Mathias Bestle

Robinson.Leva


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zu haben. „Ich bin neu hier, ich soll mich in der Direktion melden.“

      „Dritter Stock, Zimmer 3-01.“

      „Oh... Gibt es vielleicht einen Aufzug?“

      Er schielte auf meine Krücken. „Folgen Sie mir.“

      Er führte mich quer durch die Halle und ich erhaschte einen Blick in eines der angrenzenden Klassenzimmer. Dort saßen alle still an ihren Plätzen und starrten in ihre Bücher, obwohl der Unterricht noch nicht einmal begonnen hatte. Vor dem Lehrerpult stand ein Schüler mit einem Schreibbrett in der Hand, offenbar mit der Aufgabe, die anderen zu beaufsichtigen. Wie schlau, sie gegeneinander auszuspielen...

      Beim Aufzug angekommen, öffnete der Mann ein Metallkästchen, drückte darin auf einen Knopf und versperrte es wieder. Dann drehte er sich wortlos um und ging.

      „Danke!“, rief ich ihm halbherzig hinterher und meine Stimme hallte von allen Seiten wieder.

      Der Lift kam an und ratternd öffnete sich das Eisengitter davor. Ich seufzte und humpelte hinein.

      Die Tür zur Direktion sah schwer aus und war – kein Scherz – pechschwarz. Wenn die Direktorin damit erreichen wollte, dass man sich schon vor dem Eintreten fürchtete, gelang ihr das vortrefflich.

      Ich holte tief Luft und klopfte an.

      „Herein!“, rief eine dünne Stimme und ich gehorchte.

      Mitten in einem Raum mit hohen, gotischen Fenstern stand ein penibel ordentlicher Schreibtisch. Dahinter ragte der lange, dürre Oberkörper einer älteren Frau empor. Ihre Haare waren streng zurückgebunden und schimmerten grünlich. Sie sah aus wie ein lebender Ast.

      „Jan Hansen, nehme ich an", sagte sie, meinen Namen von einem braunen Umschlag ablesend.

      „Ja“, antwortete ich, irritiert von ihrer Stimme.

      Sie sah mich abschätzend an. „Dies ist eine Schule von ausgezeichnetem Ruf", sagte sie ohne jede Begrüßung oder Vorstellung, „Und ich sorge dafür, dass das so bleibt. Schüler nicht nur aus Norwegen kommen hierher um unterrichtet zu werden und wir verlangen EISERNE DISZIPLIN.“ Bei diesen Worten klopfte sie mit ihrem knochigen Zeigefinger auf die Tischplatte. „Sie wollen keinen Spaß haben, Sie wollen LERNEN.“

      Wenn sie bloß mit dem Geklopfe aufhören würde...

      „Deshalb setzen wir EINSATZ und HARTE ARBEIT voraus. Ich nehme an, das ist Ihnen bewusst.“

      „Ja“

      „Gut. Nehmen Sie Platz.“

      Was? Nein! Ich will hier nicht bleiben! Ich meinte ‚Ja, das kann ich mir denken’!

      Brav setzte ich mich hin.

      „Ich habe hier Ihre Zeugnisse. Ihr Notendurchschnitt entspricht unseren Aufnahmeanforderungen. Allerdings sind mir Ihre...“ - sie machte eine nervige kleine Handbewegung - „ jüngsten Umstände bekannt...“

      Als mir klar wurde, was sie meinte, schoss mir das Blut in den Kopf und ich vergaß darüber ganz, eingeschüchtert zu sein. „Dass ich Amnesie habe, heißt nicht, dass ich dumm bin!“

      „Wir werden sehen."

      „Ja, werden wir wohl“, sagte ich und bereute es schon im nächsten Moment. Damit war der Pakt mit dem Teufel besiegelt.

      „Es gibt keinen Grund, UNDISZIPLINIERT zu werden“, mahnte sie und klopfte schon wieder. Dann zog sie einen braunen Zettel aus dem braunen Kuvert. „Dies wird Ihr individueller Stundenplan für das kommende Semester sein. An meiner Schule entscheiden wir Pädagogen, welche Fächer für Sie am geeignetsten sind. Sie werden jede Unterrichtsstunde in einem anderen Klassenraum verbringen, mit wechselnden Mitschülern. Wir sind der Auffassung, dass zu enge emotionale Bindungen das Konkurrenzdenken untergraben. Und dieses ist für Erfolg schließlich unabdingbar. Die Pausen werden Sie folglich verwenden, um sich auf anschließende Stunden vorzubereiten und nicht, um Ihre kleinen Geschichtchen auszutauschen. In jedem der Fächer müssen Sie jederzeit damit rechnen, über den aktuellen Unterrichtsstoff befragt zu werden. Des Weiteren werden Sie mehrmals pro Jahr Klausuren schreiben. Namen Ihrer Lehrpersonen und Raumnummern finden Sie hier.“ Sie drückte mir den Stundenplan in die Hand und im selben Moment erschallte ein dumpfer Gong - ein Zeichen, das ich nicht hätte ignorieren sollen. „Wie Sie hörten, hat es soeben geläutet. Weisen Sie Ihrem Professor diese Entschuldigung für Ihre Verspätung vor.“ Sie zog ein braunes Kärtchen mit einer großen ‚2’ aus einer Schatulle. „Zwei Minuten, das wird reichen. Gehen Sie nun. Guten Tag.“

      Gut wurde der Tag keineswegs. Der Unterricht war so anstrengend, dass mir der Kopf schwirrte. Außerdem bekam ich bereits heute zwei Vermerke wegen Verspätung, da ich mich im Anschluss an jedes Fach kurz über den versäumten Stoff informieren wollte, mich gelegentlich verlief und nicht immer jemanden fand, der den Lift für mich rief. Als die Schule endlich aus war, war ich erschöpft und mutlos. Ich fragte mich, wie ich es jemals schaffen sollte, alles nachzuholen, ohne gleichzeitig mit dem aktuellen Schulstoff in Verzug zu kommen. Außerdem war ich enttäuscht über die abweisende Art meiner Mitschüler und der Lehrer und ganz nebenbei auch noch furchtbar hungrig. Saat hatte mir riesige Brote eingepackt, doch bis zum Unterrichtsende hatte ich keine Zeit gehabt, davon auch nur einen Bissen zu nehmen. Umso gieriger machte ich mich auf der Heimfahrt darüber her. Ich war gerade dabei, meinen Kummer und mein Schinkensandwich mit einem Schluck Milch hinunterzuspülen, als etwas im vorderen Teil des Busses meine Aufmerksamkeit erregte. Es war das Lachen des Mädchens, das eben eingestiegen war. Sie unterhielt sich mit dem Fahrer und ich verstand nicht, was sie sagte, doch aus irgendeinem Grund konnte ich meinen Blick nicht mehr von ihr abwenden.

      Plötzlich kam sie auf mich zu. Erschrocken erinnerte ich mich an meine vollen Backen und verschluckte mich so unglücklich, dass meine Augen tränten. Für einen Augenblick glaubte ich, ein Lächeln auf ihrem Gesicht zu sehen, dann ließ sie sich zwei Reihen vor mir auf einen leeren Sitz nieder. Ich klopfte mir hustend auf die Brust.

      Von nun an nahm die Schule beinahe all meine Zeit in Anspruch. Sogar die morgendliche Busfahrt nutzte ich zum Lernen, wie die anderen Erik-Raske-Schüler auch. Nur die Heimfahrt reservierte ich mir als Zeit für mich, um Bücher zu lesen oder... na ja, um dieses Mädchen zu beobachten, das jeden Tag ein paar Stationen nach mir einstieg. Sie war so, ich weiß nicht ... Zum Beispiel ihre Augen: Die strahlten frech und selbstbewusst, selbst wenn sie gerade beinahe auf die Nase fiel. Ihr Haar war kurz und wirr und ließ sie unheimlich übermütig aussehen. Und ihre Sommersprossen! Die hätte man am liebsten eingesammelt und in einer Zündholzschachtel aufbewahrt. Sie trug einen feinen silbernen Ring in der Unterlippe und ihre Kleidung war nie einfach nur... normal. Wenn sie Musik hörte, konnte man sehen, wann sie an den besten Stellen war, dann bewegte sie die Lippen zum Text und wippte mit dem Kopf. Beim Einsteigen fragte sie den Fahrer oft, wie es ihm denn heute ginge - und dem Rücken? Und der Katze? Und ich begann zu überlegen, ob ich nicht Busfahrer werden sollte. Sobald sie in meiner Nähe war, konnten meine Bücher jedenfalls nicht mehr mit meiner ungeteilten Aufmerksamkeit rechnen.

      Endlich war es soweit: Mein letzter Gips wurde mir abgenommen. Das Jucken darunter war inzwischen unerträglich geworden und ich hatte Blasen an den Händen von den Krücken - es war also wirklich höchste Zeit. Das Auftreten tat mir allerdings noch sehr weh. Um mein Bein sanft wieder an Bewegung zu gewöhnen, gab es laut Saat nichts Besseres - wer hätte es erraten - als zu schwimmen. Und so fuhren wir noch am selben Abend in sein Lieblingshallenbad.

      So sehr ich mich auf das Wasser gefreut hatte, in Badehose neben Saat zu stehen tat meinem Selbstvertrauen nicht gut. Er war gestählt und durchtrainiert und ich war nach meinem langen Genesungsprozess dürr und schwach. Damit nicht genug, liefen überall blöde Sportschwimmer herum. Angeber, dachte ich düster. Mir war klar, dass sie das mit Absicht machten.

      Was mein Bein betraf, hatte Saat jedenfalls Recht gehabt: Sobald es unter Wasser war, taten die meisten Bewegungen schon weniger weh. Nach einer Weile konnte ich sogar vorsichtig ein paar Längen schwimmen. Das machte Spaß und fühlte sich gut an. Vor der Heimfahrt fragte ich meinen Bruder, wann wir wiederkommen würden.

      „Morgen",