Narcia Kensing

Saphirherz


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Es war ungepflegt und verwildert, nie hatte sie jemanden Blumen ablegen gesehen. Sie bezweifelte zudem, dass die junge Dame alt genug war, um die Verstorbene gekannt zu haben.

      Hinter Lilly raschelte es in einem Gebüsch. Sie fuhr herum und sah gerade noch die Silhouette eines Vogels in der Dunkelheit verschwinden. »O Mann, der hat mich erschreckt!«

      Sie fasste sich an die Brust und wandte sich wieder nach vorn, doch die Fremde war verschwunden. Sofort durchzuckte sie ein weiterer, noch größerer Schreck als der erste. Hastig warf sie den Kopf von rechts nach links, aber von der jungen Frau fehlte jede Spur. Sie kann sich doch nicht innerhalb einer Sekunde in Luft aufgelöst haben! Lilly spürte Übelkeit in sich aufsteigen. Das war eindeutig zu viel für ihre Nerven. War sie bereits so übermüdet, dass sie sich Menschen einbildete? Vielleicht hätte sie Joys Rat annehmen und sich psychologische Hilfe suchen sollen. Das war doch nicht normal! Sie musste dringend nach Hause und unter die Dusche.

      Lilly seufzte und rieb sich über das regennasse Gesicht. Dann fiel ihr Blick auf eine Blume, die vor dem Grabstein von Laurie Malone ihre kleinen blauen Blüten in die Luft reckte. Eine Blume, die nach Einbruch der Dunkelheit noch blühte? Und woher kam sie so plötzlich, sie wuchs doch gerade eben noch nicht dort, oder doch?!

      Ich werde verrückt, ganz eindeutig. Eine andere Erklärung kann es nicht geben. Ich werde wahnsinnig.

      Lillys Blut pulste in rasantem Tempo durch ihre Adern. Sie wollte nichts als nach Hause, konnte den Blick jedoch nicht von den Blüten reißen. Ein Vergissmeinnicht. Wie in Trance beugte Lilly sich nach vorne und berührte die Pflanze. Weshalb sie es tat, wusste sie nicht. Vielleicht, um sich davon zu überzeugen, dass sie sich die Blume nur einbildete.

      Kaum streiften ihre Finger ein Blatt, schoss ihr ein heftiger Kopfschmerz in den Schädel. Ihr wurde schwindlig, alles drehte sich. Lilly spürte gerade noch, dass sie nach hinten kippte und mit dem Po auf dem Schotterweg aufschlug, als sich Bilder vor ihr inneres Auge schoben. Die Realität verblasste und wurde ungreifbar, als wäre Lilly nicht in der Lage, aus dem Schlaf zu erwachen, obwohl sie genau wusste, dass sie träumte.

      Sie sah eine Frau, die mit wehendem Sommerkleid einen Kiesweg entlang rannte. Das Kleid war leuchtend gelb, ihre blonden schulterlangen Haare wirbelten ihr offen um den Kopf. Sie lachte. »Fang mich!« Die Worte hallten in Lillys Kopf mehrfach nach wie ein Echo.

      Mehr Details der Umgebung traten in den Vordergrund. Ein Park, grüne Wiesen und schwarze Metallbänke, die am Rand der gepflegten Wege standen. Über den grünen Baumwipfeln ragten die Umrisse hoher Häuser empor.

      Das Mädchen, das Lilly auf nicht älter als sechzehn schätze, rannte weiter. Sie stolperte, lachte und rappelte sich wieder auf. Sie sprang über ein niedriges gusseisernes Geländer und hechtete einen Felsen empor, der sich in die Parklandschaft schmiegte. Erst jetzt sah Lilly, dass sie nicht allein war. Hinter dem Mädchen rannte ein junger Mann, doch Lilly sah ihn nur von hinten. Er trug sportliche Kleidung, ein Cap, Turnschuhe und ein Sporttrikot, vielleicht von einer Basketballmannschaft. Er eilte der Frau hinterher den Felsen hinauf. »Du kannst nicht weglaufen!« Er holte sie ein, umarmte sie von hinten und wirbelte sie herum.

      Dann verblasste das Bild in Lillys Kopf. Es löste sich auf wie Sand, der einem durch die Finger rann. Es war wieder dunkel, nass und kalt. Lilly saß auf ihrem Hinterteil, den Körper mit den Armen nach hinten abgestützt. Sie schüttelte den Kopf, um die verstörenden Bilder aus selbigem zu vertreiben.

      »Miss?«

      Eine Männerstimme riss sie aus ihrer Paralyse. Sie legte den Kopf in den Nacken und sah in das Gesicht eines Mannes, der sich auf die Knie gestützt zu ihr hinab beugte.

      »Ist alles in Ordnung mit Ihnen? Ich muss das Tor jetzt abschließen und sie bitten, den Friedhof zu verlassen.« Er reichte Lilly seine große raue Hand, nach der sie zögerlich griff und sich auf die Beine ziehen ließ.

      »Mir ist plötzlich schwindlig geworden.«

      »Sie haben Glück, dass ich noch einmal eine Runde gedreht habe, ehe ich abschließen wollte. Kommen Sie allein nach Hause? Soll ich ein Taxi rufen?«

      »Nein, es ist alles okay. Ich muss nur ein paar Minuten zu Fuß gehen.«

      Der Friedhofswärter nickte knapp. »Wie Sie wünschen. Wenn Ihnen das öfter passiert, sollten Sie einen Arzt konsultieren.«

      Lilly hörte ihm gar nicht mehr zu. Sie ging neben ihm her zum Ausgang, doch ihre Gedanken kreisten die ganze Zeit um ihr merkwürdiges Erlebnis. Als sich das Tor mit einem metallischen Geräusch hinter ihr schloss und sie allein auf der Straße stand, sehnte sie sich mehr denn je nach ihrer Schlafcouch.

       ***

       Lilly konnte sich an den Weg vom Friedhof zum Wohnhaus ihrer Cousine nicht mehr erinnern. Wie in Trance war sie die verlassenen Straßen der Kleinstadt entlang getorkelt. Die Leute, die sie hinter den Gardinen ihrer spießigen Einfamilienhäuser gesehen hatten, hatten vermutlich angenommen, sie sei betrunken. Lilly konnte sich nur allzu gut ihre reißerischen Kommentare vorstellen. 'Das arme Kind, es ist dem Alkohol verfallen', oder 'Sie verkraftet den Tod ihrer Mutter nicht'. In Middletown zerriss man sich gerne den Mund über derlei Dinge, es passierte ja sonst nichts. Wie hätten sie auch ahnen können, dass Lilly einen Geist gesehen hatte! Oder es sich zumindest einbildete ... Ihr schwirrte der Kopf, als hätte sie tatsächlich zu tief ins Glas gesehen. Was für ein schrecklicher Tag!

      Sie nestelte umständlich den Schlüssel aus ihrer Umhängetasche und schloss die Haustür auf, nicht ohne zuvor zig Mal daneben zu stechen. Alexis wohnte in einem vierstöckigen Mietshaus in der obersten Etage. Das Haus war nicht ganz so ansehnlich und gepflegt wie die anderen in der Straße, zumeist große, weiß gestrichene Häuser mit einer Veranda, einem akkurat geschnittenem Rasen im Vorgarten und ebenso akkurat gescheitelten, brav arbeitenden Familienoberhäuptern. Lilly und ihre Mutter hatten einst selbst in einem solchen Häuschen gewohnt, aber nachdem Rebecca gestorben war, hatte Lilly es verkaufen müssen. Sie konnte die Kredite nicht mehr bedienen, und das Haus war noch lange nicht abbezahlt gewesen. Das Wenige, das vom Verkauf an Geld übrig geblieben war, hütete Lilly wie einen Schatz. Nicht viel mehr als ein Notgroschen, aber immerhin. Lilly flanierte oft die Woodlawn Avenue entlang, um nach dem Haus zu sehen, in dem sie aufgewachsen war. Heute lebte dort ein junges Ehepaar. Es schmerzte Lilly, dass sie die Fassade gelb gestrichen und dem Haus ein neues Aussehen gegeben hatten. Es machte ihre Mutter nicht wieder lebendig, aber Lilly glaubte, die Zeit mit aller Kraft anhalten zu müssen, um die Erinnerung an sie zu bewahren. Ein hoffnungsloses Unterfangen, denn nichts blieb jemals unverändert.

      Lilly betrat den Hausflur und hörte schon von der Treppe aus das Kichern und Lachen ihrer Cousine hinter der Wohnungstür. Vermutlich hatte sie wieder Besuch, eine von ihren gefühlt dreihundert freakigen Freundinnen. Lilly seufzte. Sie lehnte den Kopf von außen gegen die Tür, den Schlüssel griffbereit in der Hand. Sie musste zunächst Kraft sammeln, um aufzuschließen und dem Irrsinn zu begegnen. Aus dem Inneren der Wohnung drang gedämpft Musik auf den Flur, irgendetwas von Justin Timberlake.

      Sie atmete noch einmal tief durch und öffnete dann die Tür. Sofort schlug ihr der Gestank von Räucherstäbchen entgegen, die Luft war verbraucht und stickig. Im Flur war niemand, aber Lilly hörte mindestens zwei Personen im Badezimmer gibbeln.

      O nein, ich will duschen. Hoffentlich besetzen sie das Bad nicht.

      Lilly hängte ihren nassen Mantel an die Garderobe, ging ins Wohnzimmer, das bei einer Gesamtfläche von fünfundvierzig Quadratmetern nicht gerade üppig ausfiel und sah sich um. Leere Chipstüten lagen auf dem Boden, eine halb volle Flasche Prosecco und eine fremde Handtasche standen neben dem Sofa. Lilly legte ihre eigene Umhängetasche, deren Gewicht ihr in die Schulter schnitt, auf das Sofa.

      In der kleinen Kommode im Schlafzimmer, die ihre gesamten Habseligkeiten beinhaltete, suchte sie sich frische Unterwäsche und ein Nachthemd heraus und wagte es, an die Badezimmertür zu klopfen. Sofort verstummte das Gekicher im Inneren. Die Tür wurde geöffnet. Alexis' rundes, von unvorteilhaft kinnlangen Haaren eingerahmtes Gesicht erschien im Türspalt. Sie musterte Lilly von oben bis unten.

      »Wo bist du gewesen?«

      Lilly