Lars Gelting

Mit der Wut des Überlebens


Скачать книгу

      „Nur die Ergebnisse, nicht jedes Wort! Aber das müssen wir heute Abend noch lernen!“

       Und sie lernte! Bis spät in die Nacht saßen sie bei Kerzenlicht, übten wieder und wieder die Methode des Aufschreibens. Izaak hatte hierzu ein ganz einfaches graphisches Schema entwickelt, bei dem alle wichtigen Vertragsdaten wie etwa die Namen, die Kreditsumme, der Zinssatz, die Laufzeit und die zurück zu zahlende Summe in einem Dreieckgebilde erfasst wurden.

       Das Ganze war übersichtlich und auch für jemanden eindeutig, der nicht besonders gut schreiben konnte und wurde am Ende von den Verhandlungspartnern unterschrieben.

       Alles dies und das Schreiben von Zahlen in den unterschiedlichen Bereichen übten sie wieder und wieder und noch einmal mit immer neuen Beispielen.

       Irgendwann legte sie die Feder vorsichtig nieder, legte beide Unterarme auf dem Tisch ab und schloss für einen Augenblick die Augen, „Ulrich, ich muss aufhören. Mein Kopf ist voll!“

       Es blieb still im Raum.

       Und als sie bemerkte, dass er sie ruhig und nachdenklich betrachtete, sah sie ihn direkt an, sah, dass er hellblaue, im Kerzenlicht glänzende Augen hatte, genoss für einen Augenblick diese kribbelnde Stille. Sie wandte sich ab, erhob sich, „Du hast mich geschafft! Ich bin todmüde.“

       Er griff nach ihrer Hand, „Bleib noch!“

      „Es geht nicht, Ulrich! Es geht noch nicht!“ Sie sah ihn nicht an, sah zu Boden, ging in ihre Kammer hinüber und schloss die Tür.

       Am nächsten Morgen waren sie früh auf. Ulrich schien wirklich verletzt zu sein, trug seinen rechten Arm in einer Schlinge unter dem Wams, wobei der rechte Ärmel überflüssig und gut sichtbar herabbaumelte.

       Sie ließen sich vom Wirt ein deftiges Frühstück bringen, beantworteten dessen Fragen nach der plötzlichen Verletzung ausweichend und schlenderten dann hinunter zum Fluss. Der Fußweg endete direkt am Wasser. Ein Ruderboot lag dort halb auf der Seite, war so weit aufs Land gezogen worden, dass nur noch der hintere Teil ins Wasser ragte. Einen Augenblick standen sie still, sahen hinüber zur Stadt.

      „Dieser ganze Tag, damals: Bis heute ist er mir unwirklich geblieben. Von allen Seiten donnerte es und krachte es, überall wurde geschossen. Alle um einen herum brüllten, schrien oder jammerten. Vermutlich habe ich auch geschrien; ich weiß es nicht mehr. Und dann das Feuer, das Heulen und Knistern und dann das Krachen, wenn die Häuser zusammenbrachen.“ Sie hatte die Schultern hochgezogen, die Arme vor der Brust her gelegt, zog sich zusammen. „Und jetzt ist es so still, nirgendwo ein Mensch zu hören oder zu sehen.“ Sie blickte hinüber zur Anhöhe, von der aus damals die Kanonen unentwegt in die Stadt schossen.

       Einen kurzen Moment sah er sie schweigend von der Seite an, nachdenklich, interessiert, wandte sich dann um, „Kommt! Wir müssen wieder hoch!“

       Und dann kam es, wie Ulrich es vorausgesehen hatte: Aufgeräumt und unternehmungslustig traf schon bald nach ihnen der erste Händler in der Herberge ein. Ebenso vornehm gekleidet, etwas kleiner als Ulrich und wohl mit der doppelten Lebenszeit gesegnet, begrüßte er diesen mit offensichtlich echter Freude und zeigte sich dann besorgt über Ulrichs Armverletzung. Immer noch stehend erkundigte er sich nach Ulrichs Vater, nach dessen Ergehen. Hatte Verständnis dafür, dass dieser eher nach Dresden gezogen war, als noch einmal nach Magdeburg zurückzukehren.

       Als er sich endlich vorbeugte, um den Sitzhocker unter dem Tisch hervor zu ziehen, fiel sein Blick auf Therese, auf Papier, Feder und Tinte, die arbeitsbereit vor ihr lagen. Alle Heiterkeit verschwand aus seinem eher hageren Gesicht, als würde sie unter die Haut gesogen, würde im Bart um Mund und Kinn versickern. Statt ihrer stellte sich ablehnendes Erstaunen ein.

       Er sah über den Tisch zu Ulrich hinüber, ließ den Hocker wo er war, richtete sich auf, „Eine Frau am Verhandlungstisch? Was soll das, Ulrich?“

      „Sie muss für mich das Schreiben übernehmen und ich bin froh, dass sie mitgekommen ist. Moshe Goldberg hat sie mir empfohlen. Ihr könnt ihr also vertrauen!“

      „Einer Frau in Gelddingen vertrauen?“ Sein Gesicht bekam einen überheblichen, spöttisch-mitleidigen Ausdruck, „Ulrich, du bist noch sehr naiv!“ Er beugte sich leicht über den Tisch, belehrend: „Dein Vater hätte eher mit den Füßen geschrieben, als dass er einer Frau die Anwesenheit am Tisch erlaubt hätte.“ Er richtete sich ganz auf, „Wenn du mit mir verhandeln willst, komme morgen in mein Haus. Wir finden dort einen Weg, ohne dass sie mitschreibt. Wenn du das nicht möchtest, suche ich mir einen anderen Geldverleiher. Also.“ Ohne sie auch nur eines Blickes zu würdigen wandte er sich um und verließ den Raum, so als würde er von einer Bühne abtreten.

       Ulrich sah einen Atemzug lang hinter ihm her, blickte dann zu ihr, die Augenbrauen hoch, die Mundwinkel herabgezogen, „Ich habe es geahnt! Der Wolferding weiß, was er wert ist. Das war schon immer ein harter Brocken!“ Er setzte sich auf seinen Hocker, wollte beide Arme auf den Tisch legen und erinnerte sich dann unwillig an seinen festgebundenen Arm.

      „Wer ist dieser Wolferding?“

      „Ein Silberschmied und Büchsenmacher hier aus Magdeburg.“ Einen Augenblick sah er sie nachdenklich an, beugte sich dann leicht zu ihr herüber.

      „Seitdem Krieg herrscht, hat er sich auf die Beschaffung von Waffen spezialisiert und macht riesige Geschäfte. Zur Vorfinanzierung braucht er immer wieder Geld, große Mengen mit Risiko Zuschlägen und kurzen Laufzeiten. Für uns ist er wichtig!“

      „Das scheint er zu wissen.“

      „Natürlich! Deshalb kann er auch so auftreten, und deshalb werde ich morgen auch zu ihm müssen. So ist das eben!“ Er hielt inne, legte den Kopf schräg, um so besser in Richtung Tür hören zu können. Durch die geöffnete Tür drangen Geräusche herein, die sonst nicht da waren, Rufen, Johlen, Kindergeschrei, dazwischen das gleichmäßige, dumpfe Schlagen, mit dem Pflöcke in die Erde getrieben werden.

       Therese kannte diese Geräusche nur zu genau, wusste, was sie bedeuteten und ging rasch zum Eingang, um hinaus zu sehen.

       Oben auf dem breiten Absatz, von dem aus damals die Kanonen Schuss auf Schuss in die Stadt abfeuerten, entfaltete sich buntes Leben scheinbar aus dem Nichts, und das mit rasender Geschwindigkeit. Noch vor wenigen Minuten war der Absatz leer, war es dort still gewesen. Jetzt rollte es wie Wellen von der Seite heran. Planwagen auf Planwagen bezog seinen Platz auf dem Absatz, Kinder sprangen heraus, wuselten schreiend zwischen den Wagen herum, Pferde wurden angepflockt, Zeltplanen aufgespannt. Nur zu gut kannte sie diese Vorgänge, wusste, dass jeden Moment die ersten Rauchsäulen der unvermeidlichen Lagerfeuer aufsteigen würden.

      „Ihr solltet euer Pferd zu meinem in den Stall stellen. Ist zwar eng, aber es wird schon gehen.“ Sie hatte den Wirt nicht bemerkt, der, die kräftigen Arme vor der Brust verschränkt, jetzt neben ihr stand.

       Sie sah ihn von der Seite an, wie er mit finsterer Miene das Treiben auf dem Absatz beobachtete. „Ihr habt eure Erfahrung mit den Leuten gemacht?“

      „Das sind keine Leute, das ist Gesindel! Wir werden Ärger mit denen bekommen!“ Er nahm die Arme herunter, wandte sich entschlossen ab.

      „Das ist wirklich schlecht!“ Ulrich stand hinter ihr, sah mit fest zusammengepressten Lippen und hochgezogenen Augenbrauen hinüber. „So lange die dort sind, wird kaum ein Händler zu uns herüber kommen.“

       Sie drehte sich um, sah ihn kurz an, nachdenklich, sah wieder nach oben und suchte nach Worten, um Partei für „die da oben“ zu ergreifen und verstand plötzlich: Sie verspürte eine brennende Wehmut, wünschte sich, Zita, Margret und Mikola wiederzusehen. Aber das war es dann auch! Das Leben im Lager war schon damals nicht ihr Leben gewesen. Jetzt war dieses Leben so weit von ihr weg, wie es das