Josef Mugler

Melange, Verkehrt und Einspänner


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Übersiedlung nach Wien. Er arbeitete hier für eine Investmentgesellschaft, die von Wien aus Beteiligungen an mittel- und osteuropäischen Projekten und Firmen verwaltete.

      Mario war wahrscheinlich irgendwo in dieser Stadt. Aber das sollte leicht herauszubekommen sein. Sturiak entschloss sich nach seiner „Flucht“ aus dem Flug­hafengebäude, sein Mobiltelefon vorläufig nicht zu verwenden. Wenn er für irgendjemanden wirklich wichtig war, dann konnte es leicht sein, dass seine Telefonverbindungen abgehört wurden. Wie einfach das in Österreich ging, wusste er zwar nicht. Aber dass es technisch kein Problem war, ihn über sein Mobiltelefon zu orten, war ihm als EDV-Experten jedenfalls klar. Sie würden gewiss nur darauf warten, dass er sich durch das Telefon verriet. Also musste er zuerst ein Hotelzimmer finden, von wo aus er weitere Aktionen starten konnte. Natürlich kam das für ihn gebuchte Hotel nun nicht mehr in Frage. Wenn man ihn suchte, dann sicher zuallererst dort. Noch tappte Sturiak über seine Gegner im Dunkeln. Immerhin passierten ihnen Pannen, sonst hätten sie ihn schon geschnappt.

      Sturiak dirigierte das Taxi zu einem kleineren Hotel knapp außerhalb der Wiener Innenstadt in der Margaretenstraße, das er von früher kannte. Er trug sich sicherheitshalber unter einem falschen Namen in das behördlich verlangte Gästeblatt ein. Während er den Lift zu seinem Zimmer im dritten Stockwerk benützte, dachte er nach, mit wem er sich in der Außenwelt in Verbindung setzen sollte. Bloß nicht mit Consulting Support Vienna! Auf diese Kontakt­aufnahme würde die andere Seite gewiss ebenso setzen. Anderseits war es ein Risiko, sich dort nicht zu melden. Schließlich hatte er einen Auftrag zu erledigen und sollte nach maximal drei Tagen wieder in der Londoner Zentrale von Global Consulting Support zurück sein. Er konnte nicht ewig in Wien herumlungern und warten, was passieren würde. Konnte ihm eine Mel­dung bei seiner Zentrale in London etwas bringen? Wahrscheinlich würde ihn sein Chef angesichts seiner dort gut dokumentierten Überlastung in den letzten Wochen für überdreht halten.

      Also war es vielleicht doch das Beste, einen unverfänglichen Mittelsmann wie Mario ausfindig zu machen. Er fand in seinem Terminkalender eine Telefon­nummer, die ihm Mario nach dessen Übersiedlung nach Wien hatte zukommen lassen, und tippte sie, nachdem er sein Zimmer betreten hatte, in den auf dem Nachttischchen stehenden Telefonapparat.

      Mario meldete sich tatsächlich. Natürlich war er erfreut, seinen ehemaligen Studienkollegen zu hören. Sturiak schilderte seine Eindrücke der vergangenen Stunde. Es war nun 7 Uhr abends. Mario lebte mit seiner Frau und einer achtjährigen Tochter in Währing, einem Bezirk nordwestlich des Zentrums. Sie erwarteten an diesem Abend Gäste, die in Kürze eintreffen würden. Ron solle doch vorbeikommen und den Abend mit ihnen verbringen. Er würde nicht stören, im Gegenteil, ein Mann wie er, der viel in der Welt herumkomme, schon viel gesehen und erlebt habe, wäre will­kommen.

      Sturiak schauderte bei der Vorstellung, dass er in der Situation, die ihn in große Unruhe versetzte, einen Abendunterhalter abgeben sollte. Er lehnte ab, bat aber Mario, morgen früh mit der Geschäftsleitung von Consulting Support Vienna Kontakt aufzunehmen und seine Bedenken zu schildern. Man möge ihn, wenn aus Sicht der Consulting Support kein Grund für einen Verdacht eines Anschla­ges gegen ihn bestünde, in seinem Hotel abholen. Er würde jedenfalls bis 10 Uhr auf einen Kontakt warten. Mario versprach, das zu tun.

      Zu dumm! – Er musste Mario nochmals anrufen, denn er hatte nicht daran ge­dacht, dass er sich hier unter einem falschen Namen eingetragen hatte. Nicht auszudenken, was für Komplikationen das wieder verursachen konnte, wenn jemand nach ihm fragte!

      Nachdem außer Mario Andolfi niemand von seinem Aufenthalt in diesem Hotel wissen konnte, fühlte sich Sturiak für die kommende Nacht einigermaßen sicher. Aufgrund der Zeitverschiebung gegenüber dem eigentlichen Ausgangspunkt seiner Anreise spürte er nach der Aufregung, die mit seiner Ankunft in Wien verbunden war, nun quälende Müdigkeit. Er fiel rasch in einen unruhigen Schlaf, aus dem er immer wieder emporschreckte. Dann versuchte er sich zu vergewissern, was von den Erfahrungen der letzten Stunden Wirklichkeit, was Täu­schung oder gar nur ein eben abgebrochener Traum war.

      *

      Anke fühlte den Schmerz in der Stirn, im Nacken, an den Schläfen, überall. Es war anders als sonst, wenn sie mit Migräne aufwachte. Alles schien anders. Sie versuchte, sich zu erinnern. Woran sollte sie sich erinnern? Mehrere Bilder der letzten Tage bauten sich vor ihr auf. Welches war das gewünschte? Waren alle diese Bilder real oder befanden sich auch ein paar Traumgespinste darunter? Anke hatte Mühe, die Realität, eine ihr ungewohnte Realität von den unwirk­lichen Fantasiebildern zu unterscheiden, die in ihrem Kopf um Anerkennung rangen.

      Bevor sie den Gedächtnisspuren weiter nachgehen wollte, versuchte sie sich ihre Lage zu erklären. Welche Zeit war es jetzt? Menschen wie sie, die beruflich vom Zeitmanagement für sich selbst und für andere geprägt waren, fragen immer zuerst nach der Zeit und nicht nach dem Ort, an dem sie sich befinden. Die Zeitfrage hatte am Beginn des 21. Jahrhunderts die Ortsfrage, welche die Menschheit über Jahrtausende beherrscht hatte, an Wichtigkeit bei Weitem über­holt. Sie konnte nicht abschätzen, wie spät es war, ja nicht einmal, welcher Tag eben jetzt war. Es war völlig finster um sie herum. Sie versuchte, sich zu bewegen. Sie registrierte, dass sie an Händen und Füßen gefesselt war. Sie versuchte ihre Stimme. Es ging nicht. Ihr wurde bewusst, dass ihr Mund mit einer Folie ver­klebt war. Sie hatte keine Chance, ihre Lage zu beurteilen. Aber sie lebte. Daran hatte sie keinen Zweifel. Im Jenseits würde der Kopf nicht so schmerzen, würde ihrer Vorstellung nach überhaupt nichts schmerzen.

      Wenn schon eine Beurteilung der gegenwärtigen Lage unmöglich schien, dann war es wohl am besten, sich einmal darüber klar zu werden, wie es dazu gekom­men war. Anke dachte als Erstes an einen Autounfall. Vielleicht befand sie sich in der Intensivstation eines Krankenhauses. Dagegen sprachen natürlich der verklebte Mund und die totale Finsternis. Hatte sie ihr Augenlicht verloren? Das konnte sie nicht sofort ausschließen. Aber die Tatsache, dass man sie an Händen und Füßen gefesselt und ihr den Mund verklebt hatte, sprach nicht für die Folgen eines Unfalls. Himmel, jetzt wurde ihr klar, dass sie Opfer eines Ver­brechens geworden sein könnte! Ihre Abwehrkräfte, ihr Lebenswille erhiel­ten starke Impulse. Wenn sie in verbrecherischer Absicht hier festgehalten wurde, dann hieß es besonders aufmerksam und vorsichtig sein. Man hatte sie offenbar aus dem Verkehr gezogen, aber nicht beseitigt. Die Gefahr war noch nicht vorbei. Man hatte mit ihr also noch etwas vor. Sie lebte noch und sie begann zu denken, strategisch zu denken.

      Der stechende Schmerz in ihrem Kopf schien sich ein wenig zu mildern. Die Feststellung zu leben, die Erkenntnis, nicht irgendwelchen Räubern in die Hände gefallen zu sein, welchen ihr Leben egal war, gaben ihr das Gefühl, wichtig zu sein, eine bestimmte Rolle in dem, was vorging, zu spielen. Als Nächstes dachte sie an Herbert. Sie war seit einigen Monaten mit Herbert liiert. Da sie aber nach wie vor in ihrer Wohnung allein lebte, konnte es leicht sein, dass Herbert ihr Verschwinden noch nicht aufgefallen war. Weder traf sie Herbert täglich noch telefonierte sie wegen jeder Kleinigkeit mit ihm. Sie war kein Teenager mehr, der ständig jemandem seine Erlebnisse mitteilen musste. Das Telefon war ihr nicht Ersatz für persönliche Begegnungen, sondern ein professionelles Instru­ment. Wo war ihr Handy wohl, wo waren überhaupt ihre Sachen? Ihre Hand­tasche mit ihrem Terminkalender und sonstigen Aufzeichnungen?

      Der Gedanke an das Telefon brachte ihr die Erinnerung an die Situation zurück, als sie ihr Handy in der Handtasche zuletzt läuten gehört hatte. Das war in der Ankunftshalle des Flughafens. An dieses Ereignis konnte sie sich plötzlich gut erinnern. Da war doch der Anruf aus ihrer Firma, aus der Telefonzentrale, von irgendeinem der Studenten, die dort nach Dienstschluss die Stellung hielten, dass Herr Sturiak sich gemeldet hätte, dass er wegen verspäteter Ankunft in Zürich den Anschlussflug nach Wien versäumt habe und erst mit der nächsten Maschine kommen würde. Und sie hatte sich so beeilt, wegen der verfrühten Ankunft noch rechtzeitig am Flughafen zu sein! Das war umsonst, wie es eben manchmal vorkommt. Anke hatte schon einige Erfahrungen mit Handlungen, die sich nachträglich als vergeblich herausgestellt hatten, sowohl in der Firma als auch privat. Damit musste man immer rechnen.

      Nachdem sie dieses Telefonat entgegengenommen und eben schon überlegt hatte, ob es Sinn machen würde, nochmals in die Stadt zurückzufahren, war sie von einer ihr bekannten Stimme angesprochen worden. Es war Fred. Und Stoffel war auch da. So ein Zufall! Die zwei Männer kannte sie seit einer Tour durch das