Mathias Bestle

Robinson.Leva


Скачать книгу

alles hinzuwerfen, war Saats enormes Motivationstalent. Nur dank ihm fand ich in dieser Anfangsphase immer wieder zu einer einigermaßen positiven Einstellung zurück.

      Mit der Zeit lernte ich, mit den Versagensängsten, dem Druck und der vielen Arbeit umzugehen. Es wurde für mich zur Routine, an den Nachmittagen und sogar an den Wochenenden kaum etwas anderes zu tun, als zu arbeiten und zu lernen. In kurzen Entspannungspausen sah ich fern oder ging bald auch schon ein Stück laufen, auf jeden Fall aber ging ich nun fast jeden Abend mit Saat schwimmen. Wie er vorausgesagt hatte, war das der ideale Ausgleich für meine anstrengenden Tage. Saat war auch was den Sport betraf ein toller Motivator. Er brachte mir verschiedenste Schwimmtechniken bei und spornte mich mit Zeitmessungen und viel Lob an.

      Aufgrund meiner durchgeplanten Tage dachte ich eigentlich kaum noch über meine Amnesie nach. Nur in den Therapiesitzungen war ich gezwungen, mich damit auseinanderzusetzen - und es war frustrierend. Mein Therapeut bat mich, persönliche Dinge aus der Zeit vor dem Unfall mitzubringen und ich musste versuchen, über sie eine Brücke in die Vergangenheit zu schlagen. Doch im Brückenbau war ich offenbar eine Niete. Ich wäre gerne seinem Vorschlag gefolgt, nach Oslo zu fahren, um die Orte meiner Vergangenheit zu besuchen, doch leider meinte Saat, dass wir dafür viel Zeit brauchen würden, und die hatten wir beide im Moment nicht. Er versprach mir, dass wir in den Sommerferien dorthin reisen würden. Dass er mich früher schon alleine fahren ließ, kam leider nicht in Frage. Manchmal haderte ich mit meinem Schicksal, doch wenn ich an meine toten Eltern dachte, kam ich mir schäbig vor. Ich sollte dankbar für mein Leben sein. Mein Glaube, meine Erinnerung wiederzuerlangen, wurde jedenfalls von Woche zu Woche kleiner. Ich begriff langsam, dass ich mir zu große Hoffnungen gemacht hatte. Stattdessen redete ich mir ein, dass ich auch gut ohne meine Vergangenheit klarkommen konnte. Es gab ohnehin niemanden, der mich vermisste. Von den wenigen Menschen, die meinem alten Ich wichtig gewesen waren, war nur noch Saat am Leben. Und den kannte ich nun wahrscheinlich besser, als ich es sonst jemals getan hätte.

      Irgendwann im Spätherbst verkündete ich ihm schließlich, dass ich die Therapie absetzen wollte. Sie war nichts als eine zeitliche Zusatzbelastung für mich. Und obwohl er mich nach jeder Sitzung gefragt hatte, was wir gerade machten und wie es voranging, willigte er sofort ein. Ich konnte es kaum fassen. Woher kam seine plötzlichen Akzeptanz für meine Entscheidungen? Ich hatte das Gefühl, dass dies der erste Schritt in eine einfachere Zukunft sein konnte.

      Wie sehr ich mich täuschte.

      Mit dem Fortschreiten der Jahreszeit wurde es immer dunkler in Tromsø und ich wünschte mir die langen Tage des Sommers zurück. Außerdem wurde es kalt. Der einzige Grund, warum es sich hier, so hoch im Norden im Winter überhaupt aushalten ließ, war Europas gigantisches Fernheizwerk, der Golfstrom. Das Wasser, das Norwegens Küste entlangströmt, hat den weiten Weg aus der Karibik hinter sich und hält noch immer gewaltige Mengen Wärme gespeichert. Genug, um das Meer beinahe eisfrei zu halten und sogar genug, um der Luft ein paar Minusgrade zu nehmen. Einen wirklich guten Anorak brauchte man trotzdem. Und gute Schuhe, denn mit der Kälte kam der Schnee. Berge von Schnee. Irgendwann ging die Sonne überhaupt nicht mehr auf und alles war während des Tages in düsteres, blaues Licht getaucht. In den Klassenzimmern wurden Tageslichtlampen aufgestellt und Weihnachtsbeleuchtungen erblühten überall in der Stadt. Die waren schön und stimmungsvoll, trotzdem suchte ich die Dunkelheit. Dies war nämlich auch die Jahreszeit, in der eine ganz besondere Magie des Nordens erwachte: Das Polarlicht. Es war scheu und man durfte nicht darauf warten – und ihm schon gar nicht winken, so sagten die Alten. Doch mit ein wenig Glück konnte man es nun in klaren Nächten über den schwarzen Himmel tanzen sehen, stumm und mystisch. Beinahe hätte ich mir mein Bein beim Joggen noch einmal abgebrochen, so hypnotisiert war ich von seinem gespenstischen Grün. Im Stürzen war ich jedoch geübt, ich machte es fast jeden Morgen. Ich blieb immer so lange wie möglich im Bett, wodurch meine Tage meist mit einem Sprint zur Bushaltestelle begannen. Im Stadtzentrum gab es beheizte Gehsteige, doch hier in den Vororten konnten sich Eis und Schnee austoben - und so unterhielt ich regelmäßig den gesamten bereits wartenden Bus mit meinen Bruchlandungen.

      Trotzdem hätte ich nie auf das Fahren mit dem Bus verzichten wollen - zumindest nicht auf die Heimfahrt. Es war unheimlich, wie sehr ich mich immer freute, sie zu sehen. Natürlich hätte ich es nie gewagt, sie anzusprechen, doch eines wundervollen, dunkelgrauen Tages...

      Kapitel 3, Engel

      Ich las gerade Robinson Crusoe und beneidete ihn um seine sonnige Kannibaleninsel, da stand sie plötzlich da.

      „He Robinson, ist der Platz noch frei?“, fragte sie und zeigte auf den Sitz neben mir.

      Mein Gehirn begann sich herunterzufahren.

      Ich nickte mit rot glühenden Ohren und zog meine Schultasche beiseite. Sie setzte sich. Ein Duft von Blumen stieg mir in die Nase.

      „Du magst dieses Buch, was?“, sagte sie neugierig.

      Erschrocken lugte ich hinter meinem Versteck hervor.

      „Du liest es jetzt schon zum zweiten Mal.“

      Sie hatte mich bemerkt!

      „Ja, es ist... toll", sagte ich tapfer.

      „Ich hab’s auch gelesen", sagte sie.

      „Wie hat es dir gefallen?“, fragte ich, und war stolz, dass mir so schnell eine Frage eingefallen war.

      „Gut. Ich steh voll auf Freitag", grinste sie.

      Ist es normal, auf eine Person aus einem 300 Jahre alten Roman eifersüchtig zu sein?

      „Äh ja, der ist ganz nett“, sagte ich.

      „Am Liebsten mag ich die Stelle, als Robinson den Fußabdruck im Sand findet. Die fand ich so spannend, ich hatte richtig Angst!“

      Sie sah mich an. Ich sah nichts mehr.

      „Und du?“, fragte sie.

      „Ich... ich hatte eigentlich keine Angst", sagte ich und sie lachte. Ihre Augen funkelten und auf ihrer Nase bildeten sich kleine Fältchen, die ihre Sommersprossen zum Tanzen brachten. „Und was magst du am liebsten?“

      Ich überlegte hastig. „Ich mag... wie gut Robinson mit der Einsamkeit umgeht!“

      Sie sah mich forschend an und ich bereute augenblicklich, dass ich das gesagt hatte. „Wie er zurechtkommt, so ganz allein...“, nickte sie schließlich.

      „Und sein Essen selbst sammelt und jagt", sagte ich schnell. „Und all die Dinge, die er sich baut. Seine Festung, die Kanus...“

      „Nicht zu vergessen die praktischen Sonnenschirme“, grinste sie.

      „Ja, die auch", lachte ich. Plötzlich fühlte ich mich wohl.

      Wir diskutierten über das Buch und seine guten und schlechten Seiten. Wir nahmen es Robinson beide übel, dass er glaubte, Freitag 'zivilisieren' zu müssen. Als Gesprächsthema eignete er sich aber ausgezeichnet. Irgendwann fand ich, dass er für heute genug geleistet hatte.

      „Wie heißt du eigentlich?“, fragte ich, was äußerst mutig von mir war.

      „Dala", sagte sie und sah mich herausfordernd an. „Los, frag schon, was für ein komischer Name das ist!“

      „Nein, ich finde ihn schön", sagte ich und spürte, wie ich rot wurde. „Mein Bruder hat auch einen ungewöhnlichen Namen“, schickte ich eilig hinterher. „Er heißt Saat.“

      „Stimmt, das ist ungewöhnlich.“, sagte sie. „Und... wie heißt du?“

      „Ich-“ Ich räusperte mich. „Ich heiße Jan.“

      „Jan... Weißt du was?“, schmunzelte sie. „Ich glaube, ich bleibe lieber bei Robinson. Das passt besser zu dir.“

      Ich zuckte mit dem Schultern und grinste.

      „Du gehst auf die Erik Raske Skole, was?“, sagte sie.

      „Ja, woher weißt du das?“

      „Die