Narcia Kensing

Saphirherz


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damals keine Augen für ihre Umgebung gehabt. Jetzt war es drei Uhr nachmittags. Unruhe und Nervosität machten sich in ihr breit. Ihre verschwitzten Finger krampften sich um den Griff ihres Koffers, als eine blechern klingende Computerstimme die Endhaltestelle ankündigte. Der Zug bremste ab und führ quietschend aus dem dunklen Tunnel in ein hell erleuchtetes Gleis ein. Lilly atmete durch und ließ sich mit der Menschenmenge aus der Tür drängen. Auf dem Bahnsteig herrschte Betriebsamkeit wie in einem Ameisenstaat. Es ging auf die Rush Hour zu, kein guter Zeitpunkt, um in einen Bahnhof einzufahren, der täglich über sechshunderttausend Passagiere aufnahm.

      Sie schleppte ihren schweren Koffer die Treppe hinauf ins erste Untergeschoss des Bahnhofs. Die Leute um sie herum rempelten sie an und hetzten an ihr vorbei, ohne sie auch nur anzusehen. Jeder schien es eilig zu haben. Einige Jugendliche trugen knallbunte Jacken und ebenso grelle Schuhe, ihre Haare waren nicht weniger farbenfroh. Der Geräuschpegel war enorm.

      Lilly suchte vergebens nach einem Ticketautomat für die New Yorker U-Bahn, schleifte ihren Koffer planlos hin und her durch die Bahnhofshalle und musste schließlich doch jemanden um Rat fragen, eine dralle dunkelhäutige Dame am Infoschalter, die auffällig Kaugummi kaute.

      Der Automat befand sich in einer finsteren Ecke im hintersten Winkel der fensterlosen Halle. Davor hatte sich eine lange Schlange gebildet. Als Lilly es nach weiteren zwanzig Minuten endlich geschafft hatte, dem Automaten das Ticket zu entlocken, wischte sie sich den Schweiß von der Stirn und ließ sich erst einmal auf ihrem Koffer nieder, um durchzuatmen. Wobei 'durchtatmen' relativ war, denn es war stickig und stank nach einer Mischung aus Parfüm, Schweiß und anderen Dingen, die sie nicht benennen wollte. Wo war sie denn hier bloß gelandet? Wenn der Rest der Stadt genauso aussah, dann wünschte sie sich schon jetzt auf Alexis' Couch zurück.

      Als Lilly wieder zu Kräften gekommen war, stieß sie ein Seufzen aus, griff in ihre Jackentasche und faltete den U-Bahnplan aus, den sie am Infoschalter bekommen hatte. Ihre Tante Rose, zu der sie zu gelangen gedachte, wohnte in der einundfünfzigsten Straße. Zwei Stationen mit der U-Bahn, die blaue Linie, uptown. Das schien eine machbare Aufgabe zu sein. Lilly hatte kein gutes Gefühl bei der Sache, zudem hatte sie die Schwester ihrer Mom telefonisch nicht erreichen können. Sie hatte lediglich eine Adresse aus einem alten Notizbuch ihrer Mutter. Joy und Rebecca hatten mit der dritten Schwester, die es schon in jungen Jahren in die Großstadt gezogen hatte, zuletzt nicht mehr viel Kontakt gehabt. Lilly hoffte jedoch, dass Rose sich noch an sie erinnern würde. Sie würde nicht von ihr verlangen, Lilly bei sich aufzunehmen (obwohl das natürlich grandios wäre), aber vielleicht konnte sie ihrer Nichte wenigstens ein paar Tipps geben oder günstige Unterkünfte empfehlen. Es konnte nicht schaden, eine Kontaktperson, der man vertraute, an seiner Seite zu wissen. Hier konnte man vermutlich sonst niemandem trauen.

      Lilly betrat den gesicherten Bereich der U-Bahn, indem sie ihr Ticket durch das Lesegerät zog und ein Drehkreuz passierte. Sie schleifte ihren Koffer durch eine ganze Anzahl dreckiger schmaler Gänge, immer den Schildern hinterher, die sie letztlich eine Treppe hinunter und auf einen Bahnsteig lotsten, der zumindest so aussah, als sei sie hier richtig. Viele Menschen warteten bereits auf die nächste Bahn, die meisten von ihnen hoben nicht einmal den Blick, als Lilly an ihnen vorüber ging. Sie waren mit ihren Smartphones beschäftigt, manche lasen in einem Buch. Besonders gefährlich sahen die Leute zumindest nicht aus, was Lilly vorerst ein Gefühl der Sicherheit gab. Von irgendwoher drang Musik an ihre Ohren. Es hörte sich an, als würde jemand Gitarre spielen und dazu singen.

      Die Bahn fuhr ein, Lilly quetschte sich mit hunderten Mitreisenden in den Mittelgang und bekam ein winziges Stück von der Haltestange zu fassen, ehe sich der Zug ratternd und polternd in Bewegung setzte.

      An der zweiten Station, die genauso aussah wie jene, an der sie eingestiegen war, ließ Lilly sich mit dem Menschenstrom aus der Bahn und die Treppe hinauf mitreißen. Sie verließ die U-Bahnstation durch ein Drehkreuz und stieg eine weitere Treppe hinauf, endlich dem Tageslicht entgegen. Oben angekommen, blieb sie stehen, setzte den Koffer ab und wischte sich den Schweiß von der Stirn.

      Es war ein sonniger Tag. Zumindest glaubte sie, dass er sonnig war, denn die Sonne erreichte zwischen den Häuserschluchten kaum den Asphalt, dazwischen sah man nur einen schmalen Streifen blaugrauen Himmels. Lilly legte den Kopf in den Nacken und betrachtete die Gebäuderiesen, die die Straße säumten. Hinter ihr drängten bereits die Menschen, die mit der nächsten U-Bahn gekommen waren, die Treppe hinauf und vermischten sich rasch mit der Menge, die sich auf den Bürgersteigen wie ein gewaltiger Schwarm Insekten vorwärts schob. Auf einer mehrspurigen Straße rollte eine Blechlawine durch das Tal aus Wolkenkratzern, überwiegend waren es gelbe Taxis, Firmentransporter oder Busse. Die Fahrer hupten unablässig, als hätten sie sich zu einem Konzert verabredet. Von weiter her vernahm Lilly auf- und abschwellende Polizeisirenen. Sie konnte den Schock kaum unterdrücken.

      Was habe ich geglaubt? Dass man sich hier mit Pferdekutschen fortbewegte und sich gegenseitig 'guten Tag' sagte?

      Nein, dies war anders als Middletown, das beschauliche Örtchen, wo jeder jeden kannte und man keinen Schritt vor die Tür trat, ohne von mindestens fünf neugierigen Nachbarn beäugt zu werden. Dies hier schien der Vorhof der Hölle zu sein, aber unbestreitbar faszinierend, auf seine ganz eigene Art. Lilly konnte sich noch nicht vorstellen, hier ein neues Leben zu beginnen, aber sie biss auf die Zähne und kramte den Stadtplan aus ihrer Umhängetasche hervor.

      Laut der Adresse im Notizbuch ihrer Mutter hatte Rose zuletzt in der westlichen einundfünfzigsten Straße gewohnt, Nummer 420. Das bedeutete, dass Lilly von der U-Bahnstation nur einen Häuserblock westwärts gehen musste. Wie praktisch. Aber wo war Westen? Die Sonne konnte sie nicht sehen, auch gab es keine Beschriftungen an den Häusern, die darauf hingewiesen hätten, wo Westen und wo Osten war. Lilly packte den Griff ihres Koffers (der zum Glück über Rollen verfügte) und reihte sich kurzerhand in den Strom der Menschen ein. Sie passierte mehrere kleine Läden mit niedrigen Eingangstüren, die sich aneinander quetschen und um den Raum in den Erdgeschossen der Wolkenkratzer konkurrierten. In den winzigen Schaufenstern blinkte es ihr von zahlreichen Neonreklamen entgegen. An der nächsten Straßenecke wies ein Schild auf die neunte Avenue hin, die den Distrikt laut Karte von Norden nach Süden durchzog. Lilly war also in die richtige Richtung gegangen. Nur noch über die nächste Kreuzung, dann wäre sie ihrem Ziel schon ganz nahe.

      Sie erschrak, als ein Taxi direkt neben ihr hupte. Der Fahrer kurbelte das Fenster herunter. »Sind Sie irre?! Es ist rot!« Dann brauste er davon. Lilly tat einen Schritt zurück auf den Bürgersteig. Ihr Herz klopfte wie wild und sie spürte, wie sie rot anlief. Aber niemand glotzte sie an oder schüttelte seinen Kopf auf eine Art, die unmissverständlich darauf hinweisen würde, dass man sie für dumm hielt. Es interessierte schlichtweg niemanden, dass man sie beinahe überfahren hätte.

      Auf der anderen Straßenseite prangte eine mit roten LEDs beleuchtete Hand an einem Schild. Die Ampel. Natürlich. Lilly hatte in ihrem Eifer nicht darauf geachtet. In Middletown gab es fast ausschließlich Zebrastreifen, und die meisten Autofahrer hielten sich an die Gesetze.

      Als sich die aus roten Lichtpunkten bestehende Hand in ein grünes Strichmännchen verwandelte, setzte die Masse sich in Bewegung und schob Lilly mit sich über die Straße.

      Unweit hinter der Kreuzung erreichte Lilly ihr vorläufiges Ziel, jedoch versperrte ein Bauzaun den Zugang zu den Hausnummern 418 bis 425. Die Häuser hinter dem Zaun waren achtstöckig, sahen jedoch nicht so aus, als würde in irgendeiner Etage noch jemand wohnen. Lillys Hoffnung sank, ein kurzer Anflug von Panik durchflutete sie. Die Fenster des beigen Sandsteingebäudes mit der Stuckfassade von Hausnummer 420 starrten sie aus leeren Höhlen an, es gab keine Fensterscheiben. Aus dem Gebäudeinneren drang das Geräusch einer Kreissäge und lautes Gehämmer bis zu ihr hinab. Oh je. Unmöglich, dass ihre Tante dort wohnte. Sie sah noch einmal auf den Zettel in ihrer Hand, die Adresse stimmte.

      »Miss, kann ich Ihnen helfen?« Lilly fuhr herum. Hinter ihr stand ein Mann, vermutlich einer der Bauarbeiter, wie sich aus seiner Arbeitshose und dem gelben Plastikhelm ableiten ließ. Er war schon jenseits der vierzig und trug einen Oberlippenbart, der schon im vorletzten Jahrzehnt aus der Mode gekommen war.

      »Ich suche Rose Lenwood. Angeblich soll sie hier wohnen, in Hausnummer 420.« Sah sie wirklich so verloren und verlassen