Mathias Bestle

Robinson.Leva


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stieg aus dem Wagen, holte den Rollstuhl aus dem Kofferraum und trug ihn ins Haus.

      „Halt! Den brauche ich hier!“, protestierte ich.

      „Schon gut, ich trage dich“, sagte er. „Über die Schwelle. Prinzessin.“

      „Du bist doof", maulte ich, während er mich hochhob. Das Getragenwerden war mir ohnehin so peinlich.

      „Hausführung!“, verkündete er, nachdem er mich im Rollstuhl abgesetzt hatte. Er zeigte mir die Küche und das Wohnzimmer und ich murmelte etwas von schön und gemütlich. Dann schleppte er mich die Treppe hinauf. Oben waren das Badezimmer und die Sauna - die er nie benutzte, er konnte Hitze nicht ausstehen – und unsere beiden Zimmer. Meines war ziemlich klein, hatte aber ein großes Fenster, durch das ich auf den Fjord hinab sehen konnte.

      Saat erklärte mir, wo er meine Sachen verstaut hatte. Er brauchte nicht lange dafür, ich besaß offenbar nicht viel. Als Willkommensgeschenk überreichte er mir ein Handy mit blauer Schleife. „Ich kann ja nicht riskieren, dass du mir verloren gehst", grinste er. Dann ließ er mich allein, um uns etwas zu Essen zu machen.

      Ich zupfte die Schleife ab, schaltete das Handy ein und musste lachen. Er hatte meine eigene Nummer unter Werbinich eingespeichert und seine unter Tollerbruder.

      Ich begann mich durchs Zimmer zu schieben und meine Sachen genauer zu untersuchen. Von ein paar wenigen Filmen und Büchern kannte ich Thema und Handlung, auch wenn ich natürlich keine Ahnung hatte, wann oder wo ich sie gelesen oder gesehen hatte. Bei den meisten jedoch erkannte ich noch nicht einmal die Titel. Das fand ich seltsam. Hatte ich so viele von ihnen nur besessen, ohne sie jemals auch nur genauer anzusehen?

      So bleiben würde das jedenfalls nicht.

      In der nächsten Zeit war ich oft alleine zu Hause. Saat musste jeden Tag, sogar am Wochenende, zur Universität fahren. Er studierte Informatik und hatte durch all die Zeit, die er bei mir im Krankenhaus verbracht hatte, viel nachzuholen. Das war soweit kein Problem, er stellte mir immer Unmengen von Essen aufs Zimmer und ich hatte meine Bücher. Aber ich fühlte mich gerade in den ersten paar Tagen oft einsam. Umsomehr freute ich mich, wenn er nach Hause kam und wir Zeit miteinander verbrachten. Wir blödelten dann viel und vermieden ernsthafte Gespräche. Manchmal saß ich einfach neben ihm in der Küche und sah ihm beim Kochen zu. Er kochte wahnsinnig gut und auffällig proteinreich. Woher er seine Kraft hatte, wusste ich inzwischen auch. Viermal pro Woche ging er zum Schwimmtraining. Er schwärmte mir regelmäßig davon vor und betonte jedes Mal, dass er mich dorthin mitnehmen würde, sobald ich wieder fit sei. „Du bist ja bloß Haut und Knochen!“

      Die gelegentlichen Ausflüge ins Krankenhaus waren sehr viel weniger schrecklich, als ich befürchtet hatte. Manchmal freute ich mich sogar richtig darauf, etwa als ich meine Krücken bekam. Endlich war ich frei!

      Zumindest ein bisschen.

      Eigentlich recht wenig sogar. Ich konnte mich nicht kräftig genug abstützen, um über die Treppe zu gelangen, meine verletzten Arme taten noch zu sehr weh. So musste ich mich nach wie vor mit roten Ohren von Saat auf und ab tragen lassen, und saß, wann immer er nicht da war, im ersten Stock fest. Im Erdgeschoß zu sein hätte ich mir viel erträglicher vorgestellt, doch oben war die Toilette. Das frustrierte mich von Tag zu Tag mehr, bis ich irgendwann die Krücken einfach die Treppe hinab warf und ihnen Stufe für Stufe hinterherkroch. Stunden später kam ich als strahlender Held unten an. Das Zusammensetzen der Krückenteile dauerte weniger als zehn Minuten und ich humpelte fröhlich zur Haustür hinaus. Meine Wanderung endete in unserem Vorgarten, wo ich mich ins Gras setzte und die Spätsommersonne genoss. Bis Saat nach Hause kam, war ich leicht zerkratzt aber bester Laune wieder auf meinem Zimmer.

      Ein paar Tage später verkündete ich ihm, nun bereit für die Schule zu sein.

      „Hast du Fieber?“, fragte er.

      „Ich meine das ernst!“, protestierte ich und schob seine Hand von meiner Stirn. „Mir ist langweilig!“

      Er lachte. „Und wie stellst du dir das vor, mit den Krücken?“

      „Ich habe geübt, ich komme damit schon richtig weit. Seit gestern schaffe ich es sogar über die Treppe!“

      „Was heißt richtig weit? Von der Küche ins Wohnzimmer?“

      „Nein, die Straße entlang und in der Nachbarschaft umher.“

      „So? Und wieso erfahre ich das erst jetzt?“, fragte er und klang plötzlich, als hätte ich etwas verbrochen.

      „Ich dachte, ich überrasche dich damit.“

      „Dachtest du. Und treibst dich in einer Gegend herum, die du nicht kennst!“

      „Was sollte mir hier denn zustoßen? Das ist die langweiligste Nachbarschaft der Welt.“

      Ich sah ihm an, dass er versuchte, seine unnötige Wut hinunterzuschlucken. Vielleicht war er ja nur überarbeitet...

      „Mit deinem Gips passt du doch nicht einmal in die Uniform", brummte er.

      „Welche Uniform?“, fragte ich erschrocken.

      „Die haben Schuluniformen auf der Erik Raske Skole.“

      „Saat, ich muss wirklich nicht auf eine Privatschule gehen“, beteuerte ich ihm nun schon zum zweiten Mal. „Eine Öffentliche reicht mir vollkommen!“

      „An der Bildung spart man nicht - und der Nachlass unserer Eltern reicht genau für dein Schulgeld.“

      „Aber das ist doch auch dein Geld!“

      „Eben. Ich kann bestimmen, was damit passiert. Außerdem... unsere Eltern hätten es so gewollt.“

      Damit war ich schachmatt gesetzt. Was konnte ich gegen den Willen unserer toten Eltern und seine unheimliche Selbstlosigkeit schon ausrichten. Ich fragte ihn nicht einmal nach der Höhe des Erbes. Ich wollte mir nicht ausmalen, was ich damit alles machen könnte. Reisen zum Beispiel, die Welt kennen lernen. Da, schon war es passiert.

      Jan, sei zufrieden, sagte ich mir immer wieder, Saat hat Recht.

      Während ich mich am übernächsten Tag in die Schuluniform zwängte, kamen mir daran allerdings ernsthafte Zweifel.

      Als ich das Haus verließ, war ich ziemlich aufgeregt. Angst hatte ich fast keine. Saat war schon fort, deshalb musste ich den ganzen Weg alleine finden. Er hatte mir alles genau erklärt und aufgeschrieben, ich war also zuversichtlich, mich vielleicht gar nicht zu verirren. Es begann gut, ich entdeckte die Haltestelle.

      Der Bus war sehr voll, doch ein runzeliger alter Mann bestand darauf, mir seinen Platz zu überlassen. Er behauptete, vom Sitzen bekäme er ohnehin nur Blähungen. Während der nächsten 30 Minuten versuchte ich, so wenig wie möglich zu atmen. Der Bus schlängelte sich durch Vorstadtsiedlungen, überquerte dann den Meeresarm über die lange, hohe Brücke und begann im Zentrum erneut mit seinem Slalomkurs. Nach und nach leerte er sich. Zum Glück konnte ich meine Haltestelle nicht verpassen, ich musste nur den andere Uniformierten folgen. Blieb zu hoffen, dass sie nicht nur Statisten für einen Film über den ersten Weltkrieg waren... Einer von ihnen saß ganz in meiner Nähe, doch es gelang mir nicht einmal, Blickkontakt mit ihm aufzunehmen, geschweige denn, mit ihm zu reden. Er blätterte nur unentwegt in seinen Schulunterlagen herum.

      Die Erik Raske Skole war grau und imposant. Ein Eisentor führte in eine hohe Eingangshalle. Vor einer steinernen Treppe thronte eine enorme Uhr und obwohl es draußen warm war, war die Luft unangenehm kühl. Alle sahen sehr viel größer und klüger aus als ich und eilten kreuz und quer an mir vorbei. Niemand saß einfach nur herum, niemand rief oder lachte. Lärm erzeugte nur das Echo all der Schritte. Erwachsene standen mit strengen und wachsamen Blicken dazwischen, gelegentlich ermahnend, wenn jemand zu laut redete oder die Krawatte zu locker gebunden hatte. Und es gab noch nicht einmal Mädchen hier, wie ich plötzlich feststellte! Was hatte sich Saat nur dabei gedacht?

      Ich stand hilflos auf der Stelle und wünschte mir, woanders zu sein, als einer der Aufseher auf mich zukam.

      „Kein