Mathias Bestle

Robinson.Leva


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könntest du mir einen Spiegel bringen?“

      „Sind wir ein wenig eitel?“, grinste er.

      Ich fühlte, wie ich rot wurde. „Ich muss doch wissen, wie ich aussehe!“

      Er lachte. „Natürlich. Ich muss dich aber warnen, du siehst dir im Moment nicht gerade ähnlich...“

      Er verschwand im Badezimmer und kurz darauf war ein unangenehmes Knirschen zu hören.

      „Ich kann auch jemanden vom Krankenhaus fragen!“, rief ich, denn Saat sah nicht gerade zimperlich aus. Da kam er auch schon mit einem großen Spiegel in den Armen wieder.

      „Da hängt noch eine Fliese dran", lachte ich.

      Grinsend bohrte er seine Finger unter das Stück Porzellan und zupfte es ab, als wäre es ein Streifen Klebeband.

      „Krasse Nägel!“, stellte ich fest.

      Saat zuckte nur mit den Schultern und hielt mir den Spiegel vors Gesicht.

      Ich erschrak. Ich sah wirklich schlimm aus. Ich hatte dunkle Krusten im Gesicht, über einer geschwollenen Nase eine Schiene, schwarze Schatten um die Augen und einen dicken, weißen Verband um den Kopf.

      „Ich habe dich ja gewarnt", meinte Saat und zog den Spiegel zurück.

      „Nein, warte!“, sagte ich. Ich hatte hinter all den Verletzungen gerade Züge entdeckt, die mir zwar nicht bekannt, aber zumindest auch nicht fremd waren. Grünblaue Augen blickten mir entgegen und kamen mir für mich passend vor. Mein Gesicht war schmal und mein Haar, das unter dem Verband hervorstand, war nicht ganz so blond wie Saats. Ich berührte es mit meiner eingegipsten Hand, zeigte mir selbst die Zähne und drehte den Kopf zur Seite, bis Saat anfing zu lachen und mich Prinzessin nannte. Ich wurde schon wieder rot und er brachte den Spiegel zurück, bevor die seltsame Ärztin uns erwischte. Zufrieden berichtete er, dass er durch bloßes Andrücken wieder perfekt hielt.

      In dieser Nacht erwachte ich, als im Badezimmer etwas krachend zu Boden fiel und, so klang es, in tausend Scherben zersprang.

      In den kommenden Tagen ging die Heilung meiner Verletzungen zügig voran, meine Erinnerung jedoch hielt sich hartnäckig verborgen. Die Ärzte durchleuchteten mein Gehirn und suchten nach Verletzungen, jedoch vergeblich. Ich war froh darüber, sie wirkten frustriert. Ich wurde an Psychologen weitergereicht und die konzentrierten sich erst einmal darauf, herauszufinden, ob ich nicht alles nur simulierte. Mein sonstiger geistiger Zustand war so gut, dass dieser Verdacht anscheinend nahelag. Im Endeffekt wurde alles auf das Trauma meines Unfalls geschoben und fleißig daran gearbeitet, dieses Trauma freizulegen.

      Saat brachte mir haufenweise Bücher mit, die ich regelrecht verschlang. Ich musste die Lücken in meinem Gehirn doch zumindest mit irgendetwas füllen. Außerdem versuchte er mir zu helfen, indem er mir von unserer gemeinsamen Kindheit erzählte. So erfuhr ich, dass wir am Stadtrand von Oslo aufgewachsen waren, in einem kleinen Haus, mit unseren Eltern und unserer Großmutter.

      „Oma Maja war das Herz der Familie“, sagte er lächelnd. „Sie war Mas Mutter und hatte keine Enkel außer uns - Ma war Einzelkind, Pa übrigens auch. Sie hat immer auf uns aufgepasst und mit uns gespielt. Wir hatten so viel Spaß mit ihr! Am liebsten haben wir Bauklotzburgen gebaut, die dann von den Hunnen belagert wurden. Das waren unsere beiden Kaninchen, Löffel und Gabel... - Was soll ich sagen, wir waren kreative Kinder...“ Er grinste und kratzte sich am Kopf. „Was noch?“

      Ich erfuhr über Dominobahnen durch das ganze Haus, vielbeschäftigte Eltern und Streiche, die Saat anstellte. Ich lächelte - und erinnerte mich an absolut nichts.

      „Als du zehn Jahre alt warst, starb Oma Maja. Nach ihrem Tod verkauften unsere Eltern das Haus und wir zogen in eine Wohnung im Stadtzentrum. Für dich war eine Welt zusammengebrochen. Du hast kaum noch mit anderen Kindern geredet und dich komplett zurückgezogen. Pa schickte dich zu verschiedensten Vereinen und Kursen, damit du Kontakt zu Gleichaltrigen fandest. Er brachte dich sogar persönlich dorthin, als er herausfand, dass du ständig geschwänzt hast. Anfangs hast du dich gewehrt und dann aus Trotz dort eben wieder mit niemandem geredet, wie in deiner neuen Schule. Ich muss zugeben, dass ich das damals ziemlich lustig fand und dich darin bestärkt habe. Ich tat zu dieser Zeit mit Hingabe alles, was Pa ärgerte. Die Kommunikation zwischen mir und unseren Eltern war nicht immer die beste... Deshalb bin ich auch zum Studium hierher in den Norden gegangen. Um dich habe ich mir Sorgen gemacht, ich kam mir vor, als würde ich dich im Stich lassen. Aber du bist eigentlich gut alleine zurechtgekommen, wie sich herausstellte.“

      „Ich hatte wirklich keine Freunde?“, fragte ich mit gerunzelter Stirn.

      „Um ehrlich zu sein, nein. Aber du warst zufrieden damit! Und daran ist doch nichts auszusetzen.“

      „Nein...", sagte ich zögerlich. Ich hasste es, dass mir das alles so unendlich unbekannt war.

      Je näher ich mich Saat fühlte, desto mehr fragte ich ihn über unsere Vergangenheit aus - doch je mehr ich nachfragte, desto trauriger wurde er. Und so ließ ich es schließlich bleiben, widerwillig zwar, aber an seiner Reaktion merkte ich, dass er mir dafür dankbar war.

      „Was bei euch sonst noch so los war, weiß ich nicht“, sagte er bald. „Wir hatten wenig Kontakt, sobald ich in Tromsø war. Du hast jedenfalls die untere Sekundarstufe dieses Jahr ziemlich gut abgeschlossen, das habe ich mitbekommen. Dann hat Ma mir noch am Telefon erzählt, dass ihr nach Slowenien fahren würdet. Und das nächste, was ich von euch gehört habe, war die Nachricht über euren Unfall.“ Einen Moment lang schwieg er. „Weißt du, Jan“, sagte er schließlich, „auch wenn sie keine perfekten Eltern waren... ich wünschte, man würde sie zumindest finden und wir könnten sie beerdigen.“

      Wann immer die Sprache auf den Tod unserer Eltern kam, fühlte ich mich besonders unwohl. Ich hatte das Gefühl, ich sollte um sie trauern, doch nicht einmal auf Fotos kamen sie mir auch nur im Geringsten bekannt vor. Ein Familienalbum war vor ein paar Tagen aus Oslo angekommen, eine Umzugsfirma hatte unsere Wohnung dort geräumt und alle persönlichen Dinge nach Tromsø überstellt. Es anzusehen war frustrierend. Auch Saat als Kind, meine Großmutter und sogar mein eigenes, sehr viel jüngeres Ich waren mir völlig unbekannt. Aus der Zeit nach Oma Majas Tod gab es keine Bilder mehr.

      Kapitel 2, Vorwärts

      Auf den Tag meiner Entlassung aus dem Krankenhaus hatte ich mich schon lange gefreut. Gleich am Morgen holte mich Saat ab und ich ließ das Zimmer, in dem ich seit der Verlegung von der Intensivstation gelebt hatte, endlich hinter mir. Saats Auto war klein und grau, was mich überraschte, ich hätte ihm einen auffälligen, lauten Wagen zugetraut. Während der Fahrt freute ich mich wie ein kleines Kind über all die neuen Eindrücke. Wir fuhren mitten durch die Stadt, damit ich viel zu sehen bekam - bunte Holzhäuser, belebte Plätze, unterirdische Kreisverkehre und graue Betonklötze. Was diese Stadt wirklich zu einer Besonderheit machte, war ihre Lage. Einerseits lag das Zentrum umschlossen von zwei Meeresarmen auf einer Insel, während sich zu allen Seiten hin Berge und Hügel erstreckten. Und andererseits - und vor allem – befand sie sich fast 350 Kilometer nördlich des Polarkreises. Saat wirkte seltsam zufrieden, als er mir davon erzählte. Im Sommer war die Sonne 24 Stunden am Tag zu sehen und wanderte wie ein Uhrzeiger immer und immer wieder um die Stadt herum. Im Winter schaffte sie es nicht einmal über den Horizont hinauf.

      Wir verließen die Insel über eine imposante Brücke, die bestimmt einen Kilometer lang war und so hoch anstieg, dass Schiffe unter ihr durchfahren konnten. Auf dem Festland empfing uns ein mächtiges, dreieckiges Gebäude, die Eismeerkathedrale, wie Saat mir erklärte.

      Nach einiger Zeit kamen wir in ein locker bebautes Vorstadtviertel und steuerten auf ein kleines Holzhaus zu.

      „Das ist es!“, verkündete Saat mit einer so weiten Handbewegung, dass er an die Windschutzscheibe stieß. Mir war bereits aufgefallen, dass er einen Hang zu Theatralik hatte.

      „Sieht nett aus“, sagte ich. „Sehr blau.“

      „Passend zu meinen Augen...", blinzelte