Sie gingen kurz nach Sonnenuntergang in ihre vornehmen Kojen, da sie am darauffolgenden Tag frühzeitig weiterfahren wollten.
Noch vor sieben Uhr saßen sie am nächsten Morgen beim Frühstück. Das Kreischen der Vögel hatte sie aufgeweckt. Bodo war mit dem Beiboot bereits auf die Insel gefahren, um Aufnahmen zu machen. Die braunen Pelikane ließen ihn bis auf wenige Meter heran. Er hatte in der kurzen Zeit hunderte von Aufnahmen gemacht, und dabei entdeckt, dass er sich fast so euphorisch verhielt wie Ewald. Zunehmend konnte er seinen Freund verstehen.
Bradly wollte gegen 7:30 Uhr die Anker lichten. Er hatte angeraten, ein möglichst rasches Frühstück einzunehmen. Bis auf Bodo, der noch von den Impressionen auf der Insel schwelgte, waren Ole, Marco und Bradly einsilbig.
Plötzlich hörten sie von links ein Geräusch, das rasch näherkam.
Bodo und Bradly wussten sofort, dass es sich um einen Reiher oder um einen Pelikan handeln musste. Jetzt sahen sie ihn. Es war ein Brauner Pelikan. Die vier Männer trauten ihren Augen nicht, als der Vogel mit dumpfem Flügelschlag auf dem Geländer der Reling zur Landung ansetzte. Er saß nun da, und blickte die Männer keck und neugierig an.
»Ein Jungvogel?«, fragte Marco leise.
»Nein«, flüsterte Bradly.
»Das ist ein Altvogel. Der hat schon einige Jahre auf dem Buckel. Wenn Pelikane als Jungvogel von den Touristen mit kleinen Fischchen gefüttert wurden, können sie enorm zutraulich sein. In den Fischerhäfen hier haben sich viele Pelikane darauf eingestellt, gefüttert zu werden. Vor allem, wenn sie alt sind.«
Bodo wandte sich an Marco.
»Reich mir meine Kamera von dort drüben. Vorsichtig. Langsam. Keine schnellen Bewegungen.«
Der Pelikan schien keine Eile zu haben. Bodo hatte ausreichend Zeit, die optimalen Kameraeinstellungen vorzunehmen. Er blickte durch den Sucher. In diesem Augenblick hatte er das Gefühl, Ewalds Stimme zu hören.
»Mache zuerst eine Nahaufnahme vom Kopf. Blende 2,8. Konzentriere dich auf die Augen. Die sind am wichtigsten.«
Im Verhältnis zur Kopfgröße hatte der Pelikan kleine Augen; runde Augen. Doch die Iris leuchtete wasserblau. Die Pupille stach dagegen dunkelblau, fast schwarz hervor. Bodo war fasziniert.
»Jetzt den ganzen Vogel«, hörte er Ewald. »Nimm Blende 3,5. Du musst ihn freistellen. Aber die Augen müssen trotzdem scharf herauskommen. Und danach stelle auf Automatik. Geh auf Nummer sicher. Dann bekommst du auch den blauen Himmel mit drauf. Die Sonne hast du im Rücken. Das ist optimal.«
Bodo konnte seinen Jugendfreund von Aufnahme zu Aufnahme besser verstehen.
»Ich war ja einige Zeit im Fernen Osten«, hörte Bodo Bradlys Stimme. »Ein Buddhist hätte jetzt vielleicht gesagt, dass das dort die Seele von deinem Ewald in einer anderen, neuen Gestalt ist. Wer weiß.«
In diesem Moment hob der Pelikan ab, und ruderte mit großen Flügelschlägen auf die Insel zu.
Marco sah Bodos Blick.
»Du hast ihn mit deinem blöden Gequatschte verjagt«, fauchte er Bradly an.
Bodo hatte sich rasch gefangen.
»Das hier war vielleicht ein Zeichen für uns«, flüsterte er nachdenklich. »Es bringt nichts, wenn wir in Depressionen verfallen. Wir brauchen Mut, Zuversicht und Kraft. Schaut euch das hier alles an. Dafür lohnt es sich doch zu kämpfen. Ich für meinen Teil werde allen, die sich uns in den Weg stellen, die Zähne zeigen, und meine Krallen ausfahren.«
Ole musterte Bodo nachdenklich und nickte zustimmend. Diese Art zu denken barg zwar Risiken in sich; aber sie gefiel ihm.
Marco hatte inzwischen im Internet gesurft. »Es gibt keine gravierenden Neuigkeiten. Die Sprecherin der Küstenwache teilt mit, dass es keine Anzeichen eines Austretens von Öl aus dem Bohrloch gibt. Ist das nicht toll?«
»Immer die gleiche Scheiße«, knurrte Ole kauend. »Einlullen, Lügen und nochmals Lügen. Bis die Wirklichkeit uns alle einholt. Da sieht man einmal wieder, für wie bescheuert diese arroganten und überheblichen Schweine den Rest der Welt halten.«
»Deren Rechnung geht doch auf. Die meisten Menschen sind tatsächlich blöde«, sagte Marco kopfschüttelnd. »Die Wenigsten wollen wissen, was auf uns alle zukommt. Sie hoffen lediglich, dass es für sie selbst nicht so schlimm werden wird. Aber es wird schlimmer kommen, als die meisten von ihnen ahnen. Viel schlimmer.«
»Ich habe mich mit meinem Anwalt und väterlichen Freund ausgetauscht«, unterbrach Bodo. »Er hat bereits mit einigen Experten gesprochen. Und diese sind fest davon überzeugt, dass mit Sicherheit zehn Mal mehr Öl austritt, als die uns vormachen. Ganz wichtig ist für diese Gangster das Bundesgesetz; das Clean Water Act. Pro Barrel Öl, welches im Wasser nachweislich auftaucht, muss der Verursacher 1.100 Dollar Strafe bezahlen. Und die Achillesferse ist: Wenn eine grobe Fahrlässigkeit nachgewiesen werden kann, kostet das 4.300 Dollar pro Barrel. Dr. Henninger meint, dass der Konzern alles unternehmen wird, damit nicht so viel Öl sichtbar wird. Und - die wollen vor allem keine negativen und grausamen Bilder; wie bei der »Exxon Valdez« oder anderen Havarien. Bilder sind wie Waffen; wie Dynamit. Bilder können nicht lügen. Wenn die Aktionäre nervös werden, kann das für den Ölkonzern katastrophale Auswirkungen haben. Denen sind doch die Umwelt und die Schönheit der Schöpfung völlig gleichgültig. Nur der Aktienkurs ist wichtig. Was wir brauchen, sind Bilder; schonungslose Aufnahmen.«
Eine Stunde später fuhren sie an der südlichsten Insel Breton Island vorbei in Richtung Süden. In einer halben Stunde, so hatte Bradly versprochen, würden sie das Delta National Wildlife Refuge erreicht haben.
Während der Fahrt stimmte Bradly seine Freunde auf dieses Paradies ein. Seine Augen begannen zu glänzen.
»Dieser größte, wichtigste und älteste Nationalpark im Süden der Vereinigten Staaten hat eine Größe von 48 000 Hektar und nimmt damit knapp vierzig Prozent des gesamten Mississippi-Deltas ein. Er ist das wichtigste Überwinterungs-Refugium, und nur per Boot erreichbar. Wir werden den North Pass nehmen. Das ist einer der sechs großen Flussarme, die durch das Mississippi-Delta und in diesen Nationalpark führen, um hier in den Golf zu münden. In diesem Gewirr aus Flussläufen, Inselchen, Sumpfgebieten mit Röhrichtwäldern und Mooren tummeln sich unzählige Fischarten: die seltenen gesprenkelten Forellen, Rotbarsche, Schollen, Welse, Forellenbarsche und sogar Sonnenbarsche. Es ist die Heimat der blauen Krabben, von denen viele Fischer hier leben, und die berühmt sind.« Er lachte. »Und verdammt gut schmecken. In den Mündungsgebieten gibt es riesige Austernbänke und große Garnelenvorkommen. Vor allem nisten und überwintern hier unzählige Vogelarten: Der braune Pelikan, das Wappentier Louisianas, sehr viele Fischadler, Turmfalken, Kornweihen, Rotschwanzbussarde, Truthahngeier, Mönchsgeier, Merlane und weitere Falkenarten sowie unzählige Sumpf- und Watvögel, viele Entenarten und Gänse – und natürlich auch Alligatoren. Dieser Nationalpark ist ein Paradies für Angler, für Tierbeobachtungen und Fotografen«, sagte er, und wandte sich dabei an Bodo.
»Du kommst ganz bestimmt auf deine Kosten.«
Kaum hatten sie den Nationalpark erreicht, tauchte wie aus dem Nichts ein Schnellboot auf.
Es kam rasch näher.
»Das sind die Freunde von der Küstenwache«, knurrte Bradly.
»Bin mal gespannt, was die wollen. Ich kenne einen davon. Er ist ein Riesenarschloch.«
Als das Boot nur noch wenige Meter von der Yacht entfernt war, setzte einer der Uniformierten das Megafon an den Mund.
»Dieses Gebiet ist vorübergehend gesperrt. Verlassen sie umgehend das Schutzgebiet.« Sein Ton war kommandoartig und sollte offensichtlich keine Chance für eine Diskussion zulassen.
Bradly brauchte kein Megafon.
»Was soll der Mist, Emmerson. Du hast doch schon lange meine Yacht erkannt. Ich mache hier meinen Job. Was heißt hier gesperrt?«
Emmerson, der Mann mit dem Megafon, wurde energischer.
»Ich