Lars Gelting

Mit der Wut des Überlebens


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werden sehen. Lucia – Benedicta ist der Name eines Menschen, der 1525 gestorben ist!“

       Ihr zugewandt, und nach einem schnellen Blick auf Moshe: „Johannes hat alles, was er im Laufe der Zeit zusammengetragen hat, auf dem Friedhof derer von Blankenburg in Sicherheit gebracht. Ein altes Rittergeschlecht. Haben hier ganz in der Nähe gehaust.“

      „Auf einem Friedhof?“ Ungläubig sah sie zuerst auf das Pergament, dann zu ihm.

      „Könnt ihr euch einen sichereren Ort vorstellen?“ Wissend, mit hochgezogenen Augenbrauen sah er sie an, sah zu Moshe.

      „Wir sollten uns aufmachen, bevor es zu spät ist! Es ist nicht weit!“ Er schaute noch einmal auf das Pergament, rollte es und legte es vorsichtig zurück in den Hohlraum, fügte das Kruzifix wieder zusammen und gab es ihr zurück.

      „Gehen wir!“ Geschmeidig stand er auf, ging einfach los. Folgte zielstrebig einem im hüfthohen Farn nicht erkennbaren Pfad am Grund der Senke, stieg dann, ohne den Schritt zu verlangsamen, einen Hügel hinauf und blieb endlich stehen. Keuchend und schwitzend stiegen sie auf ihn zu, folgten seinem ausgestreckten Arm, der den Hügel hinauf wies.

      „Es ist gleich dort oben! Wartet hier noch einen Augenblick. Manchmal lagert dort Gesindel, und dem solltet ihr nicht unbedingt vor die Füße laufen.“ Ohne eine Erwiderung abzuwarten wandte er sich um, stieg weiter hügelan und war unversehens verschwunden.

       Moshe warf ihr einen kurzen Blick zu, mit krauser Stirn, aus den Augenwinkeln, blickte dann sofort wieder zu der Stelle, wo der andere soeben verschwunden war, misstrauisch! „Mir traute er gar nicht, aber wir haben ihm alles anvertraut! Hoffentlich war das auch der richtige Rupert!“ Und einen Moment später: „Kommt, lasst uns mal langsam weiter nach oben steigen. Wir sind ja gewarnt und können selber aufpassen, aber ich möchte nicht dumm hereingelegt werden.“

       Beunruhigt stieg sie hinter ihm her, keuchend: „Wenn ich noch nicht einmal einem Einsiedler vertrauen kann! Außerdem hat Johannes ihm ja auch vertraut!“

      „Scheinbar ja nicht so ganz!“ Er blieb stehen, konzentrierte sich mit zusammengekniffenen Augen auf einen Bereich, der nur etwas höher und wenige Schritte vor ihnen lag. „Immerhin hat er ihm die genaue Lage des Verstecks nicht anvertraut.“ Er wies mit dem Kinn voraus, „Da vorn ist es!“

       Seinem Blick folgend konnte sie zwischen Bäumen und Gesträuch grobes Mauerwerk erkennen, grün bemoost, teilweise wild überwuchert. „Da ist er verschwunden und noch nicht wieder aufgetaucht.“ Und schon nach einem kurzen Augenblick: „Ich gehe da jetzt rein und sehe nach ihm! Bleibt noch ein wenig und haltet Augen und Ohren auf.“ Die ganze Zeit über hatte er konzentriert zum Gemäuer hinüber gesehen, wandte seinen Blick auch jetzt nicht ab, sah sie nicht an, ging einfach entschieden los.

       Einen Moment blieb sie verschnaufend stehen, sah hinter ihm her, sah hinüber zur Mauer, sah ihn entschlossen darauf zustapfen und setzte sich ebenso entschlossen in Bewegung: Zu allererst war es ihre Sache! Außerdem war ihr unbemerkt ein neuer Nerv gewachsen, dessen Empfindlichkeit sich jetzt zum ersten Mal bemerkbar machte: das Misstrauen! „Johannes vertraute in dieser Sache niemandem!“ Sie würde es zukünftig ebenso machen!

       Vor ihr verschwand Moshe zwischen den Mauerresten, hatte sich nicht einmal umgedreht, hatte gar nicht bemerkt, dass sie ihm dichtauf gefolgt war. Sie beeilte sich, wollte ihn nicht aus den Augen verlieren. Stieg direkt hinter dem Fragment einer Mauerecke mit beiden Armen balancierend über die bemoosten Reste der einstigen Burgmauer und sah ihn wieder vor sich. Ohne Hast bewegte er sich jetzt vorbei am eingestürzten Speicher und zwischen den überall herumliegenden Gesteinsbrocken auf das ehemalige Herrenhaus zu. Ein mächtiges, hohles Gemäuer, dessen nicht mehr ganz spitz zulaufenden Giebelwände auf die übrigen Mauerreste hinabschauten und in dessen tiefen Fensterhöhlungen sich gelber Löwenzahn, Stechpalmen und Kiefernschösslinge nach der Sonne reckten. Und vor dieser Ruine stand groß und hager, mit verschränkten Armen der Einsiedler, stand dort in einer Aura, als wäre er der Herr dieses morbiden Ortes.

       Sie beeilte sich, Moshe noch einzuholen, kam nur wenige Schritte nach ihm an und hörte ihn fragen: „Nun?“

       Der andere wartete einen Moment, bis sie ganz herangekommen war, sah mit einem angedeuteten Lächeln mehr zu ihr: „So hatte ich mir das gedacht, und das ist gut so!“ Mit einer andeutenden, flüchtigen Handbewegung wies er irgendwo und nirgends hin: „Wir haben das Gemäuer für uns allein! Machen wir uns an die Suche!“

       Er wandte sich um, ging zielstrebig los. Mosche rührte sich einen Atemzug lang nicht von der Stelle, sah hinter ihm her, kopfschüttelnd, das Gesicht zornig knitternd.

       Sie brauchten nicht lange zu suchen. Zwischen den wirr herumliegenden, von Gras überwachsenen Gesteinsbrocken war die planmäßige Anordnung der sieben Erhebungen leicht zu erkennen. Überwuchert von dichtem Efeu, von Holunder- und Faulbeersträuchern reihten sie sich entlang der Mauer, nur wenige Schritte seitwärts vom Herrenhaus.

       Erwartungsvoll zwängten sie sich durchs Gesträuch, räumten Trümmer von der steinernen, flachen Oberfläche der Gräber, zerrten das Gras mitsamt den Wurzeln hoch, um endlich die Inschriften zu entziffern.

      Da war im ersten Grab ein >Maximilian von Blankenburg< begraben worden, der Name verwittert, nur schwer zu entziffern, das Ritterwappen nur noch als mal vorhanden zu erkennen.

      Im Grab daneben ruhte die >Frau Margarta<. Sie brauchten einige Zeit, bis sie den Namen mehr geraten als entziffert hatten, anderes war nicht zu erkennen.

       Mühsam legten sie so Grabplatte für Grabplatte frei, und wussten endlich, das gesuchte Grab war an dieser Stelle nicht zu finden.

       Noch einmal gingen sie um das Haus herum, suchten entlang der Mauer, entlang von Speicher und Stallungen, nichts!

      „Seid ihr sicher, dass es ein Grab hier an der Burg ist?“

      „Wo sollte es sonst sein?“

      „Vielleicht auf einem Friedhof in der Nähe. Jedes Dorf braucht einen Friedhof.“ Moshe wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß aus dem Gesicht, blickte fragend zum Einsiedler.

      „Die Dörfer hier oben sind Friedhöfe, da lebt heute keiner mehr, aber Johannes ist hier an der Burg geblieben. Ich bin mir sicher!“ Er wandte sich um, betrachtete aufmerksam die nähere Umgebung außerhalb des Burgbereichs.

      „Er hat immer gesagt „Ich gehe hoch zur Burg, muss was begraben!“ und war dann auch immer bald wieder zurück. Es ist hier! Aber vielleicht suchen wir an der falschen Stelle.“ und wie in Gedanken und an jemanden anders gerichtet: „Es wäre ja auch zu einfach!“

       Sie folgten seinem Blick nach außen, sahen über die mit niedrigem Buschwerk und Gesträuch zugewachsene Fläche vor der Burg hinweg. Dahinter, gut hundert Schritte von ihnen entfernt, der Wald.

      „Außerhalb?“

       Er nickte ruhig, ging voran, stieg mit seinen bloßen Füßen über die bemoosten Steinquader hinweg, und hielt sich sogleich zielstrebig nach links, auf das Herrenhaus zu.

       Moshe blieb unschlüssig stehen, sah über das vor ihm liegende Gelände hinweg, „Ihr scheint eine bestimmte Vorstellung zu haben!“

       Der andere blieb stehen, drehte sich zu ihm herum, „Nur eine Vorstellung: Wenn wir die kurze Nachricht richtig verstanden haben, waren es nur drei Gräber. Man wird sie vom Haus aus sehen können. Hier am Burgtor würde ich sie nicht suchen!“ Er wandte sich um und ging entschlossen ausschreitend weiter.

       Und während zu ihrer Linken die Mauer mit jedem Schritt in die Höhe wuchs, bald über Mannshöhe, fiel das Gelände auf der anderen Seite rasch ab. Schon nach wenigen Schritten versanken die Bäume unter ihnen, und sie konnten ins Land hinaussehen.