Emilia Meyer

Endlich sechzehn


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ruhig mal verraten können, wie es denn nun sein sollte. Das Schamlippen-Schönheitsideal. Wie einen Ikea-Klappstuhl klappte Mia die Beine wieder zu. Heute musste sie sich damit eh noch nicht auseinandersetzen. Heute waren ja noch nicht einmal ihre behaarten Beine auf der Speisekarte. Mia musste glucksen. Manchmal widerte sie sich selbst an.

      Sie sprang auf, hüpfte zum Kleiderschrank und drehte auf dem Weg dahin die Musik noch einen Tacken lauter. Ariana Grande. Problem. Wie schön, dass ausnahmsweise niemand die Treppe herunterbrüllte, sie solle die Musik gefälligst wieder leiser drehen. Sie werde sonst ganz sicher taub werden. Allerdings musste Mia sich eingestehen: So weit hergeholt war diese Behauptung eigentlich gar nicht. Aber ihr war das egal. Musik musste gespürt, gefühlt, gelebt werden. Durch die Haut gehen wie eine Nadel beim Impfen.

      Langsam wurde sie nervös. Nur noch eine halbe Stunde bis die ersten Gäste auftauchen würden. Sie blickte in den leeren (vollen) Kleiderschrank. Zwei Cardigangs, fünf Hoodies, hundert hässliche T-Shirts, aber nur ein spießiger Rock und zwei Kleider, von denen eins noch von ihrer Konfirmation war. Sie war ja auch noch nicht oft (nie) auf einer richtigen Party gewesen. Aber das mit den Partys. Das ging jetzt richtig los. Sie musste dringend shoppen gehen. Wenn sie heute Abend gut aussähe, würde viel passieren. Heute war die Nacht der Entscheidungen. Was überzeugte Jungs wohl mehr? A) Ein figurbetontes Kleid kombiniert mit einem perfekten Lidstrich oder B) der Selbstbewusstseins-Booster, den man bekam, wenn man mit einem figurbetonten Kleid und einem perfekten Lidstrich rumrannte? Wahrscheinlich eine Mischung aus beidem. Vanja würde sie bestimmt auch ungeschminkt, mit Dutt und im Snoopy-Pyjama mögen. Auf die Probe stellen wollte sie ihn trotzdem nicht. Sie griff nach dem sexiesten Kleid, das ihr Schrank zu bieten hatte. Zum einen war es klassisch: schwarz. Zum anderen ein Blickfang: mit Pailletten besetzt. Und es ging nur bis kurz über den Po. Sie griff nach einem schwarzen BH – ihrem einzigen Exemplar mit Push-Up – und einem knallpinken Slip. Kein String. Valeska hatte behauptet, dass sie immer String trage. Auch beim Schlafen. Aber die hatte ja auch schon einen Freund. War ja bei ihr egal, was sie untenrum trug. Nachdem sie in das schwarze Pailletten-Kleidchen geschlüpft war, stellte sie sich wieder vor den großen Wandspiegel. Das Kleid lag viel zu sehr an – es betonte ihre Kakerlaken-Figur: Einerseits zeichneten sich ihre Speckröllchen und ihre runden Hüften deutlich ab, andererseits wurden, dank der Kürze des Kleides, ihre schlanken Beine hervorgehoben. Was blieb ihr anderes übrig? Eine wirkliche Alternative gab ihr Schrank nicht her. Musste sie halt den ganzen Abend (noch mehr) den Bauch einziehen. Dabei hatte sie sich schon so auf die Triple-Chocolate-Cupcakes gefreut, die Julie versprochen hatte, mitzubringen. Julies Triple-Chocolate-Cupcakes waren der Hammer.

      Resigniert stolperte Mia ins Badezimmer. Nur noch fünfundzwanzig Minuten. Erst kämmte sie sich die Haare. Dann ein wenig Make-Up. Leichtes Puder, dunkelbraunen Lidschatten in die Lidfalte, hellbraunen auf das Oberlid, verblenden. Ein dünner, tiefschwarzer Lidstrich, kein Kajal. Sie hatte keine Kulleraugen à la Zooey Deschanel – Kajal ließ ihre Augen so weit schrumpfen, dass sie aussahen wie die Knopfaugen eines Teddybärs. Dezentes Rouge. Viel Wimperntusche. Kein Lippenstift. Valeska hatte gemeint, dass Jungs lieber ungeschminkte Lippen küssten. Zweite Runde Bürsten, denn wenige Minuten nach dem ersten Kämmen verknoteten sich ihre Haare bereits wieder.

      Noch fünfzehn Minuten. Eigentlich war sie jetzt fertig. Für ihr Spiegelbild setzte sie ein Lächeln auf, das bezaubern sollte. Sie fühlte sich maskiert und wohl in dieser zweiten Haut. Mia wünschte, sie würde sich auch wohl in ihrer ersten, in ihrer eigenen, Haut fühlen. Eines Tages würde sie Vanja gegenübertreten, entpuppt – nackt und ungeschminkt – und er würde ihr sagen, wie schön sie sei. Und dass er unbedingt mit ihr schlafen wolle. Nur mit ihr. So stellte Mia sich das vor. So stellte sie sich eine perfekte Beziehung vor. „Head in the clouds. Got no weight on my shoulders”, summte sie gut gelaunt. So richtig verliebt. Das wäre Mia gerne. Das war ihr großes Ziel.

      In den letzten zehn Minuten pickte Mia die ganzen Klamotten, die sie auf den Boden geschmissen hatte, wieder auf und schmiss sie zerknüllt in den Schrank, versteckte ihren Snoopy-Pyjama unter ihrer Bettdecke, betätigte zur Vorsicht nochmal die Klospülung, holte die Mischbierflaschen aus dem Gefrierschrank, welche sie zuvor kalt gestellt hatte, und platzierte sie in einer Reihe auf dem Küchentisch, rückte die Kissen auf der Couch im Wohnzimmer zurecht, startete die Mia’s-16.-Liste auf Spotify, die sie vor ihrer Maskenbildnerei stundenlang zusammengestellt hatte, überprüfte zwischendurch noch ein paar Mal ihren Look im Badezimmer-, Wohnzimmer- und Flurspiegel und kämmte sich zu guter Letzt noch ein drittes Mal die Haare. Dann schmiss sie sich auf die Wohnzimmer-Couch. Atmete tief ein. Noch eine Minute. Es würde wahrscheinlich eh keiner pünktlich kommen. Sie war noch aufgeregter als sie es erwartet hatte. Was Vanja ihr wohl schenken würde? Sie hatte die ganze Zeit versucht, nicht darüber nachzudenken. Sich nichts auszumalen. Sie wollte keine zu hohen Erwartungen haben. Aber jetzt, während der Ruhe vor dem Sturm… Wie er sich heute wohl verhalten und was er sagen und ob er sie um zwölf küssen würde. Sie konnte an nichts anderes mehr denken. In ihrem Kopf liefen zig unterschiedliche Versionen des Abends ab. Trailer mit verschiedenen Genres, mal mit dramatischer, mal mit erotischer musikalischer Begleitung, mal mit Cliff-Hänger, mal mit vorweggenommenen Happy-End, aber immer wieder mit denselben Protagonisten: Vanja und Mia. Mia und Vanja. Sie griff mit verschwitzten Fingern nach ihrem iPhone, welches auf dem gläsernen Wohnzimmertisch lag. Zum Glück hatte sie das schwarze Pailletten-Kleid angezogen. Auf dem Stoff würde man ihre großformatigen Schweißflecke nicht erkennen können. Und sie würde heute Abend ganz sicher viel schwitzen. Warum war ihr Schweiß so peinlich? Jeder Mensch schwitzte doch. Ihre Hände kribbelten. Etwas saß in ihrem Unterleib und strampelte wie verrückt. Sie hatte das Gefühl rot anzulaufen. Was war los mit ihr? Stand sie tatsächlich auf Vanja? So richtig? Oder steigerte sie sich nur in eine Verliebtheit rein? Weil sie es sich so sehr wünschte? Das ganze Paket. Gestern war sie sich doch gar nicht so sicher gewesen, ob sie das überhaupt wollte. Eine richtige Beziehung. Mit Vanja. Mia und Vanja. Sie blinzelte aufs Iphone. Keine Nachricht. Sie war enttäuscht. Freute er sich gar nicht auf die Party? Er hatte den ganzen Nachmittag nicht geschrieben. Mia hatte sich dazu gezwungen, ihr Handy während der Vorbereitung wegzulegen. Den ganzen Nachmittag hatte er nicht geschrieben. Und wenn sie es sich so recht überlegte… Hatte er auch nie wirklich zugesagt. Was, wenn er überhaupt nicht kam? Sie wollte gerade noch einmal Facebook checken, schauen ob er zu- oder abgesagt hatte, da ertönte die Klingel.

      As sie sich von der Couch erhob, schwankten ihre Beine als stände sie auf dem Deck eines Katamarans. Die Vorstellung, dass er es sein konnte, der vor der Tür stand, machte sie ganz benommen. Er war noch nie bei ihr zuhause gewesen. Fast rutschte ihr die Hand von der Klinke ab, als sie die Tür öffnete. (Vorhang auf.)

      Es war Julie. Sie war ein bisschen enttäuscht, dass es nicht Vanja, sondern Julie war. Mias schlechtes Gewissen versetzte ihr einen Stich. Doch von der einen Sekunde auf die andere drehte sich Mias Gefühlswelt um 180°. Als sie in Julies mandelförmige, haselnussbraune Augen schaute, war sie plötzlich erleichtert, dass ihre beste Freundin als erstes da war und nicht Vanja. Julie hielt Mia ein verführerisch duftendes Paket vor dir Nase.

      „Hier für dich. Deine Lieblings-Cupcakes. Triple-Chocolate.“

      „Du bist die Beste, Julie. Alter, wie das duftet. Ich wünschte, ich hätte etwas anderes angezogen.“

      „Sag mir nicht, du isst jetzt nichts von den Cupcakes, nur weil Vanja kommt.“

      Mia warf ihr einen schuldbewussten Blick zu.

      „Tut mir schrecklich leid. Aber mein Fett quillt ja jetzt schon über. Heute wird etwas passieren. Und dann will ich nicht aussehen wie eine fette Qualle. Auch wenn es dafür wahrscheinlich schon zu spät ist.“

      „Miaaaa. Geh mir nicht auf den Sack. Du siehst super aus. Dreh dich mal.“

      Mia stieß sich mit ihrer Fußspitze ab, warf die Arme nach oben und drehte eine Pirouette.

      „Nicht schlecht, nicht schlecht!“

      „Ja, wirklich? Bist du dir sicher? Ich war mir nicht so sicher, ob ich das tragen kann.“

      Julie ging an Mia vorbei, stellte die Cupcakes auf dem Küchentisch neben den Bierflaschen ab und machte es sich anschließend auf der Couch bequem. Mia dackelte ihr hinterher.

      „Na,