Birgit Rüsch-Neuhaus

Eine mörderisch gute Schule


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Sommerabend mit der Barkasse ’rüberfahren von den Landungsbrücken hin zu dem imposanten Zeltbau, um für einen Abend seine Träume zu leben?

      Doch auch das Quartier zwischen „Reiherstieg“ und „Steinwerderhafen“ hatte in den vergangenen fünf Jahren rasch und grundlegend sein Gesicht verändert, und zwar seitdem es den Besitzer gewechselt hatte: Da war nämlich ein Milliarden schwerer niedersächsischer Investor in „Steinwerder“ und auf dem „Grasbrook“ eingestiegen.

      Und wo noch im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends die Hafenwirtschaft mit ihren schmucklosen Zweckbauten das Bild geprägt hatte, erhob sich jetzt schillernd wie in einem gewaltigen Zauberspiegel ein architektonisches Spektakel futuristischer Wohn- und Bürogebäude: Der Leuchtturm von Heimberg! Nicht nur die HafenCity der Freien und Hansestadt Hamburg hatte ernsthaft Konkurrenz bekommen!

      Aber noch war diese Konkurrenz ein schlafender Tiger; die alte und ehrwürdige Stadt hatte Traditionen aufzubieten, die kein Konkurrent, der sich das Zertifikat „neu“ oder „modern“ oder „zukunftsorientiert“ an die Brust heftete, aufwiegen konnte. Hamburg war immer noch eine Festung - so wie damals während des Dreißigjährigen Krieges, als kein Belagerer Hamburg hatte einnehmen können. Oder auch später, zur „Franzosenzeit“, als pfiffige Hamburger Bürger im Kleinen die Besatzer auszutricksen vermochten! Jeder Schmuggler von Zuckersirup hatte damals nicht nur zu seinem eigenen, sondern auch zum Wohle der Freien und Hansestadt gehandelt! Von jeher hielt man zusammen in dieser Stadt! In Hamburg musste alles, was zählen sollte, noch heute „gediegen“ sein: Eine in Jahrhunderten gewachsene, im Einvernehmen von Senat und Bürgerschaft abgesegnete Tradition und damit quasi das Gesetz, forderte dieses tiefe, grundlegende Attribut. „Gediegen“ war auch alles, was sich im Hafen abspielte, wenn es denn echt war. Dieses pulsierende Leben war gekoppelt an Menschen, an Charaktere, ihre ganz besondere Lebensart und daher nicht zu kopieren und schon gar nicht zu toppen.

      Hamburg war eben Hamburg. „Wir haben den Hafen“ war ein geflügeltes Wort und die absolute Trumpfkarte im Konkurrenzkampf zwischen den deutschen Metropolen.

      Das Appartement, das mein Dad bewohnte, lag im siebten Stock eines nagelneuen gläsernen Wohnturmes; der Turm stand genau an der Ecke „Arningkai“/ „Reiherstieg“.

      „Je nach Sonnenstand verändert die Glasfassade ganz von allein ihr Gesicht“, erklärte mein Vater in wichtigem Tonfall. „Optimale Nutzung von Energie! In ein, zwei Monaten schon wirst du den Bau in ganz anderen Farben sehen als heute. Du wirst staunen, sag ich dir!“

      Ich nickte, aber alles war noch zu neu für mich, als dass ich seine Begeisterung für architektonisch und energetisch vorbildliche Gebäude ehrlich hätte teilen können. Hoch über mir schimmerte das Glas in einem eleganten Russischgrün mit goldenen Schlieren. Ich rang mir immerhin ein „Sehr futuristisch!“ ab.

      Mit dem Appartement konnte ich mehr anfangen: Es war riesig, todschick eingerichtet und bot vom Wohnraum aus einen sensationellen Blick über die Elbe bis hinüber zur Hamburger Elbphilharmonie.

      „Bestimmt ganz schön teuer, das alles hier?“, fragte ich vage. Wir hatten eben ein für mich geradezu opulentes Sushi-Essen genossen. Obwohl die Wohnung über eine supermoderne Pantry verfügte, in der einem eine Computerstimme das Rezept für’s Soufflée auf einen Wink charmant ins Ohr diktierte, vermied Dad das Selberkochen. Er bestellte lieber. Heute Abend war das Essen von einem japanischen Edelrestaurant aus der Heimberger Innenstadt angeliefert worden, und zwar inklusive Butler. Die Zutaten aber stammten allesamt aus Europa, aus Aqua-Kultur und kontrolliert biologischer Landwirtschaft. Mein Dad hatte darauf bestanden, und das Restaurant hatte umgehend geliefert. Der Butler hatte das edle Mahl stilsicher serviert - beinahe lautlos, mit extra viel Sojasoße und ausgesuchter Zurückhaltung.

      Nun war er weg, die Pantry gewohnt blitzsauber und ich pappsatt.

      Dad und ich standen vor der großzügigen gläsernen Fensterfront im Wohnraum und ließen minutenlang den Blick über die weitläufigen Hafenanlagen schweifen. Jetzt am Abend reihten sich da unten am „Arningkai“ zahllose rosafarbene Lichter aneinander wie kostbare Perlen auf einer Schnur. Sie überhauchten die geschliffenen elfenbeinfarbenen Gehwegplatten der Uferpromenade mit einem zartrosa Glanz: die nagelneue „Future Promenade“ von Heimberg!

      „Da kannst du an Sommerabenden im künstlichen Mondlicht kilometerlang inlineskaten“, hatte mein Vater mir vorgeschwärmt. „Du badest im farbig reflektierten Licht der Glasfassaden - heute grün, morgen blau - alles Imagination, um die Sinne zu verzaubern, alles mit Solarenergie betrieben.“

      Ich konnte es mir beinahe vorstellen; und in ein paar Wochen würde ich es da unten wohl sogar selber erleben.

      Heute Abend aber sah ich hinter der Promenade das schwarze Wasser der Elbe schwer und träge daliegen. Eben zog wie ein ferngesteuertes Spielzeugboot eine bunt beleuchtete Barkasse vorüber. Für einen Moment glaubte ich das gleichmäßige, leise Tuckern des Motors zu hören, gleich darauf sogar Fetzen von Akkordeonmusik. Bunte Glitzersteine auf schwarzem Samt tauchten als Flash vor meinem inneren Auge auf. Im Hintergrund konnte ich die altehrwürdige Freie und Hansestadt Hamburg erahnen. Ihre modernsten Außenposten schrien es hinaus: „Hier beginnt Hamburg, das Tor zur Welt!“

      An der Kehrwiederspitze griff eine überdimensionale olympische Flamme mit ihrem gleißenden bläulichen Weiß nach den Sternen auf schwarzem Samt: die bizarr geformte gläserne Dachkonstruktion der Elbphilharmonie! Ihr zu Füßen lag der „Dalmannkai“, oberflächlich betrachtet die sonntägliche Flaniermeile für die Schickeria der neuen HafenCity - in Wahrheit ein Ort der Sehnsucht. Hamburg- Touries waren besonders beeindruckt. Und so hatten die netten Damen in den dunkelblauen Kostümen mit flottem Hamburg-Halstuch, die souverän und charmant ganze Schwärme von Touristen durch Speicherstadt und HafenCity manövrierten, längst den wahren Namen für diesen Kai gefunden: „Walk of Freedom”.

      Der lange, großzügig angelegte weiße Kai zog die Menschen an wie ein Magnet: Viele gaben zwar vor, einfach nur bei schöner Aussicht am Wasser entlang spazieren zu wollen. In Wirklichkeit aber trugen fast alle heimlich das große Fernweh im Herzen. Dieser Kai beflügelte Fantasie und Wünsche eines jeden, der davon träumte, wenigstens einmal im Leben als Passagier auf der „Queen Mary 2“, in Luxus schwelgend, in die weite Welt zu reisen.

      Mit seinen tausend blauen Lichtern beschrieb der „Walk of Freedom“ auch an diesem Abend eine sanfte, elegante Linie bis hin zu den großzügigen Marco Polo-Terrassen und zum internationalen Kreuzfahrt-Terminal 1.

      Mein Vater schien das Gleiche gedacht zu haben wie ich; denn jetzt sagte er mit einem zufriedenen Kopfnicken: „Sündhaft teures Wohnen hier, aber der Ausblick ist doch sensationell - oder?“

      Ich nickte. „Echt sensationell! Der ,Walk of Freedom’ - bei diesem Licht - einfach magisch!“

      Mein Vater nickte bedächtig.

      „Und doch ist Heimberg schon jetzt der heimliche Winner im Zweikampf der Städte!“

      „Gegen Hamburg?“, fragte ich ungläubig. „Das kann nicht wahr sein!“

      „Sie sind natürlich sehr unterschiedlich: Dort die Tradition mit modernen Elementen - hier das absolute Bekenntnis zu den Technologien der Zukunft!“, machte mein Dad einen Versuch der Erklärung. „Heimberg ist total anders! Allein die zukunftsweisende Technik, die in diesem Gebäude, in dieser Wohnung steckt! Was meinst du, wie hoch hier die Wohnungspreise sind!“

      Ich zuckte mit den Schultern.

      „Schon jetzt doppelt so hoch wie in der Hamburger HafenCity, Tendenz steigend“, war seine nüchterne Antwort. „Aber wir können uns das hier leisten, weil“, er beschrieb einen großzügigen Bogen mit seiner Rechten, „ich diesen Bomben-Job in Heimberg hab!“

      Ich war irgendwie verunsichert. Mir wurde plötzlich bewusst, dass ich den Anschluss an das Leben meines Dads in den vergangenen drei Jahren irgendwann verloren hatte. Ich wusste kaum noch etwas über ihn. Ich konnte vor allem seine finanziellen Verhältnisse überhaupt nicht einschätzen.

      „Da musst du aber ’ne Menge verdienen...“,