zischte er leise.
Bodo, der am linken Rand kniete, antwortete leise: »Eins«.
Ole neben ihm sagte: »Zwei.«
Danach kamen Amaro, Bradly, Vincent und rechts außen befand sich Cristostomo. Unabhängig davon, wie immer sich die Robbenschlächter bewegen würden; »ansprechen« mussten jeweils die Schützen von links nach rechts entsprechend den Männern am Strand gegenüber - von links nach rechts.
Aus der rechten Brusttasche des Overalls zogen nun die Männer weiße Gesichtsmasken und weiße Gummihandschuhe. Bodo hatte ursprünglich darauf bestanden, auch enganliegende Brillen zu tragen. Er war ein Sicherheitsfanatiker. Für den Extremfall, dass einer der Schützen gefangen genommen würde, wollte er sicherstellen, dass ihnen nicht der leiseste Hauch von Schmauchspuren anhaftete; zum Beispiel an den Wimpern. Anhand der Schmauchspuren ließe sich weitestgehend ermitteln, mit welchem Waffentyp und mit welcher Munition geschossen worden war. Die Kleidung, die Gesichtsmasken und die Handschuhe mussten unmittelbar nach der Aktion vernichtet werden. Vor allem Amaro konnte Bodo überzeugen, dass eine Brille bei einem noch so geringen Rückschlag des Gewehres ein Sicherheitsrisiko darstellte. So einigten sie sich darauf, später auf dem Boot die Körperteile hinter den Öffnungen der Gesichtsmasken mit einer Speziallösung sorgfältig zu reinigen.
Als sie das Tuckern des Kutters hörten, legten sie sich aus Sicherheitsgründen flach auf den Bauch. Durch einen Zufall könnte einer der Robbenjäger mit dem Fernglas das Gebiet absuchen. Das war zwar äußerst unwahrscheinlich, jedoch nicht gänzlich auszuschließen. Amaro hatte ausgerechnet, dass die Robbenjäger frühestens in zwanzig Minuten nach dem ersten Stopp des Kutters am festgelegten Aktionspunkt angelangt sein würden.
Auf der gegenüberliegenden Festlandseite, am Fuße der Bergkette, hatten Wind und Wellen zwanzig bis dreißig Meter breite Schotterbänke ausgewaschen. Auf diesen Schotterinseln, die teilweise noch mit einer leichten Schneedecke bedeckt waren, hatten sich unterschiedlich große Robbenkolonien versammelt. Zu dieser Jahreszeit waren die meisten Robbenjungen vier bis sechs Wochen alt. Das Spektakel der Jungen war aufgrund der dünnen Luft und der Entfernung von dreihundert bis vierhundert Metern so laut zu vernehmen, als wären diese nur wenige Meter entfernt. Direkt gegenüber, auf der dritten Schotterbank von rechts, lagen fünf Robbenmütter, Sattelrobben und fünf Jungrobben. Zwei davon trugen noch ein weißes Fell und waren demnach noch keine vier Wochen alt. Die übrigen Jungrobben hatten ein Alter von sechs bis maximal sieben Wochen.
Kapitel 2
Bodo war plötzlich unendlich traurig. Ihm wurde bewusst: Es lag zwar in seiner Macht, diese Robben dort drüben zu retten. Ewald hatte dies damals versucht – vor nun genau zehn Jahren. Ewald … vergib mir, dass ich dich damals mitgenommen habe, sinnierte Bodo. Ewald, sein Kindheits- und Jugendfreund … sein Blutsbruder … sein Anker in so vielen Stunden … Für ihn, diesen leidenschaftlichen und bekannten Naturfotografen, waren diese Bilder, diese unschuldigen und lebensfrohen Robbenbabys das Paradies schlechthin. Bodo schloss kurz die Augen. Ihm war, als hörte er Ewalds erregte Stimme.
Vor seinem geistigen Auge sah er nun wieder, wie sich Ewald mit seiner Kamera auf allen vieren an die kleinen Robben heranarbeitete, um hautnah Bilder schießen zu können. Die Evolution hatte es so eingerichtet, dass aus der Sicht der Robben vom Menschen keine Gefahr ausging. Also blieben die Robbenmütter seelenruhig liegen, und die Robbenbabys ließen ihrer Neugierde freien Lauf und schnupperten am Objektiv von Ewalds Kamera.
»Schau dir das an. Sind sie nicht süß? Toll. Danke Bodo«, flüsterte er aufgeregt zu Bodo, Simone, Ole und Vincent hinüber.
Durch die Robben abgelenkt, war ihnen entgangen, dass sich ein Kutter näherte. Bodo hatte mit den Robbenjägern erst am darauffolgenden Tag gerechnet, da die Jagdsaison erst ab dem 15. April freigegeben wurde. Sie hörten das Tuckern des Motors und das Zerspringen der dünnen Eisdecke. Kurz darauf fuhr der Kutter knirschend auf die Kiesbank. Dann ging auf einmal alles sehr schnell. Sechs Männer in braunen Overalls sprangen vom Boot. Offensichtlich hatten sie die Aktivistengruppe bereits gesehen. Die beiden größten Robbenjäger stapften rasch auf Bodos Gruppe zu. Die restlichen Robbenschlächter begannen im Akkord mit ihren Hakapiks, den Spitzhacken, auf die jungen Robben einzuschlagen. Lautes Jammern und Klagen erfüllte die kalte Luft – und immer wieder die dumpfen Schläge der Hakapiks. Keine Robbe machte Anstalten, zu fliehen. Es war, als hätten sie ihr Schicksal klagend angenommen; als würden sie lediglich flehen und bitten, verschont zu werden. Doch die Schläge trafen selbst die weißen Robbenbabys. Für die Robbenschlächter waren es Whitecoats. Die Preise pro Robbenfell waren rückläufig. Aber für Whitecoats zahlten die Chinesen viel Geld. Die Jagd auf weiße Robbenjungen war seit 1987 offiziell verboten. Umso erstaunlicher war es gewesen, dass diese Männer in einen Tötungsrausch verfielen, obwohl sie davon ausgehen mussten, beobachtet zu werden.
Ewald fotografiert hektisch und rannte auf die Robbenschlächter zu; schreiend und weinend. Er kam nicht weit. Einer der beiden Robbenjäger war bei ihm angelangt. Ohne Vorwarnung schlug einer von ihnen mit der Hakapik Ewald die Kamera aus der Hand. Wie erstarrt blickte der Fotograf einige Sekunden auf seine zertrümmerte Kamera. Seine Kamera war sein Heiligtum! Wie von Sinnen stürzte er sich auf den Robbenjäger. Der Fotograf war 195cm groß und durchtrainiert. Er hob den Robbenschlächter hoch wie ein Spielzeug. In diesem Augenblick traf ihn die Spitzhacke des zweiten Jägers.
Ewald ließ den Mann fallen, sackte in die Knie und krümmte sich am Boden.
Bodo, Vincent und Ole waren rasch zur Stelle gewesen. Bodos Tritt traf den Hakapik-Schläger in die Magengrube. Der Mann taumelte mehrere Meter zurück und ging in die Knie. Noch bevor er aufstehen konnte, hatte der deutsche Hüne ihn hochgerissen und ihn in hohem Bogen durch die Luft geworfen. Krachend durchbrach der Körper die dünne Eisdecke und landete im Wasser. Ole traktierte den zweiten am Boden liegenden Robbenjäger.
Vincent hatte aufgrund seiner Kriegseinsätze sofort erkannt, dass Ewald schwer verletzt sein musste. Rasch öffnete er die wattierte Windjacke. Der Pullover war im Bauchbereich blutgetränkt. Simone kniete inzwischen auf der anderen Seite von Ewalds Körper und schluchzte. «Ist er schwer verletzt?« Vincent nickte.
»Wir müssen die Blutung rasch stillen. Mach eine Faust.«
Er hatte bereits Simones Hand genommen. »Fest drücken«, befahl Vincent und griff nach seinem Rucksack.
Mit einem »Ewald« hatte sich Bodo am Kopfende seines Freundes fallen lassen. Das Gesicht des Fotografen war schmerzverzerrt. Aus dem Mundwinkel sickerten Blutstropfen.
»Ich glaube, das war‘s mein Freund«, röchelte der verwundete Fotograf und versuchte, Bodos Hand zu ergreifen.
Doch das Schicksal hatte Ewalds Ende noch nicht vorgesehen. Vincent konnte rasch einen Hubschrauber organisieren. Bodo bestand darauf, mitgenommen zu werden.
»Geld spielt keine Rolle«, hatte er viele Male gesagt. Es war erstaunlich, wie rasch sich mit Geld viele Türen öffnen ließen. Erst zu diesem Zeitpunkt stellten beide Freunde fest, dass sie die gleiche, sehr seltene Blutgruppe, AB Rhesusfaktor positiv, besaßen. Am ersten Tag musste Bodo 1,5 Liter Blut spenden und im Abstand von zwei Tagen noch einmal je einen halben Liter. Ewald wurde in ein Klinikum in Montreal verlegt und verbrachte dort zwei Monate. Entgegen den Ratschlägen der Ärzte verließ der Fotograf vorzeitig das riesige Krankenhaus. Bodo bestand darauf, ihn zu begleiten. In der Einöde von Quebec, hundert Kilometer südlich der Hudson Bay, gingen Ewalds Kräfte endgültig zu Ende. Der einzige Kindheits-, Jugendfreund und Blutsbruder starb in Bodos Armen.
Dies war das zweite große Schlüsselerlebnis, welches Bodos Seele erkranken ließ und sich zu einem schweren Trauma ausweiten sollte.
Vor zehn Jahren, fast auf den Tag genau, hatte sich das Unglück mit Ewald und den Robbenschlächtern ereignet. Es war Amaros Aufgabe gewesen, die Namen der sechs Robbenjäger ausfindig zu machen. Kein Zweifel durfte bestehen. Als Indianer, Jäger und Fischer war er im Dorf dieser sechs Personen nicht weiter aufgefallen.
Er übernachtete mehrere