minuten erreichte der Geländewagen den kleinen Flugplatz. Vincent, der fließend französisch sprach, hatte ein Flugzeug reserviert, und dem Piloten zweihundert kanadische Dollar zusätzlich versprochen, wenn dieser unverzüglich nach ihrer Ankunft vom Flugplatz abheben würde. Er gab die Mannschaft als Geschäftsleute und Ingenieure aus, welche einen sehr wichtigen Termin in Yarmouth hatten. Um diese Jahreszeit gab es keine große Auswahl an Flugzeugen. Ein kleines Flugzeug hätte nur vier Passagiere aufnehmen können, weshalb nur noch das Wasserflugzeug übrigblieb; eine Turboprop DHC-3T Turbine Otter.
Der Abschied von Cristostomo und Amaro war kurz, herzlich und wortlos. Amaro und Cristostomo würden in fünfundvierzig Minuten in St. Barbe auf der Fähre zum Festland nach Quebec sein. Vereinbart war, dass Cristostomo in Blanc-Sablon ein Flugzeug nach Ottawa nehmen sollte. Dort hatte er seinen Jeep abgestellt. Amaro hatte sein geländegängiges Fahrzeug in Blanc-Sablon bei einem Freund geparkt. Zunächst war es seine Aufgabe, den Geländewagen mit eventuellen Fingerabdrücken und DNA-Spuren zu beseitigen. Danach würde er sich mit seinem Wagen auf Schleichwegen durch die Einöde schlagen. Hier war er zuhause. Die Bundesstraße 510 endete zwar dreißig Kilometer westlich in Middle Bay. Entlang der Küste gab es offiziell erst wieder eine Straße in Natasquan; über 400 Kilometer entfernt.
Der Pilot musterte seine fünf Passagiere. Hier oben war es angebracht, nur Männer ins Flugzeug zu nehmen, denen man auch vertrauen konnte. Vincent unterhielt sich mit ihm in französischer Sprache, worauf sich die Miene des Piloten schlagartig lockerte.
Es war ein Inlandflug. Nova Scotia, im äußersten Südosten, gehörte noch zu Kanada. Also verzichtete er auf Papiere. Allerdings musste er seinen Flug der Flugsicherheit melden, und den Flugplatz in Nova Scotia informieren, wann mit der Landung zu rechnen sei. Vincent sollte neben dem Piloten Platz nehmen. Marco und Bradly arbeiteten sich nach hinten. Als Bodo Ole bat, mit ihm den Platz hinter dem Piloten einzunehmen, wusste der norwegische Luchs, was er zu tun hatte.
Vincent gab die Mannschaft als Experten für Bodenschätze aus. Das war in Kanada und Labrador nichts Ungewöhnliches und hätte den Piloten eigentlich beruhigen müssen. Doch warum blickte dieser Bursche auffallend oft in den Rückspiegel? Das war mehr als reine Neugierde.
Die Männer hinter dem Piloten sprachen kein Wort. Seit über zwölf Jahren waren sie fast täglich zusammen. Ole verstand inzwischen aus der kleinsten Hand-, Mund- oder Augenbewegung Bodos zu lesen. Ole hatte keinen sehr hohen IQ. Dafür war er mit einer raschen Auffassungsgabe und einem außergewöhnlichen Instinkt ausgestattet.
Als der Hüne ganz bewusst einige Sekunden die Lider seiner Augen schloss, war dies für den Norweger ein unmissverständliches Signal: Von diesem Piloten ging eine große Gefahr aus. Deshalb durfte dieser Mann nicht überleben.
Bodo lehnte sich in den Sitz zurück. Er versuchte, ein wenig zur Ruhe zu kommen, und die letzten Stunden zu verarbeiten.
In den letzten fünfzehn Jahren hatte er sich, zusammen mit vielen Aktivisten, darauf konzentriert zu helfen, zu schützen und zu bewahren. Immer wenn er die Augen schloss, waren sie da … diese Bilder … von den angstverzerrten Augen der Tiere in den Laboratorien … von den traurigen und skandalösen Massentierhaltungen … von den Zehntausenden toten oder ölverklebten Vögeln … von den Einsätzen gegen den bestialischen Walfang und gegen Robbenschlächter … von der geschundenen Schöpfung. Er hatte diese Bilder mit seinen eigenen Augen gesehen. Sie waren durch ein Meer des Leidens, der Widerstände, der bodenlosen Arroganz, der Dummheit, der Ohnmacht, der Wut und der Tränen gegangen. Sie hatten sich treten, schlagen und einsperren lassen. Allein Little Guantanamo war die Hölle gewesen.
Nein, es war nicht falsch, Ewalds Tod zu rächen. Diese seelenlosen Schlächter hatten den Tod verdient.
Wie oft stand er mit hunderten Aktivisten im kalten Ölschlamm. Sie froren, zitterten und weinten, wenn sie in die flehenden Augen der vielen tausend Wasservögel sahen. Und auch später, wenn er mit seinen eigenen Augen die unvorstellbaren Umweltzerstörungen miterleben musste - hatte er sich oft gewünscht, eine Pistole in den Händen zu haben … weil ihm in diesen Augenblicken bewusst wurde, dass hier alle Worte endeten. In seinen Träumen hatte er schon oft eine Pistole oder ein Gewehr in den Händen – und aus Wut und Verzweiflung geschossen; mit Tränen in den Augen.
Doch heute - das war kein Traum. Heute hatte er seine Träume Realität werden lassen. Ewald hätte versucht, diese Aktion zu verhindern. »Gott wird sie eines Tages richten«, wären seine Worte gewesen. Aber in der Zwischenzeit würden diese Wesen weiterhin Unheil anrichten an dieser schönen Natur mit ihren herrlichen Geschöpfen. In Bodos Seele rumorte es seit vielen Jahren. In ihr fanden Kämpfe statt. Sie krümmte sich vor Schmerzen. Sie weinte. Sie schrie. Sie ließ ihn nicht zur Ruhe kommen. Er war die ganzen vielen Jahre ruhelos. Oft hatte er sogar mit dem Gedanken gespielt, diesen entsetzlichen Bildern in seiner Seele zu entrinnen, indem er sich und seine Seele auslöschte - um endlich zur Ruhe zu gelangen; zu einer göttlichen und endgültigen Ruhe. Jetzt fühlte er sich auf eine ihm unerklärliche Weise frei von diesen Ängsten und Schmerzen. Jetzt schämte er sich sogar ob seiner Sehnsüchte, in der Vergangenheit seinem Leben ein Ende setzen zu wollen. Das wäre falsch gewesen. Grundfalsch. Vor dem Tod hatte er wahrlich keine Angst. Ein sinnloser Tod wäre jedoch eine Schande gewesen – nein nein, eine Sünde.
Irgendetwas ließ Bodo leicht zusammenzucken. Er spürte Oles Hand auf seinem Arm.
»Alles, was du tust, ist richtig«, hörte er Oles