Narcia Kensing

Saphirherz


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zu können. Fast ein Jahr war es nun her, seit Lillys Mutter für immer von ihr gegangen war, plötzlich und unerwartet. Lilly hatte im Middletown Hotel gearbeitet und war gerade damit beschäftigt gewesen, in der Küche Gläser zu spülen, als sie die Nachricht erreichte. Sie erinnerte sich daran, als sei es erst gestern gewesen. Von diesem Zeitpunkt an war das Leben wie in Zeitlupe an ihr vorüber gezogen. Sie hatte sich wochenlang Vorwürfe gemacht, weshalb sie ihre Mutter nicht nach New York City begleitet hatte, weshalb sie sie ausgerechnet an diesem Tag allein hatte ziehen lassen. Lilly hatte nicht einmal genau gewusst, was ihre Mutter in die Stadt gelockt hatte, aber das Lächeln, das ihre Lippen umspielte, als sie morgens das Haus verließ, hatte darauf schließen lassen, dass sie sich mit ihrer neuesten Männerbekanntschaft hatte treffen wollen. Lillys Vater hatte die Familie bereits verlassen, als sie noch ein Kleinkind gewesen war, seitdem hatte ihre Mutter nie wieder einen Mann gefunden, der länger als ein paar Monate an ihrer Seite geblieben wäre. Sie hatte sich mit vielen Typen verabredet, aber nie war Mr. Right dabei gewesen. Lilly hatte sich nichts dabei gedacht, als ihre Mom an diesem schicksalhaften Junimorgen in ihrem schönsten Sommerkleid das Haus verließ, um mit dem Zug nach New York City zu fahren. Lilly hatte es ihr von Herzen gegönnt, einen neuen Mann zu finden. Vielleicht wäre es diesmal der richtige gewesen. Doch ihre Mom kehrte nie wieder zurück. Man hatte ihre Leiche wie Müll in einer heruntergekommenen Gegend am Straßenrand gefunden. Von dem Kerl, mit dem sie sich hatte treffen wollen, fehlte jede Spur. Lilly besaß weder eine Adresse noch eine Telefonnummer von ihm. Ihre Mutter hatte zuvor immer von einem Gabriel gesprochen, aber ein Vorname allein ist keine besonders heiße Spur. Lilly hasste sich dafür, so unvorsichtig gewesen zu sein und nie nach seinem Nachnamen oder seiner Adresse gefragt zu haben. Und wer weiß, ob er ihrer Mutter überhaupt seinen richtigen Namen genannt hatte. Man hörte doch immer wieder von verhängnisvollen Internetbekanntschaften, bei denen mit falschen Karten gespielt wird. Bis heute zerfraß Lilly der Hass auf diesen Kerl, obwohl sie nicht einmal wusste, ob er überhaupt etwas mit Rebeccas Tod zu tun hatte. In dieser verdammten Stadt war schließlich alles möglich. Bis auf den Tag, an dem Lilly nach New York City reiste, um die Leiche ihrer Mutter zu identifizieren, hatte sie die Metropole nie wieder betreten.

      Lilly ging die verlassenen schmalen Wege zwischen den Gräbern entlang. Sie kannte den Weg in und auswendig, hätte ihn mit verbundenen Augen gehen können. Sie kam oft hierher, obwohl Joy und Alexis ihr geraten hatten, es für eine Weile lang auf sich beruhen zu lassen. Lilly hasste sie für diesen Vorschlag. Sie war noch längst nicht so weit, ihre Mutter und zugleich beste Freundin der Vergessenheit anheim fallen zu lassen, pah!

      Zwischen zwei hochgewachsenen Pappeln, die sich im fahlen Licht einer schwachen Laterne im Wind wiegten, tauchte das gesuchte Grab vor ihr auf. Es war eines der ganz einfachen Gräber, der Stein war grau und schmucklos, es gab keine verzierten Engelsstatuen oder sonstigen Schnickschnack. Lilly hätte ihrer Mutter gerne die schönste Grabstätte der Stadt errichtet, doch als der Bestatter ihr den Preis genannt hatte, war an ein prächtiges Pharaonengrab nicht mehr zu denken. Ohne das Geld, das ihre Tante Joy locker gemacht hatte, hätte die arme Frau nicht einmal einen Stein bekommen, und sei er noch so schmucklos. 'Rebecca Bates, *08.05.1962 † 09.06.2011' war in schnörkellosen Buchstaben in die glatte kleine Platte eingraviert.

      Lilly blieb stehen und seufzte. Die frischen Schnittblumen, die sie gestern abgelegt hatte, waren vom Regen bereits aufgeweicht und nicht mehr ansehnlich. Ein trauriger Anblick.

      Sie fröstelte. Es war Mitte April, die Temperaturen abends noch empfindlich kühl. Der Regen tat sein Übriges. Lilly strich sich die störrischen rotblonden Strähnen, die ihr am Kopf klebten, aus der Stirn. Allmählich kroch die Nässe unter ihre Kleidung, sie fühlte sich klamm auf der Haut an. Sie freute sich bereits auf eine heiße Dusche, wenn auch nicht auf ihre nervige Cousine.

      »Hey, Mom.« Ihre Stimme war leise und klang belegt, sie räusperte sich. Sie sprach nicht jedes Mal zu ihrer Mutter, und erst recht nicht, wenn jemand in der Nähe war. Doch es war spät und das Wetter schlecht, kein normaler Mensch käme unter diesen Umständen auf die Idee, auf den Friedhof zu gehen.

      »War echt ein mieser Tag heute. Jeder Tag ist mies, seit du weg bist.« Lilly erwartete natürlich keine Erwiderung, dennoch tat es gut, sich seinen Kummer einfach von der Seele zu reden. »Ich weiß einfach nicht mehr weiter. Kein Geld, kein Job und kaum noch Erspartes. Was soll ich bloß machen?«

      Manchmal war ihr, als hörte sie die Antwort ihrer Mutter, was zwangsläufig daher rührte, dass sich die beiden einst sehr nahe gestanden hatten und Lilly ihre Reaktionen sehr gut einschätzen konnte. Rebecca hätte ihr vermutlich geraten, endlich aktiv zu werden, Middletown zu verlassen und zu tun, was nötig war, um sich eine Existenz aufzubauen.

      »Ich weiß nicht, ob ich dazu schon bereit bin«, antwortete Lilly auf den imaginären Kommentar. Sie beugte sich hinab und zupfte die durchweichten Blüten vom Strauß, bis nicht mehr viel davon übrig blieb als ein Bündel Grünzeug.

      »Morgen bringe ich einen neuen Strauß, wenn das Wetter wieder besser ist.«

      Lilly sah auf ihre Uhr. Viertel vor neun. Zeit zu gehen. Sie lächelte noch einmal gequält, ehe sie sich vom Grab abwandte und sich auf den Rückweg zum Tor machte. Es war kein langer Besuch gewesen, hatte ihr aber dennoch gut getan.

      Ihre Schritte knirschten auf dem Kies. Ein unangenehmes Gefühl beschlich sie, als würde sie jemand beobachten. Es prickelte in ihrem Nacken. Lillys Herz klopfte schneller, sie konnte nichts dagegen tun. Sie fürchtete sich nicht davor, im Dunkeln auf einen Friedhof zu gehen, dennoch sträubten sich die Haare auf ihren Unterarmen. Sie warf einen Blick über die Schulter zurück. Tatsächlich huschte etwas durch die Schatten. Ein Schreck fuhr ihr durch die Glieder, für den sie sich sogleich tadelte. Sicher nur ein Vogel oder eine Ratte.

      Sie beschleunigte ihre Schritte und bog um die letzte Ecke, ehe der Ausgang vor ihr auftauchen würde. Sie zuckte zusammen und konnte gerade noch einen Schrei unterdrücken, als direkt vor ihr wie aus dem Nichts eine Gestalt auftauchte, die vor einem der Gräber kniete. Die Person machte keine Anstalten, zu ihr aufzublicken. Sie saß ganz ruhig, eine Decke über Kopf und Schultern gezogen und das Gesicht im Schatten verborgen. Anhand ihrer zierlichen Gestalt schlussfolgerte Lilly, dass es eine Frau war. Ihr Herzschlag verlangsamte sich wieder.

      Meine Güte, weshalb bin ich denn so ein Angsthase? Die Dame ist aus demselben Grund hier wie ich.

      Lilly wollte gerade kommentarlos an ihr vorüber gehen, als die Frau sich rührte und ihr den Kopf zuwandte. Lilly blieb stehen, als würde eine unbekannte Macht sie davon abhalten, die Füße zu heben und weiter zu gehen. Sie sah auf die am Boden kniende Gestalt hinab, konnte ihr Gesicht jedoch noch immer nicht richtig erkennen. Es war sehr dunkel. Doch es bestand kein Zweifel daran, dass sie Lilly ansah.

      »Entschuldigung, ich wollte Sie nicht stören«, brachte Lilly leise hervor.

      »Sie stören mich nicht.« Die Stimme der Frau klang jung und glasklar. »Ich bin es nicht gewohnt, um diese Uhrzeit noch andere Besucher hier zu sehen.«

      Lilly trat einen Schritt näher an sie heran, doch außer der vagen Linie ihres Kinns und ihrer Wangenknochen konnte sie nichts erkennen. »Ich habe ebenfalls gedacht, allein zu sein.«

      »Ihre Stimme klingt so traurig.«

      Lilly stutzte ob ihrer Bemerkung. »Ist doch angemessen auf einem Friedhof, oder?« Sie lächelte gequält, aber im selben Moment erschien es ihr albern. Dies war kein Ort, an dem man Witze machte.

      »Ich meine den Unterton in ihrer Stimme, der immer da ist.«

      »Mein Leben gibt mir nicht viel Anlass, glücklich zu sein.«

      »Es gibt doch immer etwas, für das es sich zu kämpfen lohnt. Blicken Sie in die Zukunft.«

      Lilly wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte. Ratschläge von einer Fremden? Sie fragte sich, ob sie die junge Frau kannte. Middletown zählte gerade einmal dreißigtausend Einwohner und zumindest diejenigen, die regelmäßig auf den Friedhof kamen, glaubte sie zu kennen. Ihr Blick irrte zum Grabstein, vor dem die Frau kniete. Schwach glänzte die Schrift im Licht eines Grablichtes.

       In Erinnerung an Laurie Malone, *1970, †1988