Narcia Kensing

Saphirherz


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ich mich jetzt umdrehte und ging, wäre das äußerst unhöflich gewesen (obwohl mich solche Dinge doch sonst auch nicht interessierten?!).

      »Wohnst du in dieser Gegend? Ich habe dich nie zuvor gesehen.« Du Dummkopf! Natürlich hast du sie nie zuvor gesehen! Bei mehreren Millionen Einwohnern wäre dies auch äußerst unwahrscheinlich gewesen.

      »Ich wohne ein ganzes Stück weiter uptown, jenseits der 100. Straße.«

      Aha. Nicht die teuerste Gegend also. Ich hätte sie glatt für eine Tochter aus reichem Hause gehalten, hatte mich anscheinend jedoch getäuscht.

      »Ich wollte noch nicht von der Schule nach Hause. Zeichnen lenkt mich immer so schön ab.« Also ging sie tatsächlich noch zur Schule.

      »Wie alt bist du?« Wieder ist die Frage heraus, ehe ich darüber nachdenken kann. Das klingt jetzt wirklich nach dämlicher Anmache! Ich sollte mich schämen.

      »Siebzehn. Bin im letzten Jahr auf der High School.« Ihre nette, unbekümmerte Art ließ das Blut in heißen Wellen durch meine Adern pulsen, und das lag nicht nur am Wetter. Ich wollte sie unbedingt wiedersehen, irgendetwas an ihr zog mich magnetisch an. Aber wie sollte ich das anstellen, ohne mich strafbar zu machen? Sie würde sich doch nie auf ein Date mit mir einlassen. Und das war vielleicht sogar besser so.

      »Nun, ich werde dann mal wieder gehen«, sagte ich und hasste mich dafür, dass mir die Röte wie bei einem Teenager ins Gesicht stieg.

      »War nett, dich kennengelernt zu haben. Schade, dass du schon gehen musst, Fremder.« Sie grinste und offenbarte eine Reihe makelloser Zähne.

      Das hätte sie vielleicht nicht sagen sollen, denn plötzlich keimte die völlig irrsinnige Hoffnung in mir auf, sie könnte tatsächlich Interesse an mir haben.

      Während ich mich abwandte, um beschämt den Rückweg anzutreten, rief ich ihr über meine Schulter hinweg zu: »Ich bin Freitagabend ab neunzehn Uhr immer im Sweetwaters in der 46. Straße. Habe da einen Nebenjob. Vielleicht magst du ja mal vorbeikommen.«

      Ehe ich vor Scham im Boden versinken konnte, steuerte ich schnellen Schrittes den Bürgersteig an und tauchte wieder in die Menschenmassen ein, ohne mich noch einmal nach dem Mädchen umzudrehen. Ich kannte nicht einmal ihren Namen.

      Kapitel zwei

       Zuerst ratterte es, dann wurde es gleißend hell. Mit einem gewaltigen Schreck setzte Lilly sich im Bett auf. Ihr Herz wummerte. Die knotigen Haare hingen ihr wirr ins Gesicht, während sie versuchte, sich zu orientieren. Hatte sie schlecht geträumt? Dann fiel ihr Blick auf Alexis, die sich am Zugband der Rollläden zu schaffen machte.

      »Es ist nach halb acht, Zeit aufzustehen, du Faulpelz.« Ihr Tonfall war alles andere als liebevoll. »Ich muss jetzt zur Arbeit, und du machst dich hier gefälligst nützlich.«

      Lilly gähnte und strich sich eine widerspenstige Strähne aus dem Gesicht. Immer dieses Gezeter, und das am frühen Morgen! Sie hatte wirklich schlecht geschlafen, bizarre Träume von violetten Blumen und geisterhaften Frauen waren um ihr Bett geschwirrt wie geflügelte Dämonen.

      Sie schwang die Beine über den Bettrand und sah verschlafen zu ihrer Cousine auf. »Ich kümmere mich nachher um alles«, murmelte sie.

      »Deine Art, den Haushalt zu führen, kenne ich, meine Liebe! Aufräumen bedeutet nicht, alles wahllos in die Schränke zu werfen.«

      »Du hast doch gestern erst aufgeräumt und gesaugt!«

      Alexis reckte den Zeigefinger in die Höhe wie eine tadelnde Mutter. Lilly hasste diesen Zug an ihr. »Es gibt noch genug anderes zu tun. Und wenn du schon einmal dabei bist«, sie deutete auf den Laptop, der auf dem Esstisch stand, »kannst du im Internet mal nach Stellenanzeigen suchen.« Alexis schulterte ihre Jutetasche und griff nach ihrem Schlüsselbund, der ebenfalls auf dem Tisch lag. »Ich muss jetzt los. Bis nachher.«

      »Ja, bis nachher«, murmelte Lilly so leise, dass Alexis es nicht gehört haben konnte. Ein paar Sekunden später fiel die Wohnungstür etwas heftiger als nötig ins Schloss. Stille breitete sich im Wohnzimmer aus, einzig durchbrochen von der tickenden Wanduhr über dem Fernseher.

      Lilly seufzte und hievte sich auf beide Beine. Sie ging ins Badezimmer, wusch und kämmte sich, zog sich einen bequemen Jogginganzug an, verstaute das Bettzeug wieder im Bettkasten und saß wenig später auf dem Barhocker in der Küche und wartete darauf, dass die Padmaschine den Morgenkaffee ausspuckte, den Lilly bitternötig hatte. Alexis' Küche war so klein, dass es für einen anständigen Tisch nicht gereicht hatte. Stattdessen gab es nur zwei Hocker und einen schmalen, einklappbaren Tresen. Das war sicherlich nicht das, was der Erfinder des Wortes 'gemütlich' vor Augen gehabt hatte, aber Alexis bestand darauf, dass ausschließlich in der Küche gefrühstückt wurde. Ihr wertvoller Wohnzimmerteppich Marke Home Shopping Kanal durfte schließlich nicht durch etwaige herunterfallende Krümel beschmutzt werden. Der Esstisch war eher ein Dekorationsgegenstand und wurde ausschließlich benutzt, wenn Alexis Gäste erwartete. Freunde hatte ihre Cousine genug, aber es waren alles hässliche verklemmte Weiber, die ihre Freizeit mit Esoterik und dem Sammeln von Hello Kitty Zeug widmeten. Achso, ja, und Mangas natürlich. Wie hatte Lilly das vergessen können. Sie verdrehte die Augen. Es wurde wirklich dringend Zeit, dass sie hier auszog. Sie wäre nie bei Alexis eingezogen, wenn es eine andere Möglichkeit gegeben hätte. Aber gute Freunde, bei denen Lilly hätte unterschlüpfen können, gab es nicht. Ihr gesamter Freundeskreis war bereits nach der High School auseinandergebrochen. Die meisten waren aufs College gegangen, verteilten sich quer über die USA oder hatten Familien gegründet - oder alles auf einmal. Kein einziger war in Middletown geblieben, wozu auch. Um im Walmart zu arbeiten, wie ihre Cousine?

      Das Licht an der Padmaschine leuchtete grün, der Kaffee war fertig. Lilly nahm einen Löffel aus der Schublade und knallte noch drei Portionen Zucker hinterher, ehe sie sich wieder an den beengten Tresen quetschte.

      Als sie mit dem Löffel in der Tasse rührte und das Metall gegen das Porzellan schlug, durchfuhr sie mit einem Mal heftiger Schwindel, als hätte das klimpernde Geräusch etwas in ihrem Hirn ausgelöst, das sie nun nicht mehr zurückdrängen konnte. Lilly krallte sich an den Tresen, doch sie konnte sich nicht auf dem Hocker halten. Sie spürte noch, wie ihr Hinterteil hart auf dem Fliesenboden aufschlug, ehe es schwarz um sie herum wurde. Nur langsam lichtete sich der Nebel wieder, doch Lilly saß nicht länger in Alexis' Küche, sondern beobachtete eine junge Frau, die an einem dunklen Holztisch vor einem großen Fenster saß und ebenfalls in einer Tasse rührte. Lilly wusste, dass sie träumte, konnte sich von den Bildern jedoch nicht lösen, als hielte sie eine Macht darin gefangen. Hatte sie das nicht schon einmal erlebt?

      Leise Musik drang an ihre Ohren, irgendein Klassiker aus den Achtzigern. Sie nahm den Geruch von Tabak, Bier und Frittierfett wahr.

      Die Fremde sah einsam und gedankenverloren aus. Auf dem Tisch vor ihr stand ein hässliches Gesteck aus Kunstblumen und eine Kerze, wie sie es nur in billigen Restaurants gab. Lilly versuchte, das Gesicht der Frau zu erkennen, aber immer, wenn sie es fokussieren wollte, verschwamm das Bild vor ihren Augen. Stattdessen lenkte sie ihre Aufmerksamkeit auf die Serviette, die neben der Tasse auf dem Tisch lag. Sie war weiß, mit einem runden Logo darauf. Lilly konnte es nicht genau erkennen, aber darunter stand das Wort 'Sweetwaters NYC' in künstlerisch verschnörkelter Schrift.

      Die junge Frau sah auf, als hätte etwas ihre Aufmerksamkeit erregt. Ihre Mundwinkel verzogen sich zu einem unschuldigen Lächeln. Lilly sah es nicht direkt, aber sie spürte es. Die Dame freute sich.

      Jemand setzte sich ihr gegenüber an den Tisch, aber Lilly konnte nicht erkennen, wer es war. Das Bild löste sich allmählich auf und zersetzte sich wie Säure, ehe sich die Konturen von Alexis' Küche wieder aus dem Nebel schälten.

      Lilly saß auf dem Boden, die zerbrochene Tasse neben ihr. Eine Kaffeepfütze hatte sich über die Fliesen verteilt und sich in Lillys Jogginghose gesogen. Super. Jetzt würde sie Alexis die zerbrochene Tasse erklären müssen. Sie hatte nicht einmal bemerkt, dass sie herunter gefallen war. Lilly quälte sich zurück auf die Beine. Ihr war übel und der Appetit auf Kaffee war ihr gründlich