Narcia Kensing

Saphirherz


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gehört, aber niemals davon, dass sie so real sein konnten. Dies war schon die zweite Vision, die Lilly fast bewusstlos hatte werden lassen - zum Glück besaß sie kein Auto, hinter dessen Steuer ihr das hätte passieren können. Was das Ganze keineswegs in ein besseres Licht rückte. Lilly war sich sicher, beide Male dieselbe Frau gesehen zu haben. Sie war ihr völlig fremd. Zufall? Spielten ihre Sinne ihr einen Streich? Weshalb träumte sie dann nicht von einem knackigen hübschen Kerl, sondern ausgerechnet von einem unscheinbaren Mädchen, das nicht einmal volljährig zu sein schien?

      Fasste man die Fakten nüchtern zusammen, blieben also ein Friedhofsgeist und zwei Visionen übrig, und das innerhalb von zwölf Stunden. Ziemlich beunruhigend.

      Nachdem Lilly sich eine frische Hose übergestreift und die Sauerei in der Küche beseitigt hatte, setzte sie sich auf die Couch im Wohnzimmer und tat eine ganze Weile lang nichts als der tickenden Uhr zu lauschen. Sie war kaum in der Lage, etwas Sinnvolles mit ihrer Zeit anzufangen. Sie fühlte sich müde, zerknirscht und extrem besorgt.

      Nach ungezählten Minuten schreckte sie auf, weil ihr Smartphone, das noch immer in ihrer Umhängetasche neben der Couch steckte, die Titelmelodie ihrer Lieblingsserie zum besten gab. Mit fahrigen Fingern fischte sie es hervor. Es war Mr. Benett, der fragte, ob sie heute Abend noch einmal vorbeikommen könne, weil er versehentlich die Sender seines Fernsehers verstellt hatte. Lilly verdrehte die Augen, sagte aber zu. Mr. Benett hätte genauso gut seinen nichtsnutzigen Sohn anrufen können, aber er schien Lillys Gesellschaft zu bevorzugen. Nun gut, also wieder eine Handvoll Münzen mehr aus seinem Sammelglas. Als Lilly auflegte, fasste sie einen Entschluss. Nicht, dass sie den nicht schon tausend Mal zuvor gefasst hätte, aber diesmal wollte sie - wirklich! - Taten folgen lassen. Es konnte so nicht weitergehen, es musste sich etwas ändern in ihrem Leben. Schnell. Also befolgte Lilly den Rat ihrer Cousine und setzte sich vor den Laptop am Esstisch.

      Sie durchkämmte zunächst die großen Portale für Stellenanzeigen, gab ihre Postleitzahl ein und benutzte die Umkreissuche, die sie zunächst auf zehn Meilen beschränkte. Okay, die Suchmaschine spuckte nichts Brauchbares aus. Wäre auch zu schön gewesen. In der Nachbarstadt wurde ein Busfahrer gesucht. Da Lilly keinen Führerschein besaß, grenzte es fast an Ironie. Dann also den Umkreis erweitern. Diesmal waren die Ergebnisse ergiebiger, aber Lilly war weder gelernte Buchhalterin noch traute sie sich eine Führungsposition im Bereich Kommunikationsmanagement zu, zudem sie nicht einmal einen Collegeabschluss besaß. Dass sie gut kommunizieren konnte, würde die Herren der Firma Grant & Herth sicher nicht von ihrer Eignung überzeugen.

      Lilly seufzte und starrte den Bildschirm ratlos an. Das war wohl nix. Verdammt. Sie stützte ihren Kopf in die Hände und überlegte fieberhaft, was sie tun könnte. Herrje, sie wollte nicht bei Alexis versauern! Das würde sie früher oder später in den Wahnsinn treiben.

      Sie klickte noch ein wenig bei Facebook und Youtube herum, um sich abzulenken. Der Haushalt konnte warten. Alexis würde nicht vor heute Nachmittag von der Arbeit zurück sein. Lilly hatte also alle Zeit der Welt, um sinnlosen Tätigkeiten nachzugehen.

      Irgendwann durchzuckte sie eine Idee. Sie fühlte sich mit einem Mal wie ein Schulmädchen, das man beim Rauchen erwischt hatte. Als wäre sie in Begriff, etwas höchst Dämliches zu tun, für das man sich schämen musste. Mit geröteten Wangen öffnete sie die Startseite einer großen Suchmaschine und fütterte sie mit dem Begriff 'Sweetwaters NYC'. Sie hatte den Namen klar und deutlich auf der Serviette gelesen, und irgendwie ließ sie das Gefühl nicht los, dass er nicht ihrer Fantasie entsprungen war.

      Tatsächlich spuckte das System mehrere Treffer aus, viele davon jedoch unbrauchbar. Die meisten Ergebnisse standen in keinerlei Verbindung mit einem Lokal in New York City. Auf Seite drei der Ergebnisliste stieß Lilly jedoch auf einen Eintrag, der sich auf ein Café bezog. Es war die Webseite eines Lokals, das sich 'Raindance' nannte. Lilly klickte sich durch mehrere Fotos, konnte jedoch nichts erkennen, das sie an ihre Vision erinnerte. Viel hatte sie nicht gesehen, nur eine Tischgruppe und ein Stück der Fensterfront. Auf der Seite 'Über uns' fand sie die Geschichte des Lokals. Dort wurde erwähnt, dass es in den frühen Achtzigern als 'Sweetwaters' gegründet würde, 1989 jedoch den Besitzer wechselte und fortan 'Raindance' hieß. In den Achtzigern?! Vermutlich war es doch nur ein Zufall, dass Lillys Gehirn diesen Namen hervorgebracht hatte. Tief in ihrem Inneren wusste sie jedoch, dass diese Visionen äußerst real gewesen waren. Sie neigte überhaupt nicht dazu, sich Dinge auszudenken, diesbezüglich war sie nie besonders kreativ gewesen. Als ihre Mutter ihr im zarten Alter von neun Jahren endlich die Haltung zweier Meerschweinchen gestattet hatte (nach wochenlangem Betteln), hatte Lilly sie einfach 'Sau 1' und 'Sau 2' getauft. Soviel zum Thema Namen und Kreativität ...

      Lilly schrieb sich die Adresse des Lokals auf, obwohl sie nicht wusste, was ihr das nützen sollte. Es lag in Midtown Manhattan, in der 6th Avenue, Ecke 46. Straße.

      Sie verblieb noch eine Weile auf der Webseite des Raindance, mehr aus Langeweile als aus reinem Interesse. Auf einer Linkseite waren die Webseiten anderer befreundeter Lokale angegeben, was Lilly schon seltsam vorkam. Wer machte Werbung für die Konkurrenz? Vielleicht kannten sich die Besitzer, oder die Leitung war sogar dieselbe.

      Lilly klickte sich auf die Seite eines Diners, das sich 'Moonbeam Bar & Restaurant' nannte. Die Fotos ließen auf eine klassisch amerikanische Lokalität schließen: eine von Neonreklame eingerahmte Fassade, gepolsterte Sitzbänke, eine riesige amerikanische Flagge an der Decke und ein Flachbildschirm neben dem Tresen. Von den Angestellten gab es leider keine Fotos, auch sah man keine Gäste. Anscheinend hatte man die Bilder nach Ladenschluss aufgenommen. Das Lokal lag ebenfalls mitten in Manhattan, Madison Avenue, Ecke 57. Straße.

      Lilly verlor bereits das Interesse, als ihr Blick auf einen kleinen Link am unteren rechten Bildschirmrand fiel, der mit 'Jobs im Moonbeam' betitelt war. Es gab eine einzige Stellenanzeige, die mit keinem Datum versehen war. Wer wusste, wie alt die schon war?! Jedenfalls suchte das Lokal eine Servicekraft mit Erfahrung in der Gastronomie. Lilly merkte auf. Sie hatte im Hotel öfter in der angeschlossenen Bar gekellnert. Andere Anforderungen wurden anscheinend nicht gestellt. Es war die erste Stellenanzeige, die sie heute gelesen hatte, in der man nicht schon mit zwölf den Collegeabschluss gemacht haben musste, um mit zweiundzwanzig auf zehn Jahre Berufserfahrung zurückgreifen zu können. Mindestens zwei Fremdsprachen verstanden sich natürlich von selbst. Nein, in der Anzeige vom Moonbeam stand nur, dass man - falls möglich - schon einmal gekellnert haben sollte. Hmm, ob Lilly sich die Telefonnummer aufschreiben sollte? Aber das war doch totaler Quatsch, das Lokal befand sich in New York City, eine Stadt wie ein Schandfleck, und noch dazu viel zu weit weg von ihrem geliebten Middletown! Wenn sie kellnern wollte, würde sie sicherlich auch etwas in der Nähe finden. Alexis konnte sie von ihren Plänen nichts erzählen, wenn sie sich nicht freiwillig einer Dosis Spott und Häme unterziehen wollte. Dabei war Alexis' Job nun wahrlich auch nicht besser. Lilly konnte sich ihre Cousine bildlich vorstellen, wie sie zeterte, Lilly könne sich auch gleich in einem Bordell bewerben, wenn sie in einer Bar arbeiten wollte, bla bla. Dennoch verstaute Lilly den Zettel mit der Telefonnummer tief in ihrer Hosentasche.

       ***

      25.08.1987, New York City

       Schon, als ich das Krankenhaus betreten hatte, wusste ich, dass ich es als ein anderer Mann wieder verlassen würde. Ich hatte versucht, mich gegen meine Emotionen zu wehren und mich zu verschließen. Aber es ist mir nicht gelungen. Jahrelang habe ich eine Fassade zur Schau getragen, weil ich hart sein wollte - hart sein musste. Es ist egal, wie dick die Mauern sind, die man um sich herum errichtet, das Leben beweist einem immer wieder, dass es über Werkzeuge verfügt, sie einzureißen. Seit ich Laurie kenne, habe ich mir zum ersten Mal überhaupt Gedanken über meine Zukunft gemacht. Ich habe mich im Glück gewähnt und mich wie ein kleiner Junge verhalten, wenn sie mich unschuldig angelächelt hatte. Ich glaubte, mein Leben würde endlich eine Wendung nehmen. Aber es währte nur sehr kurz. Die Realität holte mich wenige Wochen später ein, als ich von der Krankheit meiner Schwester erfuhr. Mir ist klar geworden, dass eine Zukunft nichts Selbstverständliches ist, und mir scheint sie ohnehin nicht vergönnt zu sein.

      Nun liegt sie hier im Lenox Hill Hospital und die Maschinen, die um ihr Bett stehen, schweigen, die Bildschirme sind schwarz. Die Ärzte konnten sie nicht retten. Binnen weniger Monate hat der