Narcia Kensing

Saphirherz


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habe Mr. Benett geholfen.«

      »Um diese Uhrzeit?! Du bist sicherlich wieder auf dem Friedhof gewesen, stimmt's? Sieh dich mal an, du bist total dreckig!«

      Sie hatte recht. Mit beidem. Lillys Handflächen waren schmutzig, auch ihre Hose. »Es geht dich nichts an, wo ich gewesen bin.«

      »Wenn du deine kostbare Zeit darauf verwenden würdest, einer richtigen Arbeit nachzugehen, ginge mich das sehr wohl etwas an.«

      Lilly ging nicht auf die Stichelei ein. Alexis hielt ihr jeden Tag vor, dass sie ihr auf der Tasche lag. Herrgott, sie suchte doch einen Job, aber was konnte sie dafür, wenn die alle nicht in der Umgebung waren!

      »Lass mich bitte vorbei, ich möchte duschen. Wie du schon bemerkt hast, habe ich es nötig.«

      »Geht jetzt nicht. Ich färbe Christine die Haare.«

      Lilly entfuhr ein entnervtes Aufstöhnen. »Wie lange dauert das noch?«

      »So lange, wie es eben dauert! Ein paar Minuten kannst du jetzt auch noch warten.« Und damit schloss sich die Badezimmertür wieder und das Kichern begann von Neuem.

      Lilly legte ihre Wäsche auf die Sofalehne, drehte die Musik leiser und griff nach ihrem Zeichenblock, der in der Ablage unter dem Wohnzimmertisch lag. Sie musste sich jetzt dringend beruhigen und ablenken.

      Obwohl sie nass war und fror, konzentrierte sie sich darauf, den Bleistift ruhig über das Papier zu führen. Sie war in Gedanken und zeichnete, ohne darüber nachzudenken. Eine Blüte, noch eine Blüte, ein Blatt. Nach wenigen Minuten hatte sie eine Blume gezeichnet. Es war jene, die sie vor dem Grabstein von Laurie Malone gesehen hatte ... O Mann, dieser Tag würde sie bis ans Ende ihres Lebens verfolgen. Lilly legte den Block auf den Tisch, zwischen eine weitere Proseccoflasche und eine hässliche pinkfarbene Kerze.

      Sie stützte die Ellbogen auf die Knie und den Kopf in die Hände. Sie wollte einfach nur ins Bett, wobei das Wort 'Bett' nicht ganz passend war. Sie musste jeden Abend die Couch im Wohnzimmer ausziehen, wenn sie schlafen wollte. Das gestaltete sich immer dann schwierig, wenn Alexis, so wie heute, Besuch hatte (was an jedem zweiten Tag der Woche vorkam).

      Irgendwann öffnete sich die Badezimmertür. Lilly wandte sich um und versuchte, über den kleinen Flur einen Blick auf Alexis' Freundin zu werfen. Lilly hatte sie nie zuvor gesehen. Eine rundliche kleine Frau mit frisch gefärbten knallroten Haaren. Sie kam ins Wohnzimmer, lächelte verhalten und schnappte sich ihre Handtasche, ehe sie zurück in den Flur tippelte. Lilly unterdrückte ein Lachen und wandte sich wieder ab. Sie hörte, wie Alexis und die Fremde sich mit tausend Küsschen und einem 'Mach's gut' sowie einem 'Ich ruf dich an' verabschiedeten und sich die Wohnungstür schloss.

      Alexis watschelte zurück ins Wohnzimmer. Ihr Gang erinnerte Lilly immer ein wenig an Donald Duck. Auch der knielange schwarze Rock kaschierte ihren Beinumfang nur unzureichend. Die Bluse spannte über ihrem üppigen Busen. Eigentlich ein schönes Outfit, wenn es eine andere Person getragen hätte. Alexis' Füße steckten in Biolatschen, was den Eindruck einer modisch halbwegs versierten jungen Frau jedoch wieder zunichte machte. Sie nahm Lillys Umhängetasche vom Sofa und setzte sich an deren Stelle neben ihre Cousine.

      »Uff, was hast du denn darin? Backsteine?«

      »In erster Linie Bücher. Und dann noch eine Menge Geld, ha ha.«

      »Goldbarren? Prima, dann kannst du dir ja bald dein eigenes Apartment leisten.«

      »Nein, Münzen. Ich habe allmählich genug davon zusammen, um eine Schatztruhe zu füllen. Mr. Bennett leert anscheinend gerade sein Münzglas, welches er seit vierzig Jahren fleißig füttert.« Weil Lilly genau wusste, welche Diskussion jetzt zwangsläufig folgen würde, stand sie auf, nahm hastig ihre Nachtwäsche von der Sofalehne und schwebte Richtung Badezimmer, sodass sie Alexis' Gequäke nur aus dem Hintergrund wahrnahm.

      »Such dir endlich einen richtigen Job!«

      Ja ja, und du solltest dir endlich einen anständigen Diätratgeber suchen, dachte Lilly trotzig, ehe sie im Bad verschwand und die Tür hinter sich zu zog. Sie hätte vermutlich eine weitaus bessere Meinung über ihre Cousine, wenn diese ein wenig verständnisvoller wäre, bis dahin würde sie eben weiterhin das Ziel ihrer gedanklichen Gemeinheiten sein.

      Frisch geduscht und mit nassen Haaren saß Lilly wenig später auf dem Barhocker in der Küche, trank Kräutertee und knabberte an ihrem Erdnussbuttertoast. Sie hörte, wie Alexis im Wohnzimmer die Spuren des Abends beseitigte. Eines musste man ihrer Cousine lassen - sie war sehr ordentlich, wenn es um ihre eigenen vier Wände ging. Lilly hätte die Proseccoflasche und die verstreuten Chips vermutlich bis zum Morgen warten lassen. Immerhin ging es auf halb elf zu.

      Lilly gähnte herzhaft. Sie wäre längst im Bett verschwunden, wenn sie nicht auf der Couch hätte schlafen müssen, die sich noch immer Alexis' Säuberungsmaßnahmen unterziehen musste. Sie hörte, wie der Staubsauger angeschmissen wurde. Um diese Uhrzeit?! Lilly legte den Kopf auf den Tresen und seufzte. Dann stand sie auf, beförderte den Rest ihres Toasts in den Müll und ging zurück ins Wohnzimmer, wo sie wie ein nutzloser Dekorationsgegenstand neben der Anrichte stand und Alexis dabei beobachtete, wie diese den Couchtisch abrückte.

      »Du könntest mir ruhig mal helfen! Immerhin ist es dein Bett, das ich gerade vorbereite.«

      Lilly antwortete nicht, sondern seufzte nur entnervt auf. Sie half Alexis halbherzig dabei, die Couch auszuziehen und ihre Bettwäsche aus dem Bettkasten zu zerren.

      »Du bist echt sowas von chaotisch«, setzte Alexis noch einmal nach. »Ich hoffe, dass du mich nie zu dir nach Hause einlädst, wenn du deine eigene Wohnung hast.«

      Lilly entging der Vorwurf in ihrer Stimme nicht. »Musst du eigentlich dauernd darauf herumreiten? Glaubst du, mir gefällt es, dass ich das Haus verkaufen musste?«

      Alexis baute sich mit verschränkten Armen vor ihr auf, aber Lilly reagierte nicht auf die Provokation. Sie ließ sich auf ihr Nachtlager fallen und gähnte erneut.

      »Wovon bist du eigentlich müde? Du tust doch den ganzen Tag nichts!«

      Jetzt überschritt Alexis eindeutig eine Grenze. »Ich habe den ganzen Abend für Mr. Bennett geschuftet, ist das nichts? Glaubst du, du hättest einen anstrengenden Job? Du sitzt mit deinem Hintern den ganzen Tag hinter der Kasse! Super, Alexis, da hast du es aber weit gebracht!« Lilly biss sich auf die Unterlippe. Sie hatte sich vorgenommen, sich nicht mehr provozieren zu lassen, aber ihre Nerven lagen seit Monaten blank. Sie kämpfte die Tränen der Wut nieder und wandte sich ab, damit Alexis nicht sehen konnte, wie verletzt sie war. In Wahrheit hätte Lilly alles dafür gegeben, den Job ihrer Cousine im Walmart machen zu dürfen. Sie hätte jeden Tag zu Fuß zur Arbeit gehen können, denn das Kaufhaus war nur knapp eine Meile entfernt.

      »Du befindest dich nicht in der Position, so mit mir zu reden!« Wenn Alexis' Stimme dunkel uns leise wurde, war Vorsicht geboten. »Immerhin finanziert mein Job unser Leben. Was man von deinem nicht gerade behaupten kann. Setz dich endlich auf den Hosenboden, Lillian Bates! Du vergräbst dich in Selbstmitleid und gibst allem und jedem die Schuld an deiner Situation. Rebecca ist seit fast einem Jahr tot, aber bei dir herrscht noch immer Stillstand. Das Leben geht weiter, und je eher du das kapierst, desto besser für uns beide.«

      Lilly vergrub ihr Gesicht in ihre Hände, um Alexis nicht in die Augen sehen zu müssen. Eine heiße Träne quoll zwischen ihren Fingern hervor. Dann hörte sie, wie die Schlafzimmertür donnernd ins Schloss fiel. Wut und Hass kochten in ihr hoch. Ihre Aggressionen richteten sich für den Moment gegen ihre Cousine, aber tief in ihrem Inneren wusste Lilly, dass Alexis recht hatte. Die Erkenntnis schmerzte entsetzlich. Lilly lebte nur von Tag zu Tag, weil sie eine Veränderung nicht ertragen konnte. Sie glaubte, jede Änderung wäre ein Verrat an ihrer Mutter. Das Haus zu verkaufen hatte ihr bereits das Herz gebrochen, wie sollte sie dann je die Stadt verlassen? Hier lag Rebecca begraben, hier waren ihre Wurzeln. Aber hier gab es leider keine Arbeit. Middletown war eine winzige Stadt, ein Symbol ungezügelter Spießigkeit. Es gab einen Walmart, eine Bank, eine Schule und früher einmal ein Hotel, in dem Lilly gejobbt hatte. Die meisten Einwohner arbeiteten außerhalb, aber die besaßen für gewöhnlich auch ein Auto ...