Mathias Bestle

Robinson.Leva


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beobachtete Saat. Er wirkte erschöpft. Er musste viel durchgemacht haben in den vergangenen acht Tagen.

      Plötzlich erschauderte ich. Ich hatte wohl unglaubliches Glück gehabt, mit dem Leben davongekommen zu sein - mit nichts als ein paar Verletzungen, die hoffentlich wieder heilen würden. Na ja, und mit Amnesie.

      „Sind wir endlich wach", kam eine gelangweilte Stimme von der Tür her. Eine kleine Ärztin trat ins Zimmer. Ohne uns eines Blickes zu würdigen, steuerte sie auf die piepsenden Geräte links neben mir zu. Ich sah meinen Bruder fragend an und er zuckte mit den Schultern.

      „Wie geht es uns?“, fragte sie, während sie auf Zehenspitzen stehend die Bildschirme ablas.

      Saat nickte mir aufmunternd zu.

      „Ich glaube, den Umständen entsprechend gut“, antwortete ich ihrem Rücken.

      Das schien sie zu überraschen, denn nun drehte sie sich zu mir um. Sie musterte mich kritisch - vermutlich enttäuscht, dass ich weder blinkte noch piepste. „Ihr Bruder hier teilte uns mit“, sagte sie schließlich, „dass Ihre Erinnerung beeinträchtigt sei. Ich nehme an, dieser Zustand dauert nicht weiter an?“

      „Doch", sagte ich.

      „So? Beschreiben Sie.“

      Ich überlegte kurz. „Ich erinnere mich an nichts, was mich selbst betrifft. Ich weiß nicht, wo ich herkomme oder was in meinem Leben bisher geschehen ist. Ich weiß nur, dass ich all diese Dinge eigentlich wissen sollte. Ich fühle mich, als wäre eine Wand zwischen mich und mein Gedächtnis ge-“

      „Kurz“, unterbrach sie mich, „Sie erinnern sich nicht an Ihre eigene Biographie. An keinen Teil davon? Etwa Ihre Kindheit?“

      „Nein.“

      Sie zog die Augenbrauen hoch. Seltsamerweise sah sie dadurch keine Spur weniger gelangweilt aus. „Wenn das stimmt, haben wir hier sogar eine äußerst tiefgehende Amnesie - mit einem ungewöhnlich gefassten Patienten. Keine Verwirrung, keine Apathie, kein Herumgeheule. Na, mir soll es recht sein.“

      Ich hatte das Gefühl, dass ich diese Ärztin nicht besonders mochte.

      Sie notierte etwas auf meinem Krankenblatt. „Heute Vormittag hatten wir eine Panikattacke", sagte sie dabei.

      „Aha", machte ich, und fragte mich, warum sie mir das erzählte.

      „Mir wurde gesagt, dass es sich um einen Kreislaufzusammenbruch handelte", wand Saat ein. „Er hat sich so schnell aufgerichtet, wegen des Schocks...“

      „Wenn Sie das sagen."

      „Ach Sie reden von mir!“, rief ich.

      „Gei-sti-ge Ver-wirrt-heit“, notierte sie seufzend.

      „Ich - Nein!“, protestierte ich.

      „Haben wir noch immer Angstzustände? Fühlen wir uns orientierungslos? Ist uns schlecht?“

      „Es geht mir schon viel besser“, sagte ich ein wenig beleidigt. Die hatte doch nicht alle Tassen im Schrank...

      „Hat Ihnen Ihr Bruder die näheren Umstände bereits erklärt? Was geschehen ist und wie Sie hierher kamen?“

      „Ja. Das heißt... was meinen Sie mit hierher kamen?“

      „Aus Slowenien?“, sagte sie ungeduldig.

      „Schon gut", sagte Saat und wirkte verärgert. „Das kann er noch nicht wissen. Das wollte ich... ihm erst noch erzählen.“ Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass das nicht stimmte.

      „An gegebene Informationen erinnern wir uns aber?“, fragte die Ärztin.

      Ich nickte.

      „Ausgezeichnet", sagte sie und notierte wieder etwas auf meinem Krankenblatt.

      „Warum?“

      „Retrograde und anterograde Amnesien treten häufig in Kombination auf", sagte sie abwesend.

      „Retro... was?“

      Sie warf mir einen Blick zu, als ob mich das alles nichts anginge. „Bei einer retrograden Amnesie vergessen wir Vergangenes“, erklärte sie schließlich seufzend. „Bei einer anterograden Amnesie können sich Patienten nichts Neues mehr merken. Furchtbar anstrengend. Hat keinen Sinn, mit denen überhaupt zu reden.“ Sie lachte über ihren eigenen Scherz, offenbar nicht im Geringsten davon berührt, dass wir sie nur entgeistert anstarrten. Wahrscheinlich war sie diese Reaktion bereits gewohnt. „Sie werden jedenfalls noch genauer untersucht“, fuhr sie fort. „Und unseren Diagnosen entsprechend therapiert, falls dies von Nöten sein sollte. In den meisten Fällen sind Amnesien jedoch von kurzer Dauer.“

      Ich freute mich. „Und meine Verletzungen?“

      „Sind morgen auch noch da", sagte sie mit einem Blick auf ihre Uhr und schlurfte gemächlich aus dem Raum.

      Saat sah ihr kopfschüttelnd hinterher. „Seltsamer Mensch...“

      „Was ist mit Slowenien?“, fragte ich ihn umgehend.

      Er zögerte ein wenig. „Du wurdest vor ein paar Tagen von einer slowenischen Klinik hierher überstellt. Der Unfall ist in Slowenien passiert, ihr wart dort... auf Urlaub.“

      „Wo sind wir hier?“

      „In Tromsø.“

      „Norwegen", sagte ich. „Ich bin Norweger?“

      Er nickte.

      So hatte ich wieder etwas gelernt. Ich, Jan, Norweger.

      In der Nacht fühlte ich mich elend. Der dicke Vorhang, den jemand vor das Fenster gezogen hatte, ließ nur entlang der Ränder ein wenig Licht herein. Ich hatte Schmerzen und ich hatte Angst. Ich fühlte mich unendlich verloren in meiner Amnesie. So sehr ich auch versuchte, mich zu kennen, es gelang mir nicht. Ich fühlte mich weniger als allein, denn ich hatte nicht einmal mich selbst.

      Ich drückte auf den Pfleger-Knopf und ein junger Mann kam in den Raum. Er gab mir etwas gegen die Schmerzen und ich fragte ihn nach seinem Namen. Er hieß Björn, doch Björn war müde, das war seine zweite Nachtschicht in Folge. Bald begann ich die Wirkung des Schmerzmittels zu fühlen und ich ließ mich dankbar in Benommenheit und Gedankenleere fallen.

      Als ich zum nächsten Mal erwachte, war es wieder hell im Raum und eine Pflegerin stand an meinem Bett. Ich musste einige unangenehme Krankenhausdinge über mich ergehen lassen und fand sie beinahe unterhaltsam. Zum Glück war Saat bald wieder da. Trotz meiner schlechten Nacht fühlte ich mich viel wacher als noch am Vortag.

      „Leben wir hier?“, fragte ich ihn.

      „Im Krankenhaus? Zum Glück nicht.“

      „In Tromsø meinte ich doch!“

      „Ich weiß", lachte er.

      Saat nicht immer ernst nehmen, notierte ich mir in Gedanken.

      „Du hast bisher mit unseren Eltern in Oslo gewohnt. Ich bin schon seit ein paar Jahren in Tromsø und du wirst von nun an auch hier leben, bei mir.“

      „Oh. Ähm... danke!“

      Er lachte, als hätte ich etwas Seltsames gesagt. „Das Vergnügen ist ganz meinerseits.“ Er war wirklich nett.

      „Wie alt bin ich?“ fragte ich.

      „Du bist diesen Sommer 16 geworden, am 13. Juli. Heute haben wir den 22. August.“

      „Und gehe ich noch zur Schule?“

      „Ja. Ich habe hier auch schon eine Schule für dich ausgesucht. Aber im Moment ist daran natürlich noch nicht zu denken...“

      „Schade", grinste ich.

      „Freu dich nicht zu früh“, sagte er. „Es wird nicht einfach werden, alles nachzuholen. Die Direktorin war nur schwer davon zu überzeugen, dich später einsteigen zu lassen.“

      „Das