Lars Gelting

Mit der Wut des Überlebens


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      „Und wer ist das?“ Seine Augen wiesen kurz zu Moshe hinüber, der einige Schritt hinter ihr stehen geblieben war.

      „Er hat mich aus Magdeburg herausgeholt und steht mir jetzt bei!“

       Einen Augenblick ruhten seine großen, hellen Augen forschend auf ihrem Gesicht, „Was meint ihr mit: „aus Magdeburg herausgeholt“?“

      „Magdeburg ist im Mai letzten Jahres von den Kaiserlichen gestürmt worden. Es ist fast vollständig niedergebrannt.“

      „Magdeburg auch!“ Er stieß es hervor, fassungslos, und für einen Augenblick verschwand der Mund vollkommen in seinem Bart. „Und Johannes?“

       Noch ehe sie antworten konnte, drohten ihre Augen überzulaufen, „Johannes ist in Magdeburg umgekommen.“

       Er sah sie unverwandt an, sah dann herunter auf das Kreuz mit dem groben Lederband, dass sie ihm zögernd entgegenhielt. Die schmalen Lippen fest aufeinander gepresst, verschwand sein Mund wieder vollkommen im wüsten, grauen Bartgestrüpp, nickte er einen Atemzug lang sinnend vor sich hin.

       Unversehens wechselte sein Blick zu Moshe, der ruhig hinter ihr stand, „Ihr seid Jude!“

      „Vor Gott bin ich zuerst ein Mensch, wie ihr auch!“ Ruhig und bestimmt kam die Antwort, fand ihre Bestätigung im nachdenklichen Nicken des anderen.

       Sein Blick kam zu ihr zurück, „Wie sollte ich euch helfen? Ich besitze nichts, und ich kenne niemanden, der euch statt meiner helfen könnte!“

       Er war sicher einen ganzen Kopf größer als sie, und sie musste aufschauen, um in das lederne, von hellgrauem Haar und Bart umrahmte Gesicht schauen zu können.

      „Johannes wollte, dass ich mit dem Kreuz zu euch gehe!“ sie hielt ihm das Kreuz wieder ein kleines Stück entgegen. Und wieder sah er mit zusammengepressten Lippen nur kurz darauf und dann zurück zu ihr.

      „Er hat es mir auferlegt, während er starb!“ Ihre Augen liefen über, „Weil sonst alles umsonst gewesen sei, hat er mir gesagt. Ich weiß nicht, was er damit meinte.“

       Alle Strenge war aus seinem schmalen Gesicht gewichen. Nachdenklich wechselte er aus ihrem Gesicht zum Kreuz, verharrte dort einen langen Augenblick, streckte dann seine große Hand aus, bittend. Behutsam nahm er ihr das Kreuz aus der geöffneten Hand, hielt es so am Lederriemen, als wolle er ihr etwas erklären.

      „Johannes trug das Kreuz immer, es sollte ihn mahnen!“ Er sah sie an, aufmerksam, erklärend, „Das Kreuz hat eine Geschichte. Sie hat unser Leben absolut verändert.“ Er hob das Kreuz nahezu in Augenhöhe, betrachtete es sinnend, „Jetzt holt mich diese Geschichte wieder ein!“ Das Kreuz vorsichtig hochhaltend, als wäre es von unerhörtem Wert und leicht zu beschädigen, wandte er sich um, „Kommt!“

       Er ging vor ihnen her, ging die wenigen Schritte auf die Felswand zu, oberhalb derer sie zuvor gestanden hatten. Von der warmen Nachmittagssonne beschienen, erhob sie sich vor ihnen in mehreren Abbrüchen und immer wieder von Gräsern und kleinen Sträuchern überwachsen. Am Fuß der Wand ein dicker Baumstamm, auf dem sie nebeneinander und mit der Wand im Rücken gut sitzen konnten. Direkt davor, breit und nicht höher als der Baumstamm, ein kantiger Felsbrocken. Die im Gegensatz zur Oberfläche bemoosten Seiten ließen darauf schließen, dass er schon vor langer Zeit aus der Wand gebrochen und nach unten gestürzt war. Eine Zeitlang saßen sie nur da, der eine vorgebeugt, die Arme auf dem Stein abgestützt, das Kreuz vor Augen, die anderen angelehnt, abwartend.

       Wenige Schritte seitwärts von ihnen, umgeben von hohen Büschen und Beerenranken und angelehnt an die Wand, erkannte sie die einfache Behausung aus dickeren Stämmen, dazwischen geflochtenen Zweigen, Lehm, Moos und Blattwerk.

      „Ihr wisst nicht, was es mit dem Kreuz auf sich hat?“ Unvermittelt durchbrach er die Stille, hielt das Kreuz etwas vor, so dass sie es gut sehen konnte.

      „Nein, ich weiß gar nichts! Ich weiß nur das, was ich sehe!“

      „Johannes hat die Mahnung des Kreuzes beherzigt, er hat nur noch gefochten, wenn es um seinen Kopf ging.“ In seiner Haltung musste er sich weit umwenden, um sie anzusehen, „Um Ostern war er noch hier.“ Er drehte sich noch ein Stück weiter zu ihr herum, saß jetzt seitwärts zu ihr, „Wisst ihr, dass er ein tüchtiger Marketender und Organisator war? Es gab kaum etwas, was er nicht besorgen konnte, auf anständige Weise!“ Er wandte sich wieder ab, sah einen Augenblick sinnend geradeaus, während seine Finger am glattgewetzten Holz des Kreuzes entlangfuhren. „Aber er verstand den Krieg als große Gelegenheit, als eine Zeit, in der die Karten neu gemischt würden. Und an dem Punkt waren wir verschiedener Meinung.“ Er drehte sich ein wenig zu ihr herum, so dass er sie gerade ansehen konnte, „Für mich war auch das Diebstahl, wenn man an sich nahm, was die zuvor umgekommenen oder geflohenen Besitzer zurückgelassen hatten. Für ihn bereinigte der Krieg so nebenbei nur das Unrecht, das andere zuvor begangen hatten! Er wollte jedenfalls als freier Mann zurückkommen.“

       Er richtete sich auf, drehte sich ganz zu ihr herum, hielt ihr das Kreuz auf der geöffnete Hand entgegen: „Das Kreuz ist der Schlüssel zu allem, was er in den Jahren zusammengetragen hat. Ihr solltet diesen Schlüssel nur mit größter Vorsicht benutzen!“ Starr und zugleich vielsagend sah er sie an, und sie verstand.

      „Er hat mich aus Magdeburg gerettet, und ich lebe seit bald zwei Jahren frei in seiner Familie, ohne dass diese Forderungen an mich gestellt hat. Ich vertraue ihm!“

      „Johannes vertraute in dieser Sache niemandem! Es ist zu viel Geld, und es ist nicht die Zeit, um zu vertrauen!“

      „Johannes konnte sich das leisten, ich bin aber eine Frau! Ich habe niemanden sonst, außer ihm und seiner Familie, und ich vertraue ihm wirklich!“

       Er sah an ihr vorbei, sah hinüber zu Moshe, lange, ergründend und wandte sich dann entschlossen dem Kruzifix zu.

       Behutsam angreifend drehte er das „INRI“, bis es dem senkrechten Holz folgte, hob dann Kreuz und Gekreuzigten so aus dem Metallrahmen, dass man endlich einen Dukaten zwischen Rahmen und Kreuz hindurch schieben konnte. Vorsichtig drehte er nun das Kreuz, bis der Querbalken parallel zum senkrechten Rahmenteil stand, wendete es ganz sachte und schob langsam die zuvor verriegelte Rückwand des Kreuzes zur Seite.

       Atemlos hatte sie der Verwandlung zugesehen, reckte sich jetzt leicht vor, um in den sichtbar gewordenen Hohlraum sehen zu können.

       Er sah auf, lächelte zum ersten Mal und hielt ihr das geöffnete Kreuz auf der Hand entgegen, „Ein Meisterstück! Es enthielt eine Reliquie.“ Er zog die Hand zurück, sah kurz in den Hohlraum hinein und blickte sich dann suchend um, bückte sich und klaubte einen dünnen Holzspan vom Boden. Mit diesem fuhr er in den Hohlraum, hob vorsichtig ein feines Pergamentröllchen heraus und legte es ihr ebenso vorsichtig auf die geöffnete Hand, „Nur festhalten! Noch nicht aufrollen!“ Sehr behutsam, geradezu ehrfürchtig legte er das Kreuz auf die rohe Steinplatte und nahm das Pergamentröllchen mit spitzen Fingern wieder an sich.

      „Wisst ihr, wem das Kruzifix gehörte?“ Sie beobachtete, wie er das Röllchen vor den Mund hielt, so als wollte er hindurch pusten, und wie er seinen warmen, feuchten Atem dagegen hauchte.

      „Ja!“ Er hauchte wieder. „Es gehörte dem Abt eines Klosters bei Stettin!“ Hauchen, „Das Kloster war überfallen und zerstört worden. Wir kamen damals zu spät.“ Er hauchte besonders lange. „Wenn wir es sofort aufmachen, wird es zerbrechen.“ Er hauchte noch einmal, rollte das Pergament behutsam auseinander und hielt es dann gegen das Licht: – 3. Lucia – Benedicta 1525 –

       Sie konnte nicht lesen, erkannte aber die klar und deutlich geschriebenen Zahlen und Buchstaben. „Hat Johannes das geschrieben?“

      „Ja! Das hat Johannes