Birgit Rüsch-Neuhaus

Eine mörderisch gute Schule


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weitere Schüsse. Die Stimmen wurden schrill. Ein Mädchen schrie in Todesangst. Grelle Blitze im Morgengrauen! Ich glaubte, die donnernde Stimme von Klügel zu hören: „Tür zu, unter die Tische! Handys aus!“ Diverse Klassentüren fielen dumpf und schwarz ins Schloss.

      Ich versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen. Das einzige, was mir einfiel, war Flucht. Flucht! Zum Hauptausgang! Ich ließ alles liegen. Ich sprang, stolperte, rutschte die Stufen hinunter, rannte den langen, leeren Korridor entlang, vorbei an den Türen zum Musikraum, zur Cafeteria, zu den Klos, vorbei an dem verkohlten Christbaum und durch die ganze große, gläserne Pausenhalle, vorbei am Verwaltungstrakt - nur hinaus in die eiskalte Winterluft!

      Ich lief nicht zu den Fahrradständern, ich rannte die ganze Straße hinunter. Der Supermarkt! Da waren Leute, da war es hell, da war ich sicher!

      In der Luftschleuse prallte ich mit Marvin zusammen. Er glotzte mich an wie einen Yeti. Sein heißer Cappuccino ergoss sich über meine Hand, aber ich spürte keinen Schmerz. Ich sah ihm direkt in die wasserblauen Augen. Ich japste wie ein Fisch auf dem Trocknen und stammelte: „Lenny ist da, und er bringt alle um!“

      So schwarz wie die Nacht

      „Junge, wir hätten reden sollen“, sagte der hochgewachsene Mann neben mir. Die Verzweiflung hatte jeden Klang aus seiner Stimme gesogen.

      Ich kriegte kein Wort heraus. Ich ergriff nur grimmig die Schaufel, die Lennys Vater eben mit einem scharfen „Scht!“ in den blechernen Eimer mit grobem Sand gesteckt hatte. Drei Schaufeln Sand - und eine gelbe Teerose, frisch aus dem Treibhaus des weltberühmten Rosenzüchters aus dem Nachbarort - das war alles, was ich ihm jetzt noch mitgeben durfte.

      Meine linke Hand umschloss krampfhaft die Dose mit dem grünen Spray, das ich in der linken Jackentasche aufbewahrte. Ich hatte es extra für heute gekauft, für Lenny. Ich hatte mir vorgenommen, seine letzte Botschaft auf seinen Sarg zu sprayen - in Grün, der Farbe für Leben, der Farbe, die er so geliebt hatte. „Grrr!“, das wäre die Botschaft gewesen - Ausdruck all seines Grolls, seines Hasses - und all seiner Hoffnung.

      Aber jetzt, in diesem fürchterlichen Augenblick, war ich zu feige dazu. Ich fühlte mich total verlassen, einsam, schwach. Und das lag nicht daran, dass kein einziger anderer Schüler aus unserer Schule hier war, es war einfach die graue Einsamkeit in mir drin.

      Die Worte, die ich Lenny noch hatte sagen wollen, brachte ich auch nicht über die Lippen. Ich hatte sie aufgeschrieben, hatte sie auswendig gelernt, aber jetzt blieben sie mir alle im Halse stecken. Meine Kehle war wie zugeschnürt und sie brannte wie Feuer.

      Ich ließ die Spraydose los, um mich an dem Letzten festzuhalten, was mir von Lenny geblieben war. Das kühle Metall des Ringes erdete mich ein bisschen.

      Aber dennoch verschwamm das weiße Blumenbukett auf dem hellen Eichensarg immer mehr vor meinen Augen, und meine Knie wurden weich.

      Gerade noch rechtzeitig ergriff jemand meine Schulter und zog mich sanft, aber bestimmt von dem offenen Grab zurück. Seit Lennys Tod passte Sascha auch ein bisschen auf mich auf, und heute war ich ihm beinahe dankbar dafür.

      ***

      Der Unterricht an unserer Schule wurde vor Weihnachten nicht wieder aufgenommen. Im Schulgebäude ging jetzt die Kripo ihrer Arbeit nach; sie sicherte die Spuren, die Lennys blutige Tat hinterlassen hatte.

      Es stand ohnehin niemandem der Sinn nach Lernen. Unsere Klasse hatte ein Drittel ihrer Schülerschaft verloren, fast alles Mädchen. Margaux war die Erste in unserer Klasse gewesen, die Lenny gerichtet hatte. Danach hatte er eiskalt auf ihre spitzzüngigen Freundinnen gezielt.

      Ein Heer von Psychologen und Seelsorgern war in unsere Kleinstadt eingezogen, um Schüler, Lehrer, Hinterbliebene an sicheren Orten zu betreuen. Draußen wurde die Zeit eingefroren: Der Bürgermeister ließ die Weihnachtsbeleuchtung in der Fußgängerzone abmontieren, die Buden des Adventsmarktes um die kleine Kirche abbauen - Weihnachten würde es hier frühestens im nächsten Jahr wieder geben.

      Unter den Leuten gab es seither irgendwie zwei Lager. Die eine Hälfte - und das waren die, die mit Schule zu tun hatten - war noch immer wie gelähmt vor Entsetzen; die andere Hälfte gierte unverhohlen nach spektakulären Infos über dieses unglaubliche Verbrechen in ihrer sonst so beschaulichen und langweiligen Kleinstadt, die ihre goldenen Zeiten längst hinter sich hatte.

      Die Web-Zeitung Südholstein nahm sich der Begierigen nur allzu gerne an: Sie berichtete in aller Ausführlichkeit über das schreckliche Geschehen und veröffentlichte gnadenlos die neueste Ranking List der Gymnasien im Land. Danach hatte unsere Schule quasi über Nacht ihren guten Ruf eingebüßt; sie war auf den vorletzten Platz abgestürzt. Nur bei dem Amoklauf vom vorigen März in irgendeiner Großstadt waren noch mehr Menschen getötet worden...

      Unser Direktor war für kein TV-Interview zu gewinnen; es hieß, er sei zur Kur in den Alpen. Dem Konrektor, vorerst unser neuer Chef, entlockte ein Reporter irgendwann die Wahrheit: Tinnitus-Klinik um die Ecke! Burn-out!

      Darüber hinaus kursierten alle möglichen Gerüchte. Am hartnäckigsten hielt sich das über Lennys angebliche nächtliche Schießübungen auf dem Schießstand der örtlichen Schützengilde. Das war natürlich Quatsch; ich wusste das. Ich wusste aber auch, dass Lenny in mehr als einem Frankreich-Urlaub seine Erfahrungen beim Gotcha gesammelt hatte... und dass er seit mindestens einem Jahr die Nächte am PC durchgespielt hatte, weil er schon lange nicht mehr hatte schlafen können. Und auch, dass er deswegen bei einem Psychiater in Hamburg gewesen war, der ihm Pillen gegeben hatte - gegen Depressionen.

      Ich kannte ihn, den stillen, unheimlich traurigen Lenny: den Lenny, der sich frühmorgens beim ersten Sonnenstrahl in seinen eigenen Kleiderschrank verkroch, um die Schule zu schwänzen. Der mich dann aus dem vertrauten Dunkel per SMS fragte, ob ich ihn am Abend auf der Schlossinsel treffen wolle. Der dann blass und dünn und überpünktlich an der Fischtreppe auftauchte, um mir von seiner Mutter zu erzählen. Stundenlang hatten wir in fast heiliger Zweisamkeit auf unserer Bank unter der mächtigen Trauerweide gehockt. Jedes Mal hatte Lenny mir dieselben Geschichten zu denselben alten Fotos erzählt:

      Seine Mutter war Opernsängerin gewesen. Sie war sehr schön gewesen. Sie war sehr erfolgreich gewesen. Und sie war viel zu früh gestorben! Vor ein paar Wochen hatte er mir erzählt, dass sein Vater eine neue Freundin habe, wieder eine

      Sängerin, der er seit geraumer Zeit von Engagement zu Engagement nachreise.

      Für Lenny war da wenig Zeit geblieben...

      ***

      Nach der Beerdigung schloss ich mich in meinem Zimmer ein. Ich versuchte zu schlafen, aber es ging nicht. Lenny spukte andauernd durch mein Hirn. Ich wurde das Bild von dem schwarzen Schatten einfach nicht mehr los. Mich quälte der Gedanke, dass ich alles vielleicht noch hätte verhindern können: Ich hätte von der Treppe aus nur seinen Namen zu rufen brauchen; dann wäre er vielleicht umgekehrt!

      Ich wälzte mich auf meinem Bett hin und her. Die Matratze hatte schon seit zwei, drei Jahren eine tiefe Kuhle, aber früher hatte mich das nie besonders gestört. (Mum gegenüber hatte ich es nicht einmal erwähnt; für so was war sowieso kein Geld da, wir brauchten anderes nötiger.) Aber heute brachte mich das Teil zur Verzweiflung, wann immer ich in das Loch rollte.

      Schließlich schickte ich Steffi eine SMS: „Komm mal kurz. Bring die kleinen Freunde mit. Urgent! LG Juli“

      Steffis Okay kam unmittelbar danach, als hätte sie auf eine Nachricht von mir gelauert.

      Ich passte Steffi an der Wohnungstür ab, kaum dass sie geklingelt hatte. Ich war sogar noch schneller als Sascha, der regelrecht aus dem Wohnzimmer geschossen kam. Wahrscheinlich hatten er und Mum da die ganze Zeit mit bangem Herzen gehockt und darauf gewartet, dass ich endlich wieder aus meinem Zimmer herauskriechen würde.

      „Ist schon gut, nur eine Freundin“, murmelte ich.

      Zum Glück gab er sich damit zufrieden und ersparte mir weitere Erklärungen.

      „Wie viele kann ich haben?“, wollte