Nox Laurentius Murawski

Terra Aluvis Vol. 1


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Palastes eingrenzte. Vor der Mauer blieb er stehen, stellte einen Fuß darauf und stützte sich mit dem Ellbogen auf seinem angewinkelten Knie ab.

      Bedrückt ließ der Prinz den Blick in die Ferne schweifen … Das Meer war unruhig in dieser Nacht, sehr unruhig. Die schwarzen Wellen brachen sich unaufhörlich an den felsigen Klippen der Bucht und der raue Wind, welcher plötzlich vom kalten Ozean her aufzog, vermochte einen größeren Sturm mit sich zu tragen …

      Lewyn lag wach in seinem Bett und starrte an die dunkle Decke seines Zimmers. Ein großer Aufbruch stand ihm kurz bevor und … er würde alleine gehen.

      Was ihn erwartete, was auf ihn zukam – das wusste der hellhaarige, junge Mann nicht im Geringsten abzuschätzen. War es richtig oder falsch? Darum ging es hier nicht. Er musste fort. Er musste zum Berg des Ahiveth. Er musste mehr erfahren. Er musste Celine retten.

      Der Prinz sog die kühle, frische Luft ein und blickte zu den rasch über ihm hinwegziehenden Wolken hinauf. Schwer behangen drohten diese jeden Moment aufzubrechen und alles unter sich zu begraben. Es war eine wahrlich finstere Nacht: eine Nacht, in welcher die Geister nicht ruhten – weder die lebenden noch die toten …

      Plötzlich knurrte Sacris auf und hieb mit einem wuchtigen Schlag ins Nichts vor sich. In dem Moment schien der aufbrausende Wind selbst den Atem anzuhalten. Ein weiteres Mal zeichneten sich vor seinem inneren Auge die Bilder und Eindrücke des Alptraumes ab. Ein weiteres Mal krampfte sich sein Innerstes zusammen. Ein weiteres Mal wollte er einfach nur aufschreien! "Verflucht, Lewyn …!" Der junge Mann rammte sein Schwert in den kahlen Stein des Bodens und brach in sich zusammen. "Warum tust du mir das an?!"

      Ein tiefes Donnern und Grollen fuhr durch die Nacht und leitete ein solch heftiges Gewitter ein, dass viele Einwohner Hymaeticas unverhofft aus ihrem leichten Schlaf gerissen wurden. Mächtige Blitze zuckten durch den violetten Himmel und der Regen ergoss sich in derart großen Mengen über das Land, dass sich die Straßen der Stadt in reißende Flüsse und ihre Dächer in Wasserfälle verwandelten. Karren und Fässer, die lose und unbefestigt waren, wurden in den Strömen davongetragen. Die peitschenden Böen bogen Äste und Wipfel zur Erde hinab und, was zu alt oder zu schwach war, wurde er­barmungslos mit­gerissen. Das Vieh in den Ställen und Höfen scheute und schnaubte aufgebracht, suchte Schutz, wo es nur konnte, und rückte verzweifelt zusammen, um dem fürchter­lichen Gewitter trotzen zu können.

      Der nunmehr tosende Strom Tical und seine Bäche traten über ihre Ufer und tauchten die Wiesen und Weiden des Umlandes in ihre Untiefen. Einige Fischerboote lösten sich mit klappernden Segeln und scheppernden Ketten von den Anlegestellen und trieben durch die Strömung ins tobende Meer davon.

      Dann fuhr plötzlich ein besonders greller Blitz vom Himmel zur Erde hinab und schlug in eine hölzerne Ruine außerhalb der Stadt auf einem Abhang ein. Er entfachte in ihr ein solch verzehrendes Feuer, dass selbst die schwersten Wolkenschauer der Nacht eine geraume Weile brauchten, um die sengenden Flammen vollständig zu tilgen.

      Lewyn zuckte bei dem darauffolgenden Donner­­grollen zusammen und rutschte an der Wand hoch, wo er die Beine mitsamt Bettdecke an sich heranzog und nachdenklich aus dem hohen Fenster seines Zimmers blickte.

      Mensch, er fürchtete sich ja noch immer vor Gewittern …! Der Blonde lächelte traurig und seufzte … Was Sacris wohl jetzt tat …? Schlafen vermutlich, wie jeder andere Normalsterb­liche zu dieser späten Stunde. Nur er, Lewyn, konnte keine Ruhe finden, da ihn seine unmittelbar bevorstehende Zukunft so sehr beschäftigte. Ja, davon war er vollkommen überzeugt: Es waren einzig und allein die Reise und die daraus erhofften Erkenntnisse – und nicht zuletzt die große Sorge um Celine! – welche ihn so sehr beschäftigten. Ja, mit absoluter Sicherheit. Einen anderen Grund konnte es gar nicht geben. Wer würde sich denn keine Gedanken vor solch einem bedeutenden Aufbruch machen?

      Dann seufzte der junge Mann aber ein weiteres Mal und erinnerte sich plötzlich an jene Zeit, da er und Sacris noch klein gewesen waren und ihr erstes Gewitter gemeinsam erlebt hatten …

      Sie hatten damals in den goldenen Wiesen außerhalb der Stadt bei der alten Mühle gespielt, als der Sturm ebenso plötzlich ins Land hereingebrochen war wie in der jetzigen Nacht. Die Jungen hatten, ohne weiter zu überlegen, Unterschlupf in der Mühle gesucht. Doch diese hatte im beständigen Wind dermaßen schaurig laut geknarzt und geknackt, dass Lewyn dadurch fast noch mehr in Angst und Schrecken versetzt worden war als durch das fürchterliche Donnergrollen des Gewitters von draußen.

      Sacris wiederum hatte sich einen unentwegten Spaß daraus gemacht, den ohnehin schon schreckhaften, kleinen Blondschopf noch zusätzlich so häufig wie möglich zu erschrecken. Das daraufhin immer wieder erklungene Japsen hatte ihm wohl eine herrliche Freude beschert …

      Tz …! Lewyn wäre dort halb gestorben vor Angst – und sein Freund hatte nichts Besseres zu tun gehabt, als alles nur noch zu verschlimmern …! Tja, das hatte er ihm dafür aber auch am nächsten Tag so heftig heimgezahlt, dass sich Sacris in zehn­facher Ausführung bei ihm entschuldigt hatte.

      Der Blonde schüttelte die nostalgischen Gedanken aus seinem Kopf und beobachtete stattdessen stillschweigend, wie die Lichtblitze einander am Himmel jagten. Plötzlich kam in ihm die äußerst seltsame Frage auf, ob sich die Blitze deshalb jagten, weil sie einander nicht leiden konnten, oder ob sie es vielleicht einfach nur taten, weil sie verspielt miteinander kämpfen wollten … nur verspielt kämpfen wollten …

      Die prasselnden Wassermassen auf seinen nackten Schultern kümmerten ihn wenig. Der eisig schneidende Wind um seinen klammen Oberkörper störte ihn nicht. Sacris verharrte auf sein Schwert gestützt am Boden bis zu den Knöcheln im Wasser kniend und ließ den Sturm seine Ängste und Befürchtungen mit all der Macht und Gewalt, die er mit sich brachte, hinwegfegen. Mochte sein Freund überleben. Mochte er lebend wieder zu ihm zurückkehren.

      ~2~

      Zum Morgen hin war das Gewitter tiefer ins Gebirge gezogen und hatte die Küste in einem Zustand herrlichster Regenfrische zurückgelassen. Die ersten Menschen liefen schon auf den Straßen Hymaetica Aluvis' umher, um den ein oder anderen abhanden gekommenen Wagen oder Karren wieder zurückzuholen und eventuell aufgetretene Schäden in Ordnung zu bringen. Die Bauern waren vollends damit beschäftigt, nach ihrem Vieh zu sehen und dabei nicht wenige entlaufene Schafe und Reittiere wieder einzufangen. Die Fischer wiederum taten sich zusammen, um ihre Schiffe und verlorene Fracht aus den Gewässern zurück an Land zu ziehen.

      Das Wasser auf den Feldern war schon größtenteils in den Boden eingesickert und erlaubte den Gräsern und Blumen, sich wieder aufzurichten und ihre Blätter kräftiger denn je auszubreiten. Der Tical und seine Bäche hatten sich wieder in ihre Becken zurückgezogen und plätscherten munter in gemächlichem Fluss vor sich hin. Die ersten Vögel wagten bereits, zwitschernd den neuen Tag zu begrüßen und sich in die Lüfte zu schwingen. Hier und da mochte manch einer sogar das eine oder andere Kleintier erhaschen, welches aus dem Dickicht über die Wege hüpfte und sich kurz an dem Nass einer Pfütze erquickte, nur um wieder raschelnd im nächsten Gebüsch zu verschwinden. Das Leben nahm langsam erneut seinen gewohnten Lauf und schien die Schrecken der ver­gangenen Nacht schon fast wieder vergessen zu haben.

      Unter den Gestalten, die zu jener früh morgendlichen Zeit in der Stadt unterwegs waren, befand sich auch ein junger Mann in einer leichten, dunklen Lederrüstung und einem laubgrünen Umhang. Er trug ein silberglänzendes Schwert und einen Dolch an der Hüfte sowie einen Bogen und Köcher mit Pfeilen auf dem Rücken. Sein Haar war honigblond, seine tiefblauen Augen ziemlich unausgeschlafen, aber entschlossen und ungetrübt zum Horizont gerichtet. Auf einem mit Gepäck und Proviant versehenen Schimmel beschritt er seinen Weg aus der Stadt heraus am Tical entlang ins Landesinnere.

      Lewyn blickte nicht zurück – es machte keinen Sinn. Statt­dessen sah er zu den kahlen Gipfeln am gewitternden Horizont. Dort, in der Ferne, wo immer noch leises Donner­grollen erklang und sich die dunklen Wolken an den felsigen Berghängen brachen, ja, dort lag sein Ziel. Vierzehn Tage; mehr waren ihm nicht geblieben. Dann musste er das Feld der Himmelsspeere und den Berg des Ahiveth erreicht haben. Er würde den Pass zur Senke des Schicksals bei Henx tief durch das Gebirge des Grauens nehmen, um zu vermeiden, dass er in die westlichen Territorien der 'Anderwesen' kam, wie man sie nannte.